Ausgabe Nr. 2776
Streiflichter von dem 29. Internationalen Hermannstädter Theaterfestival

Mit der Hermannstädterin Ioana Mărcoiu (mit roter Perücke) in der Hauptrolle war das Odeon-Theater mit „Cabaret” beim Festival dabei. Foto: Sebastian MARCOVICI
Wenn riesige Monster und Fabelgestalten über den Großen Ring ziehen, Fanfaren in der Heltauergasse spielen, Zirkusakrobaten auf dem Habermannmarkt herumturnen und Drohnen den Himmel über Hermannstadt aufleuchten lassen, dann hat das Internationale Theaterfestival (FITS) begonnen. Die 29. Auflage, die am Freitagabend, dem 24. Juni begonnen hat und noch bis Sonntag, dem 3. Juli in Hermannstadt von den Mitarbeitern des Radu-Stanca Nationaltheaters organisiert wird, findet unter dem Motto „Schönheit“ statt. Mehr als 3.500 Teilnehmer aus 75 Ländern erfreuen das teilweise extra für das Festival angereiste Publikum in über 800 Events. Es ist, wie jedes Jahr, für jeden Geschmack etwas dabei.
Tausende von Menschen versammelten sich am Freitag in der Nacht rings um den Theatermarkt, die meisten standen auf dem Parkplatz der 90-er Kaserne. Alle wollten die Show mit den Drohnen sehen. Constantin Chiriac, der Intendant des Radu-Stanca Theaters und Festivalleiter, versprach ab diesem Jahr kein Feuerwerk mehr zur Eröffnung des FITS zu zünden. Gründe dafür gab es genug: Erstens schade es der Umwelt, zweitens erschrecke der laute Krach die Vögel und Haustiere der ganzen Stadt. Die genauso grandiose Alternative lag auf der Hand: eine Drohnen- und Lasershow, organisiert von der rumänischen Firma EVSKY & KLS Lasers. Mit einer Verspätung von 20 Minuten – da ein Linienflug Verspätung hatte – ging es los. Zu den Klängen von George Enescus „Rumänischer Rhapsodie“ erhoben sich 200 Drohnen vom Boden und bildeten perfekte Bilder. Ein Raunen ging durch die Menge und alle zückten ihre Handys, um den Moment einzufangen. Eine Sonne, eine Blume, dann ein Schmetterling und natürlich das Logo des Theaterfestivals konnte man u. a. auf dem sternenklaren Nachthimmel bewundern. Es war ein Lichtkunstwerk aus Drohnen, das symbolisch mit einem Feuerwerk – aus Drohnen – endete. Wer das absolut sehenswerte Spektakel verpasst hat, kann es übrigens am Sonntag, dem 3. Juli, um 23.15 Uhr, zur Musik von Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“, nachholen.

Im Innenhof des Rathauses am Großen Ring interviewte am Samstagmittag die TV-Journalistin und -Moderatorin Christel Ungar-Topescu (links) in französischer Sprache den Autoren Éric-Emmanuel Schmitt für TVR 1. Schmitt führte seine Erzählung ,,Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ am Freitag und am Samstag im Gong-Theater auf. Foto: Beatrice UNGAR
Der theatralische Höhepunkt des ersten Festivaltags war auf alle Fälle die Inszenierung des Stückes „Der König stirbt“ (von Eugène Ionesco) des Theaters in der Josefstadt Wien, unter der Regie des „Bühnenmagiers Claus Peymann“ – wie er von der Wiener Zeitung genannt wurde. Eine Traumbesetzung mit Bernhard Schier in der Hauptrolle, Lore Stefanek als Margarete, Maria Köstlinger als Maria, Johannes Krisch als Arzt, Johanna Mahaffy als Julchen und Marcus Bluhm als Wächter schaffte auch in Hermannstadt an zwei Abenden, am 24. und am 25. Juni eine hervorragende Vorstellung. Tragik vermischte sich mit Komik und der König war ein Zwischending zwischen verwöhntem Kleinkind und gnadenlosem Herrscher, der die Zuschauer in seinen Bann zog. Man konnte einfach nicht anders, als an seinen Lippen zu hängen. Grandios und unvergesslich!

