Ausgabe Nr. 2914
Festvortrag zur Erinnerung des 100. Geburtstags von Walter König in Hermannstadt

Dr. Ulrich Wien bei seinem Festvortrag. Foto: Beatrice UNGAR
Anlässlich der vom 29.-31. Mai abgehaltenen internationalen Konferenz des AKSL-Hermannstadt zur Bildungsgeschichte in Zentraleuropa während der Zwischenkriegszeit, deren Problematik nicht zuletzt von Walter König zum Forschungsgegenstand erhoben worden war, konnte – gewissermaßen als Reverenz gegenüber dem 2015 verstorbenen Nestor der Schul- und Bildungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen – diese Tagung in Kooperation von AKSL, Siebenbürgenforum, RPTU Kaiserslautern-Landau und IKGS mithilfe der Förderung des Schroubek-Fonds (München) und des Amtes der Kärntner Landesregierung ausgerichtet werden. Neben dem Bildungshistoriker Prof. Dr. Angelo Van Gorp hatte Prof. Dr. Ulrich Andreas Wien (beide Landau) die Vorbereitung und Leitung übernommen. Letzterer hielt am Freitag, dem 30. Mai, im Spiegelsaal des Hermannstädter Forums eine würdigende Ansprache, die durch eine kleine, von Friedrich Philippi besorgte Ausstellung mit Quellentexten (Gesetze und Übersetzungen) sowie Schulbüchern ergänzt war. Lesen Sie im Folgenden eine gekürzte Fassung der Würdigung:
Philipp Melanchthon als „praeceptor Germaniae et Hungariae“, hat auch in Siebenbürgen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Bei den Zeitgenossen Johannes Honterus und Valentin Wagner ist das an ihrem Werk deutlich abzulesen. Über die Generationen hinweg wirkte Melanchthons Gedankengut und die Haltung einer religiös gegründeten humanistischen Bildung in der Verantwortung für die Gesamtgesellschaft, nicht zuletzt in der Institution des „Coetus“, wo die Schüler in den oberen Klassen des Gymnasiums innerhalb der Schülermitverwaltung – wie dies heute heißt – ein Übungsfeld hatten, um sich auf spätere soziale und politische Verantwortung vorzubereiten. Dazu zählen an der Wende zum 17. Jahrhundert der über Jahrzehnte bestimmende Comes Saxonum/Sachsengraf Albert Huet, dann die von der Aufklärungspädagogik und Pestalozzi geprägten Lehrer und Pfarrer, insbesondere Stephan Ludwig Roth (+1849). Ihnen folgten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Dr. Georg Daniel Teutsch, Dr. Franz Obert, Dr. Friedrich Teutsch, welche als Schulreformer, Bildungspolitiker und „Gedankenschmuggler“ für den Ideentransfer in das mit der Kirche engstens verbundene Schulwesen der Siebenbürger Sachsen verantwortlich zeichneten. Im 20. Jahrhundert sind besonders Dr. Friedrich Müller-Langenthal, Dr. Heinz Brandsch und Prof. Dr. h.c. Walter König als Motoren der Ideen der Reformpädagogik und historischen Erforschung und Verankerung der Bildungskonzepte zu nennen. Walter König kam am 25. Mai 1925 in Hermannstadt zur Welt. Er besuchte in seiner Heimatstadt das Theologisch- Pädagogische Landeskirchenseminar in der Schewisgasse. Das waren prägende und herausfordernde Zeiten in der vom erstarkenden, nach der siebenbürgisch-sächsischen Jugend greifenden Nationalsozialismus. Er leistete nach seinem Abschluss 1944 Kriegsdienst. Anschließend war er sieben Jahre im Schuldienst in Österreich, Norwegen und Deutschland und begann 1953 mit dem Studium der Pädagogik, Philosophie und Geschichte in Tübingen und Berlin, und bestand 1958 erfolgreich das Examen. 1962 erhielt einen Ruf an die Pädagogische Hochschule in Reutlingen und unterrichtete hier sowie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg das Fach Schulpädagogik bis zu seiner Emeritierung 1990.
