Géraldine Cario und ihre ,,Reise im Hell-Dunkel“
Ausgabe Nr. 2900

Géraldine Cario vor ihrer Wortwand. Foto: Beatrice UNGAR
Die Welt steht Kopf und die Buchstaben tun, was sie wollen. Das ist ein erster Eindruck beim Besichtigen der Sonderausstellung „Paris-Odessa: Eine Reise im Hell-Dunkel” der Künstlerin Géraldine Cario im Museum für Zeitgenössische Kunst des Brukenthalmuseums in der Quergasse/Tribunei in Hermannstadt. Nach Bukarest und Temeswar ist es die dritte Station dieser eindrucksvollen Ausstellung.
An zwei Standorten türmen sich Umzugkartons. Der Hinweis „UP” (hinauf) zeigt nach unten auf den Fußboden. „DOWN” (hinunter) zeigt zur Decke. Da stimmt doch etwas nicht, mag man meinen. Doch das ist alles Absicht. Obwohl es zunächst nicht ihre Absicht war, ihrer Reise zu ihren Wurzeln eine Ausstellung zu widmen, wie Géraldine Cario im Vorfeld der Vernissage am 6. Februar gegenüber der Hermannstädter Zeitung erklärte. Sie hatte lediglich auf ihrer mit der Bahn gemachten Reise von Paris nach Odessa und zurück Fotos gemacht, um sozusagen visuelle Notizen für ein Reisetagebuch zu haben. Erst als sie die rund 2.500 entstandenen Bilder durchsah, beschloss sie, 25 repräsentative auszuwählen für eine Ausstellung. Natürlich sollten die Bilder auch Menschen etwas sagen, die den Lebensweg der Künstlerin nicht kennen geschweige denn den ihrer Familie. Sie sollten repräsentativ sein für die von anderen Menschen verursachte unbeschreibliche unfassbare Abwesenheit so vieler Menschen. Wie kann man Abwesenheit darstellen? In Bildern und mit Worten kaum. Trotzdem versucht Cario genau dies. Und sie geht der Geschichte ihrer eigenen Familie nach, die sie von Frankfurt am Main über Oppeln, Sighetu Marmatiei nach Odessa führt.
Auslöser für ihre Reise war ihr Umzug. Sie schreibt: „Wege ins Exil und zurück: Es ist der 9. Oktober. Die Leute der Umzugsfirma brauchten lediglich einige Stunden, um all meine Bücher einzupacken. Die Kartons türmten sich auf und ich stand in der Mitte des Zimmers. Weggehen geht schnell. Chaos in mir, Chaos draußen.
Ich dachte an meinen Großvater, der eines Tages, ich weiß nicht an welchem, 1933, durch ein Fenster geflohen ist. Er lief geradewegs zum Bahnhof und rief meine Großmutter an und sagte ihr, sie sollte ihm mit meinem Vater und seinen Brüdern folgen. Es war sein letzter Tag in Frankfurt am Main. Das wusste er damals noch nicht. Er hatte einen Fuhrwagen gemietet und seine ganze Bibliothek, die größte Talmud-Bibliothek aus Frankfurt, aufgeladen. Ich weiß nicht, wie und wann er das geschafft hat, aber er rettete sie vor dem großen Brand.
Vor meinen Umzugskartons sitzend, betrachte ich die Menschenmengen, die vorbei gehen und hoffe – erneut – auf eine Zukunft, in der ich nicht mehr sein werde, nicht in dem Land meiner Vorfahren, eigentlich nirgendwo. Ich sitze vor meinen Umzugkartons und denke an die umgekehrte Welt, die überspitzten Reden, die jederzeit Flucht und Exil bewirkt haben. Und die Rückkehr nach Zion. Ich sage mir, dem Himmel sei Dank, diese Rückkehr ist möglich. Sie lässt mich atmen.”
Wer diese Worte liest, dem verschlägt es aber den Atem. Die 25 übergroßen Diapositive sind allesamt beschriftet, die Bilder sind zum Teil beklemmend klein. Man muss sich ihnen ganz stark nähern, ein Abstandnehmen ist ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil, man wird regelrecht mit der Nase darauf gestoßen, die Künstlerin scheint einem bei jedem Bild zu sagen: „Hier lebten einmal meine Großeltern, als ich das Haus besuchen wollte, ließ man mich nicht ein”, „hier sind meine Urgroßeltern begraben”…
Unter dem Titel „Memorial for Fallen Words” sind in Riesenbuchstaben Worte – wie Bausteine – zu lesen. Sie beherrschen eine Wand, bilden eine Wortwand: Die Worte stehen Kopf, symbolisch dafür, was es bedeutet, wenn Worte pervertiert werden, wenn Worte regelrecht fallen, wie Fallbeile Schicksale bestimmen. So liest man z. B. auf einem der „Bausteine” das Wort CLEANSING (Säuberung), eigentlich ein neutrales Wort. Darüber aber steht wenn man von links nach rechts liest ETHNIC, also ist eigentlich Ethnische Säuberung gemeint. Der Untertitel der Ausstellung, „Eine Reise im Hell-Dunkel”, kann auch als ein Hinweis auf die Fähigkeit der menschlichen Augen gedeutet werden, sich an unterschiedliche Lichtverhältnisse anzupassen und Kontraste zu erkennen. Auf diese Ausstellung gemünzt, die noch bis zum 2. März daselbst zu besichtigen ist: Kontraste kann man nur erkennen, wenn man es schafft, sich an unterschiedliche Lichtverhältnisse anzupassen, wenn man sich auf die Einladung der Künstlerin einlässt, sie auf einer Reise zu begleiten, die zunächst Privatsache war.
Beatrice UNGAR