,,Das tägliche bewusste Anderswerden“

Teile diesen Artikel

Gesamtwerk von Ilse Hehn mit Andreas-Gryphius-Preis 2023 gewürdigt

Ausgabe Nr. 2834

Ilse Hehn gehört zu den treuen Teilnehmerinnen an den Deutschen Literaturtagen in Reschitza, hier stellte sie bei der 33. Auflage im Vorjahr einige neue Bücher vor.                      
Foto: Beatrice UNGAR

,,Die Schriftstellerin Ilse Hehn ist eine herausragende Persönlichkeit, deren Beitrag zur Literatur, Kunst und Kultur nicht nur beeindruckend, sondern auch von großer Bedeutung ist.“ So begann die Künstlerin Eva Beylich ihre Laudatio auf die Schriftstellerin und Künstlerin, die für ihr Gesamtwerk im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75. Gründungsjubiläum der KünstlerGilde e. V. in Esslingen am 16. September mit dem Andreas-Gryphius-Preis für das Jahr 2023 gewürdigt worden ist. Den Preis für das Jahr 2022 durfte Bernd Kebelmann entgegennehmen und den Nikolaus-Lenau-Preis 2023 Dr. Matthias Buth. Im Folgenden lesen Sie die Laudatio von Eva Beylich:

Die heute in Ulm lebende Schriftstellerin Ilse Hehn wurde in einem Spannungsfeld der Kulturen geboren. Aufgewachsen im Banat/Rumänien, hat sie in Temeswar ein deutsches Gymnasium sowie die Fakultät für Bildende Kunst der West-Universität absolviert, der Vater ist deutscher Abstammung, die Vorfahren der Mutter kommen aus Elsass-Lothringen. Ihre Herkunft ist von einer Vielfalt geprägt, die sich in ihrem Schreiben und ihrer Kunst widerspiegelt. So zeigen ihre Werke eine bemerkenswerte Balance besonders zwischen der deutschen und der rumänischen Kultur und haben eine breite Anerkennung in beiden Ländern gefunden. Es ist unter anderem auch diese besondere Verbindung, die ihre Werke so einzigartig macht und uns in die faszinierende Welt ihrer Texte entführt.

1973 veröffentlichte Ilse Hehn mit „So weit der Weg nach Ninive“ ihren ersten Gedichtband in Bukarest. Von der späteren Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die damals mit Herta Müller-Karl signierte, ist in der Presse zu dem zweiten Lyrikband der Autorin zu lesen: „Die Sprache ist bei Ilse Hehn das Mittel, durch welches die tiefen Räume unserer Innenwelt erhellt werden. Die Mahnungen und Warnzeichen der Ingeborg Bachmann klingen an, das bedrückende Gefühl der Vereinsamung und Fremdheit. Der Protest der Autorin gilt der Mittelmäßigkeit, dem Stumpfsinn, die unter der Maske der Wohlerzogenheit und hinter dem Vorwand der Gemütsruhe wurzeln und gedeihen. Fast alle Gedichte sprechen die Notwendigkeit aus, jeder Starrheit vorzubeugen durch das tägliche bewusste Anderswerden um der Menschlichkeit willen.“ (Müller-Karl, Herta: ,,Sensibilität und ethisches Bewusstsein. Zu dem Gedichtband ,Flussgebet und Gräserspiel‘ von Ilse Hehn“, in: Neue Banater Zeitung, 14. Dezember, Temeswar 1976).