Szene aus „Der König stirbt“ mit den Schauspielern Lore Stefanek, Johannes Krisch, Bernhard Schier und Maria Köstlinger (v. l. n. r.). Foto: Sebastian MARCOVICI
Seit einigen Auflagen ist der Autor und Regisseur Pippo Delbono mit seiner Company ein fester Bestandteil des Festivals, dieses Jahr war er bereits an den ersten zwei Abenden dabei mit „Amore“ (Liebe) – ein Stück mit Maximalpreis (150 Lei pro Person). Dafür stand auch der Autor selber auf der minimalistischen roten Bühne mit einem einfachen weißen Baum. Das Stück war auch nicht ein klassisches Theaterstück, sondern eine der Liebe gewidmete Show mit Gedichten und Liedern. Da passte Fado als Musikstil am besten und erfreute trotz ihrer gewissen Traurigkeit das Publikum: „Man sagt, dass Fado ein Gebet ist/Also bete ich/Die guten Menschen/Beten für die Vergebung der Sünden.“

Die italienische Company des Autors Pippo Delbono bot dieses Jahr eine hoffnungsvoll-traurige Atmosphäre zum Thema Liebe. Foto: Sebastian MARCOVICI
Ein klassisches und vom Publikum sehr gut aufgenommenes Stück war „Lecția“ (Die Unterrichtsstunde) von Eugène Ionesco, des Nottara-Theaters aus Bukarest, in der Regie von Felix Alexa. Mit nur drei Personen auf der Bühne zeigt das Stück ein Teil einer Gesellschaft, aus welcher die Empathie, Kommunikation und Zuneigung verschwunden sind. Der Lehrer, Gabriel Răuță, ist der Vertreter der Macht, die sich von dem Selbstvertrauen und der Naivität seiner Schüler ernährt, wobei ihm auch die Schülerin Ioana Calotă zum Opfer fällt. Seine Haushälterin, gespielt hier von der unübertroffenen Catrinel Dumitrescu, die eigentlich die Stimme des Gewissens spielen sollte, wird Mitschuldige, die die leblosen Körper der Schüler versorgt. Ionescos Stück beim Nottara-Theater sollte nicht verpasst werden.
Natürlich gab es auch heuer ganz unterschiedliche Theaterstücke, von klassisch zu modern. Modern war zum Beispiel das Stück „Inimă și alte preparate din carne“ (Herz und andere Fleischwaren) von Dan Coman, unter der Regie von Radu Afrim. Die zweieinhalbstündige Vorstellung des Nationaltheaters „Mihai Sorescu“ aus Craiova bestand aus mehreren nicht zusammenhängenden Szenen aus dem Alltag in der Pandemie: ein Pärchen in Aachen – er Spargelstecher, sie arbeitslos; eine 37-jährige Lehrerin mit geistiger Behinderung und ihre Eltern; ein Ehepaar, das in einer offenen Beziehung lebt; ein lesbisches Paar; sie alle durchleben die Pandemie, eingesperrt im Haus und müssen miteinander auskommen. Es scheint, als sei Sex die Hauptbeschäftigung in der Pandemie gewesen, so wie es fast in jeder Szene auf das Eine hinauslaufen musste. Die nackte Wahrheit oder übertrieben? Darüber machte sich der Theatergänger nach dem Stück Gedanken.

Die Zirkusakrobaten von „CirkVOST“ aus Frankreich zeigten am Freitag, dem 24. Juni, ihre Kunststücke aus schwindelerregender Höhe. Foto: Cynthia PINTER
Die Musik fehlte an keinem Tag, zum Beispiel war ein kleiner Teil des „London International Gospel Choir” unter der Leitung von Nina Rosenberger in der Reformierten Kirche zu sehen und zu hören – ein schöner Ort und guter Moment, um zur Ruhe zu kommen.
