Vorpremiere mit ,,Steine in den Taschen“ von Marie Jones
Ausgabe Nr. 2889

Neue deutsche Inszenierung: Mit „Steine in den Taschen” von Marie Jones in der Regie von Daniel Plier brachte die deutsche Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters am Donnerstag der Vorwoche die erste Vorpremiere der neuen Spielzeit heraus. Unser Bild: Szenenfoto mit Daniel Plier, Ali Deac und Romulus Cipariu (v. l. n. r.). Foto: Cynthia PINTER
Klischees und Stereotypen nimmt Marie Jones in ihrem berühmten Stück „Stones in the Pockets” (Steine in den Taschen) auf die Schippe. Ihre Tragikomödie schrieb 1996 nach der Uraufführung an einem Theaterfestival in West Belfast eine regelrechte Erfolgsgeschichte. In dem Stück werden die Arbeiten an einer Hollywood-Romanze über Irland aus der Sicht von zwei irischen Statisten geschildert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt: Was ist „typisch irisch”? Die Inszenierung an der deutschen Abteilung des Hermannstädter „Radu Stanca”-Nationaltheaters transponiert das Geschehen in ein siebenbürgisches Dorf.
Das Dorf heißt Poiana und der Film „The Quiet Valley” (Das ruhige Tal), wie auch in der Originalfassung von Marie Jones, eine Anspielung auf den 50er-Jahre-Film mit John Wayne, „The Quiet Man” , in dem dieser einen in die Heimat zurückkehrenden irischstämmigen Amerikaner spielt.
Die Idee, das Stück an der deutschen Abteilung des Hermannstädter „Radu Stanca”-Nationaltheaters zu inszenieren hatte der Luxemburger Schauspieler und Regisseur Daniel Plier, als er bei Dreharbeiten für einen Historienfilm beobachten konnte, wie mit Statisten allgemein umgegangen wird. Und wie ihnen Stereotypen und Klischees übergestülpt werden. So müssen wie auch in Poiana die Statisten z. B. Torfstechen vorzeigen oder sie müssen betroffen blicken, was sehr lustig anzusehen ist, wenn man im Publikum sitzt.
Die beiden Statisten Jake (Daniel Plier) und Charlie (Ali Deac) sind eigentlich die Hauptpro-
tagonisten. Jake ist gerade aus New York zurückgekehrt, mit einem Drehbuch für einen Film in der Tasche und hofft nun, dieses Drehbuch bei dem Filmteam anbringen zu können. Charlie spielt den Optimisten und es gelingt ihm, von der Hautptdarstellerin wahrgenommen zu werden. Anders ergeht es seinem drogenabhängigen Cousin, der sich nach einer in der Dorfkneipe erhaltenen Abfuhr in einem See ertränkt, mit „Steinen in den Taschen”, wie Charlie entgeistert erzählt. Zwischen Traum und Realität klafft eben ein Abgrund und in den ist dieser Statist hineingesprungen. Ein unüberwindbarer Abgrund klafft auch zwischen der Reaktion der angereisten Filmleute, denen dieser „Vorfall” einen Strich durch die Rechnung zu machen droht, und die der „Einheimischen”, die sich ihr Recht auf Trauer nicht nehmen lassen wollen. Plier gelingt es, gemeinsam mit Ali Deac und Romulus Cipariu, diese Szene nicht ins Melodramatische abrutschen zu lassen, das ist eine der Stärken der Inszenierung, die natürlich auch auf der Originalfassung beruht.

Ein auch musikalisch gut eingespieltes Trio: Romulus Cipariu, Ali Deac und Daniel Plier (v. l. n. r.). Foto: Cynthia PINTER
Dort geht es auch rasant zu, weil der Zweiakter auf zwei Schauspieler zugeschnitten ist. Auch in der Hermannstädter Inszenierung schlüpfen die beiden Darsteller in unterschiedliche Rollen, in atemberaubendem Tempo, so dass die Zuschauer zuweilen nur mit großer Mühe oder sogar gar nicht mithalten können. Der Rollenwechsel, mal sind sie Regisseur und Regieassistent, mal Filmdiva und Bodyguard, erfolgt nahtlos und oft ohne Kostümwechsel. Lediglich einmal trägt Daniel Plier als verwöhnte und weltfremde Filmdiva einen Trauerschleier und erhält Szenenapplaus. Sein Kollege Ali Deac setzt ab und zu eine Dakermütze auf und spielt einen altgedienten und erfahrenen Statisten aus dem Historienfilm „Dacii” (Die Daker) von Sergiu Nicolaescu, 1966 gedreht, in dem sogar Winnetou-Darsteller Pierre Brice mitgespielt hat.
Die schauspielerische Leistung allerdings ist enorm, jede Bewegung, jedes Wort, jede Geste sind perfekt einstudiert, Daniel Plier und Ali Deac sind perfekt aufeinander abgestimmt und die musikalischen Einlagen von Romulus Cipariu an dem Zymbal erzeugen die richtige Atmosphäre im richtigen Moment. Die drei musizieren sogar gemeinsam.
Zum Schluss beschließen die Statisten, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und ihren eigenen Film zu drehen, über die realen Verhältnisse und Lebensbedingungen in ihrem Dorf und da müssen Kühe her, viele Kühe, zum Schluss hängt der Himmel voller sich drehender Kühe. Die von Andrei Cozlac und Radu Marțin erstellten Videoeinlagen ergänzen und verstärken das Geschehen auf gekonnte Weise.
Kurzum: Die Menschen haben das Bedürfnis (ihre) Geschichte(n) zu erzählen. Sie brauchen die Gelegenheit, zu berichten und den Sinn ihrer Erfahrungen auszuloten, um sich zu heilen und zu verstehen, zu lachen und loszulassen, aber nicht alle werden gehört. Marie Jones verleiht diesen Ungehörten und Vergessenen in diesem Stück eine Stimme. Insofern ist das Stück eine Parabel auf das Leben selbst.
Beatrice UNGAR