Er war ein begeisternder Hochschullehrer, legte aber auch eigene Forschungsschwerpunkte, die neben der Schulpädagogik sich vor allen Dingen den aktuellen Entwicklungen des deutschen Unterrichtswesens in der Sozialistischen Republik Rumänien sowie der Zeitgeschichte der Siebenbürger Sachsen zuwandte. Damit verbunden war schließlich auch die Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Schule sein Untersuchungsgegenstand. Er galt zu Lebzeiten als bester Kenner des Minderheitenschulwesens in Rumänien und wurde in verschiedene Kommissionen berufen. Beim Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung in Braunschweig wurde er regelmäßig konsultiert. Als stellvertretender Vorsitzender der reformpädagogisch aktiven „Lehrergilde“ in Baden-Württemberg organisierte er wiederholt Bildungsreisen nach Siebenbürgen.
Walter König hat umfangreich zu aktuellen Fragen und Diskussionen, aber auch zu historischen Themen publiziert. Nicht zuletzt lag sein Schwerpunkt auf dem Bildungswesen und der Schultradition der Siebenbürger Sachsen von der frühen Neuzeit an bis ins 21. Jahrhundert. Ihm war bewusst, dass die Bildungs- und Schulfrage für eine ethnisch-kulturelle Minderheit eine elementare Existenzfrage darstellt. Aus diesem Grund unterstützte er das deutschsprachige Schulwesen jeweils sachorientiert und empathisch, pflegte intensive persönliche Beziehungen zu Schulleitungen sowie zu Lehrerinnen und Lehrern aller Ausbildungsstufen, aber auch zu den jeweiligen Behörden. Angesichts der Versorgungskrise in den 1980er Jahren hatten die von ihm besorgten „Lebensmittel“ eine eigene Qualität; es waren nämlich Bücher: Diese hat er konsequent an die entsprechenden Adressaten vermittelt und damit Impulse und horizonterweiternde Maßstäbe gesetzt. In diesem Kontext flossen ihm Informationen zu, die mit seinen persönlich vor Ort gesammelten Erfahrungen in seinen Publikationen reflektiert und in einem zunächst nur westeuropäischen Resonanzraum rezipiert wurden. Dabei gelang es ihm, sowohl die siebenbürgische Schultradition transparent auf die jeweils zeitgenössische gesamteuropäische Entwicklung hin zu erfassen und darzustellen, als auch umgekehrt die bildungspolitischen bzw. bildungstheoretischen Impulse, nicht zuletzt aus der Reformpädagogik vom 18.-20. Jahrhundert mit dem siebenbürgischen Resonanzraum zu korrelieren.
Er war, ausgestattet mit einem unbestechlichen Gerechtigkeitsempfinden, ein seiner Kirche eng verbundener, in hohem Maße zur Empathie fähiger Mensch, der sich in nüchterner Analyse und mit sachorientierter Expertise, allerdings auch mit Wärme und nachdrücklichem persönlichem Engagement für die als notwendig erkannten Ziele einsetzte. Zu diesen zählte für ihn das kulturelle Erbe seiner siebenbürgischen Heimat. Wie viele seiner ins Nachkriegsdeutschland und in die junge Bundesrepublik Deutschland verschlagenen Altersgenossen stellte er sich die Frage nach dem Warum. Gründe, Motive, Ursachen und Folgen der aus der ideologischen Verblendung resultierenden, schmerzhaft erfahrenen Entwurzelung standen im Zentrum der kritischen Analyse. Daraus ergab sich aber auch die kritische Reflexion der Zwischenkriegszeit in Siebenbürgen samt den geistigen Verirrungen des Nationalsozialismus, denen die jungen Leute sowohl ausgeliefert gewesen waren als auch sich ausgeliefert hatten.