Umso wilder ging es beim Konzert des rumänischen Musikers Horia Brenciu zu. Auch wenn man nicht unbedingt ein Fan seiner Musik ist, ist der geborene Showman nicht zu verpassen – was die Hermannstädter und Touristen bestimmt wussten, denn der Große Ring war Sonntag Abend so voll, dass man kaum Platz genug zum Tanzen und Hüpfen hatte.
Ausspannen und genießen hieß es bei der Tanzperformance der Kibbutz Contemporary Dance Company aus Israel. Die 14 Tänzerinnen und Tänzer zeigten unter der Leitung von Rami Beer zeitgenössischen Tanz vom Feinsten. Unter dem Titel „Asylum“ (Geborgenheit) führten die Tänzer am Dienstag, dem 28. Juni, das Publikum in eine gesellschaftspolitische Gedankenreise in die Problematik der Migration, Asylsuche und des Fremdenhasses. Die hervorragenden Tänzerinnen und Tänzer formten mit ihren Körpern, mit ihrer expressiven Mimik und Gestik Bilder auf der Bühne, Bilder von Unmenschlichkeit, Ausweglosigkeit und Hoffnung. Es war ein Tanzerlebnis der besonderen Art und die Künstler wurden mit minutenlangem Stehapplaus belohnt.
Am gleichen Tag performte Marius Mihalache – Komponist, Musiker und Zymbalspieler – eineinhalb Stunden lang nachmittags in der Staatsphilharmonie im Thaliasaal. Seine Musik befand sich zwischen Volksmusik, Jazz und Pop: ein Konzert mit dem Namen „Săftița“, welches der Welt der rumänischen Folklore in einer authentischen Mischung aus elektronischen und akustischen Klängen widerspiegelt. Obwohl der Saal zu zwei Dritteln gefüllt war, schien das Publikum von Arabela Nicolaus Stimme erfüllt zu sein, die manchmal sogar die von ihrer eigenen Mutter komponierten Lieder gesungen hat. Marius Mihalache wurde von seinem Sohn Lorin Mihalache am Schlagzeug sowie von Marius Gagiu an der Querflöte und Rohrflöte und Ciprian Parghel am E-Bass begleitet und arrangierte und komponierte traditionelle sowie neue Musik. Ein einzigartiger und bewegender Moment, da „jedes Konzert anders ist”, insbesondere wenn die Künstler viel improvisieren, laut Arabela Nicolau.
Wie jedes Jahr stellten die klassichen Theaterstücke eher eine Minderheit im Rahmen des Festivals dar, dafür konnte man z. B. zwei klassische Musicals sehen, beide in der Regie des Tänzers und Choreografen Răzvan Mazilu.