Bald darauf befand sich Ilse Hehn – wie übrigens viele junge rumäniendeutsche Autoren – im Fadenkreuz der rumänischen Sicherheitsbehörde. Als 2011 in Bukarest vom Nationalen Rat für das Studium der Archive der Securitate ihre Akte zur Einsicht freigegeben wurde, konnte Ilse Hehn sich schmerzhaft mit den Gespenstern der Vergangenheit und den Folgen der Schreckensherrschaft des Ceaușescu-Regimes auseinandersetzen. Sie fand in dem zweisprachigen, vom Rumänischen Schriftstellerverband preisgekrönten Buch „Irrlichter. Kopfpolizei Securitate“ eine eigene literarische und künstlerische Form der Aufarbeitung jener Jahre kommunistischer Diktatur, indem sie die Erfahrungen der Vergangenheit auf eine künstlerische Bildebene transponierte. ,,Sie kreuzt Wort mit Collage, Zynismus mit Entlarvung, Bild mit Beweis, Projektion mit Destruktion. Ein anspruchsvolles, beeindruckendes Buch!“ So der Verleger des Buches Horst Wörner.

Nach ihrem Debüt folgten in Rumänien weitere Buchveröffentlichungen. 1992 kam Ilse Hehn mit ihrem Sohn nach Deutschland und musste ganz von vorne beginnen. Schon seit 1984 verwitwet, hat sie sich als alleinerziehende Mutter durchs Leben schlagen müssen und ein Gespür entwickelt für den „zweiten Blick“, den Blick hinter die Kulissen. Diesen Blick hat sie auch im Westen bewahrt, und er ist auch hier differenziert geblieben! Ihr Bild von Deutschland fängt realistisch in einem hochentwickelten Industrieland auch dessen Nüchternheit, ja sogar Kaltschnäuzigkeit und Hektik ein. Es ist vor allem dieser unbestechliche Griff hinter die Kulissen der Vorzeigewelt, die ihren Gedichten einen Wirklichkeitsgehalt gibt, wie ihn nur Poesie sprachverdichtend dem Leser – nicht selten schmerzhaft – ins Bewusstsein bringt. „Nicht zu vergessen / den Glanz abklopfen / die Farben hinterfragen / ansprechen den Tag / und / im Hinterhalt / jeden Zweifel wach halten“ heißt es in einem ihrer ersten Gedichte, die sie nach ihrer Ankunft in Deutschland schrieb.

Im Laufe der Jahre erschienen in Deutschland weitere Bücher mit Lyrik und Prosa, die fast immer von eigenen bildnerischen Arbeiten begleitet wurden. Die Künstlerin Ilse Hehn verfügt über eine künstlerisch-literarische Doppelbegabung, die sie in einer Vielzahl von Publikationen gezeigt hat und auf die ich noch zurückkommen werde.

Der Andreas-Gryphius-Preis, den wir heute an Ilse Hehn verleihen, ist nicht nur eine Anerkennung ihres bisherigen Schaffens, sondern auch eine Ermutigung für zukünftige Werke. Es ist eine Feier ihrer Literatur und Kunst, und ein Aufruf an die Gesellschaft, Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen und ihnen eine Plattform zu bieten, um ihre Talente zu entfalten. Ilse Hehn schaffte Kunstwerke mit Texten und eigenen Bildern, die preisgekrönt sind und ein Augenschmaus. Selbst ihre Anleitungen für den Kunstunterricht mit Praxisanleitungen finden sich in den Händen der jungen Generation an der Schule wieder und werden geschätzt. Auch faszinierende Foto-Bildbände über ihre Heimatstadt Ulm, das Ulmer Münster, spannende Stadtporträts, zeichnete sie mit ihrem besonderen künstlerischen Blick durch die Kamera.