Genau diesen Kontext behandeln die Beiträge der aktuellen, internationalen Tagung. Diese Nachdenklichkeit, dieses unbedingte Fragen, die Nötigung zur selbstkritischen Auseinandersetzung vollzog sich in einer Gemeinschaft: dem Arbeitskreis junger Siebenbürger Sachsen, dem er angehörte. Bald entstand eine verbindliche organisatorische Form: Der 1962 „im Geiste der Völkerverständigung“ gegründete Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, dem er als Gründungsmitglied beitrat und in dessen Vorstandsarbeit er eingebunden wurde. Im Arbeitskreis gründete und leitete er die Sektion Schulgeschichte, die zunächst vornehmlich Schulbuchanalyse betrieb. Als aber 1994 die Stefan-Ludwig-Roth-Gesellschaft für Pädagogik ihre Arbeit einstellte, übernahm ab 1995 die AKSL-Sektion dann auch den von dieser vorrangig betriebenen schulgeschichtlichen Arbeitszweig. Bis dahin hatte die Schulgeschichte bis 1933 im Vordergrund gestanden, nun wurde das gesamte 20. Jahrhundert einbezogen. Wesentlich war nun jedoch, dass jüngere Forscherinnen und Forscher, Zeitzeugen, aber auch jeweils aus der Praxis in Siebenbürgen kommende Lehrkräfte auf den bis in die Gegenwart weitergeführten Sektionstagungen den jeweiligen aktuellen Bezug herzustellen vermochten.
In diesem Umfeld sind seine zahlreichen präzisen und souveränen Studien zum Schulwesen der Siebenbürger Sachsen entstanden, die in Auswahl zu seinem 80. Geburtstag in dem Sammelband „Schola – seminarium rei publicae“ kompendienartig vereint worden sind. Daneben war er zu Vorträgen unterwegs, seine Expertise wurde in den 1980er und 1990er Jahren im politischen Leben häufig gefragt und geschätzt. Zu erinnern ist an die von ihm initiierte und beim damals zuständigen Bundesinnenministerium beantragte Dokumentation siebenbürgisch-sächsischen Kulturguts, die zu Beginn der 1990er Jahre das festgehalten hat, was nach dem Exodus der Wendezeiten in den siebenbürgischen Städten und Dörfern nicht dem Vergessen anheimfallen, sondern für das künftige Erinnern festgehalten werden sollte. Eine personalintensive, kostspielige Aktion der Bundesregierung, die er angestoßen hat und deren Ergebnisse bis heute dokumentiert sind und weiter aufgearbeitet werden müssten. In Anerkennung seiner Verdienste als Pädagoge, Wissenschaftler und Kulturpolitiker wurde ihm 2002 der Siebenbürgisch-Sächsische Kulturpreis verliehen. In Anerkennung seiner herausragenden Leistung als Wissenschaftler, als Wissenschaftsorganisator, als Hochschullehrer und Kulturvermittler, nicht zuletzt für seinen Beitrag zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zur Integration Rumäniens in die europäische Wertegemeinschaft, wurden Walter König unter anderem das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und die Ehrendoktorwürde der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt verliehen.
Aber sein Herz schlug für den Arbeitskreis für siebenbürgischen Landeskunde. Als Gründungsmitglied (1962) – mit der Mitgliedsnummer 7 – arbeitete er dort von 1978 an im Vorstand mit und übernahm dessen Vorsitz von 1985 bis 1994. Dort sollte konzentriert reflektiert, prinzipiell, aber unideologisch nachgedacht und diskutiert werden. „Das haben wir diskutiert“, war eine häufig verwendete Formulierung von ihm, die sein Wesen aufzeigte. Da wurden keine in der Einsamkeit entwickelten Verdikte vorgetragen, sondern im Gespräch das Für und Wider bedacht, auf unterschiedliche Vorstellungen eingegangen, diese abgewogen und eigene Positionen errungen, aber auch verteidigt. Er war verbindlich im doppelten Sinne, einerseits verlässlich, andererseits gewinnend und integrierend. Das zeigte sich bis zum Schluss: Es ist kaum eine Sitzung des AKSL-Vorstandes anberaumt gewesen, zu der er – als er nicht mehr reisefähig war – nicht im Vorfeld geschrieben oder angerufen hätte. Er war trotz seiner in bewundernswerter Disziplin getragenen Einschränkungen ein Kommunikationsgenie. Er hielt die Kontakte, war bestens und frühzeitig – von vielen Seiten facettenreich – informiert. Er war dadurch bis zuletzt ein kluger Beobachter und zugleich ein kompetenter, wertvoller und aufrichtig geschätzter Gesprächspartner, dem ganz besonders der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde viel zu verdanken hat und dem dieser zu bleibendem Dank verpflichtet ist.