Das erste davon war ,,Cabaret“, das Musical aus den 60er Jahren, nach Joe Masteroff, Musik John Kander, und Liedtexte Fred Ebb, des Odeon-Theaters aus Bukarest. Sally Bowles (Ioana Mărcoiu) ist der Star des Kit-Kat-Clubs, bekannt nicht nur für Auftritte, sondern auch für ihre Männerbeziehungen, verliebt sich in den amerikanischen Schriftsteller Clifford Bradshaw (Silvian Vâlcu), der nach Berlin gereist ist, um einen Roman zu schreiben. Das luxuriöse Nachtleben und auch die späte Romanze zwischen Fräulein Schneider (Gabriela Popescu) und Herrn Schultz (Ionel Mihăilescu) endet mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten. In der Rolle des Zeremonienmeisters ist Mihai Smarandache, der überzeugend spielte und zusammen mit der Hermannstädterin Ioana Mărcoiu den meisten Applaus erntete. Und wenn dem Regisseuren kein besseres Ende einfällt für sein Stück, dann heißt es eben: alle ausziehen! Eine inzwischen so oft benutzte Aktion, dass sie weder interessant ist, noch als tiefsinnige Metapher gelten kann (auch wenn das Leben ein Kabarett ist). Răzvan Mazilu entschied sich leider für dieses Ende, das vielleicht 1991 das Publikum schockiert oder entrüstet hätte, jetzt aber bestenfalls banal und abgelaufen wirkte. Und übrigens, die Pobacken der Schauspieler waren weitaus weniger interessant als ihre Kostüme und das Make-up, beides wirklich hervorragend und ebenfalls von Răzvan Mazilu entworfen. Tatsächlich waren die Kostüme fast eine weitere Gestalt der Show, so passend, dass man sich das Musical ohne diese fast nicht vorstellen kann. Die Schauspieler des Odeon-Theaters mussten die Make-up-Sitzung gleich nach der Aufführung nochmals über sich ergehen lassen, denn die Organisatoren haben entschieden, dass dieses Stück nicht an zwei Abenden aufgeführt werden kann (obwohl am folgenden Abend der Ion Besoiu-Saal leer stand), sondern zwei Mal am gleichen Tag.
Das zweite Stück in Mazilus Regie, das zu sehen war, war Bertolt Brechts „Dreigroschenoper”, mit Musik von Kurt Weill, des Excelsior-Theaters. Vielleicht auch weil dieses Theaterhaus auf Musicals spezialisiert ist, war der Unterschied die musikalischen Leistungen der beiden Truppen. Das von Dragoș Buhagiar geschaffene einfachere Dekor passte bestens zu der Unterwelt der Londoner Bettelmafia und der Verbrecher. Wie bei ,,Cabaret“ entwarf Mazilu Kostüme und Choreografie. Auch weiter gab es Ähnlichkeiten – z. B. eine groteske Atmosphäre und ein Zeremonienmeister, hier gespielt von Dan Pughineanu, der eine unvergessliche Rolle auf schwindelerregenden Stöckelschuhen ablegte. Mit Jubel und Stehapplaus wurden die Schauspieler nach der fantastischen dreistündigen Leistung vom Publikum belohnt.

Die Zirkusakrobaten von „CirkVOST“ aus Frankreich zeigten am Freitag, dem 24. Juni, ihre Kunststücke aus schwindelerregender Höhe. Foto: Cynthia PINTER
„Trupuri imaginate“ (Imaginäre Körper) von Alexandra Coroi und Bogdan Dumitrescu ist eine der Ausstellungen, die noch bis Sonntag zu sehen sind. Diese kann jeweils ab 18 Uhr im Keller des Thaliasaals gesehen werden. Die Künstler sind auch dabei und offen für kleine Fragerunden. Unser Projekt beginnt von einem Essay von Gilles Deleuze und wir wollten das Potential des Körpers erkunden, durch Kadenz, Yoga und primären Bewegungen. Eingesetzt haben wir auch ein GAN (Generative Adversarial Network, „generierendes gegnerisches Netzwerk“), ein Machine-Learning-Modell, das aleatorische Daten generiert“, erklärte Coroi. Dabei haben die Künstler das Computerprogramm mit eigenen Fotos und Aufnahmen „gefüttert“, aus welchen dann weitere abstrakte Bilder entstanden sind. Diese sind auf einem der beiden Monitore zu sehen. Auf dem zweiten Monitor ist eine Aufnahme aus dem Hermannstädter Zoo zu sehen, mit dem Tiger Petruț und einer Figur, die ebenfalls hinter Gittern steht, „und es ist interessant zu beobachten, wer frei ist und wer nicht”.
Bis Sonntag hat das 29. Internationale Hermannstädter Festival noch einiges zu bieten.
Cynthia PINTER
Clémence MICHELS
Ruxandra STĂNESCU