Und damit schließt sich der Kreis: Die Überschrift der bedeutenden Schulrede des Sachsengrafen Albert Huet aus dem Jahr 1602 – Schola est Seminarium Rei Publicae – rezipiert intensiv die humanistischen Gedanken von Philipp Melanchthon und profiliert die theologischen Einsichten des Wittenberger Reformators Martin Luther. Dies geschah nicht zuletzt im Blick darauf, dass in einer Übergangsphase der Landeskirche der seit 1600 amtierende evangelische Superintendent in Birthälm, Matthias Schiffbaumer, relativ unverhohlen der theologischen Richtung des Calvinismus anhing. Die Zeit ging darüber hinweg, nicht zuletzt weil der Landstand der Siebenbürger Sachsen unter dem äußeren Druck der vom Calvinismus geprägten Landesfürsten zu Beginn des 17. Jahrhunderts sich auf seine Resistenzstrategie, nämlich der bewussten Verteidigung der politischen Privilegien in Kombination mit dem Bekenntnis zum Augsburgischen Bekenntnis, also zur Confessio Augustana invariata (1530) besonnen hat. Auch die teilweise diesbezüglich zunächst uneinigen Theologen der Geistlichkeits-Synoden in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts sind schließlich auf diesen Kurs eingeschwenkt. Der höchste politische Repräsentant der sächsischen Nationsuniversität, Comes Albert Huet (Amtszeit 1577-1607), hat in dieser, seiner zweiten bedeutenden Rede dafür die Grundlagen gelegt und Perspektiven aufgezeigt. Um eine selbstbewusste politische Haltung ausbilden zu können, gehörte dazu als Existenzfrage der gesicherte Sozialisationsrahmen der Schule und Bildung. Diese Rede, deren bemerkenswerter Inhalt meist nur vom Hörensagen bekannt ist und weiter tradiert wurde, ist im vergangenen Winter anhand von zeitgenössischen Textzeugen transkribiert worden und wird höchstwahrscheinlich in diesem Jahr noch mit einer zeitgemäßen Übersetzung publiziert werden können. In Übernahme des Titels der bildungspolitischen Rede von Albert Huet wurde die Sammlung von Aufsätzen zur Geschichte und Gegenwart des Schulwesens in Siebenbürgen und Rumänien aus der Feder von Walter König zu seinem 80. Geburtstag herausgebracht: „Schola [est] Seminarium rei publicae” – Die Schule ist Pflanzstätte gesellschaftlicher Verantwortung/des Staatswesens. Dieses vom frühneuzeitlichen Humanismus geprägte bildungspolitische Programm bestimmte nicht nur zur Mitte des 16. Jahrhunderts die Konzeptionen von Philipp Melanchthon, Johannes Honterus und Valentin Wagner, sondern über die politischen Leitfiguren von Albert Huet, und die eingangs ebenfalls genannten Stephan Ludwig Roth, Georg Daniel Teutsch, Franz Obert, Friedrich Teutsch, Friedrich Müller-Langenthal und Heinz Brandsch. Sie bestimmten auch das Leben von Walter König in dem von ihm souverän genutzten grenzüberschreitenden Resonanzraum. Geschichtsbewusstsein und die Rezeption der Reformpädagogik fließen in diesem Bildungskonzept zusammen zugunsten einer jungen Generation, die zur mündigen Verantwortung vorbereitet wird, Resilienz zeigt – also nachhaltig denkt, lebt und handelt und belastbar ist, um die Zukunft mit Geistes- und Herzensbildung zu gestalten.