Mein persönliches Ilse Hehn Lieblingsbuch ist ihr ungewöhnliches Reisetagebuch, ein geradezu europäisches Reise-Kunstbuch, welches ein beredtes Zeugnis ihrer Weltläufigkeit und Experimentierfreudigkeit ist: „Diese Tage ohne Datum“, erschienen 2022. Auf ihrer Reise durch zahlreiche Länder lässt sie uns teilhaben an ihren Erlebnissen und Gefühlen. Wir werden im vereisten Lappland auf Hundeschlitten gestellt, schwitzen mit ihr in der Wüste Ägyptens, erleben die Schönheiten ihrer „zweiten Heimat“ Frankreich. Ilse Hehns poetische Sprache ist faszinierend und reißt uns mit. Sie kann sehr witzig sein aber auch kritisch-sarkastisch. Mir gefällt ihr schonungsloser Blick auf die Realität, der mich einige Urlaubsorte nicht ansteuern lässt. Jeder Satz von Ilse Hehn ist eine lyrische Miniatur. Insbesondere ihre Wortneuschöpfungen haben es mir angetan, z.B. für alle Formen der Hitze: „Der Sommer buckelt auf…“ (Seite 65 ),„Nacktwetter. Ramme mich in die Sonne, gutgelaunt, stark“ (Seite 79). Die Künstlerin erfindet neue Farben, um ihre Umgebung zu beschreiben, z. B im Kapitel „Gondoliereblau“. Wenn Sie die Grauschattierungen in Norwegen faszinieren, klingt das so: „Ich schütte mir Blei in die Schuhe, um ein Abheben zu verhindern“ (Seite 223).

In dem Prosaband „Roms Flair in flagranti“, erschienen 2020, ist – ich zitiere – „der Künstlerin und Schriftstellerin Ilse Hehn etwas gelungen, was in den meisten illustrierten Rom-Baedekern fehlt, die gelungene Mischung aus seriöser kunstgeschichtlicher Betrachtung  wie auch  frecher, manchmal sogar schnoddriger Bewertung der Kontraste zwischen katholischem Prunk, weltlichem Glanz und dem überall sichtbaren Elend auf den Straßen Roms. Ein Buch, das ästhetisch aufgeladenen Genuss mit scharfsinnigen Kommentaren verbindet.“ So Wolfgang Schlott in seinem Begleittext.

Sie ahnen, liebe Zuhörer – das Werk dieser mehrfachen Preisträgerin ist ein Gesamtkunstwerk, in welchem kongenial die bildende und die Sprachkünstlerin Ilse Hehn zu Wort kommt. Diese Bandbreite füllt sie mit der besonderen Sensibilität der Malerin für Nuancen. Ihren Texten fügt sie meist eigenwillige Collagen, Malerei, Übermalungen oder Fotografien mit Überschreibungen bei, in denen Einzelwörter in eine ungewöhnliche Farbumgebung sinnintensivierend projektiert werden.

Ihr Œuvre, das heute 22 Bücher und zahlreiche Anthologie- oder Zeitschriftenbeiträge, dazu sieben unikale Kunstbücher umfasst, ist nicht nur von literarischem Wert, sondern auch von kultureller Bedeutung. Ilse Hehn, deren vielseitiges und multifunktionales literarisches und künstlerisches Werk internationale Anerkennung gefunden hat, zeigt uns, wie kulturelle und historische Hintergründe die Menschen prägen und wie Erinnerungen in der Gegenwart weiterleben.

Mit der umfangreichen Spannweite ihrer Texte trägt Ilse Hehn in mustergültiger Weise auch zur Vermittlung donauschwäbischer Kultur und deren Einbettung in die deutsche und europäische Gegenwartskultur bei. Ihr Schreiben ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Literatur Brücken zwischen verschiedenen Kulturen und Nationen baut und Menschen näher zusammenbringt. Es ist ein Zeugnis für die Kraft der Kunst, die Unterschiede zu überwinden und Gemeinsamkeiten zu finden. Ihre Worte inspirieren uns, in einer Welt der Vielfalt und Toleranz zu leben. In Zeiten, in denen die Welt von Konflikten und Spaltungen geprägt ist, erinnert uns die Autorin daran, dass Literatur und Kunst Brücken sind, die uns verbinden.

Ilse Hehn – eine Botschafterin der Kultur, der Kunst und der Literatur! Wir sind dankbar, dass sie uns durch ihre Bücher und Bilder bereichert.

Abschließend möchte ich die Autorin zu diesem wohlverdienten Preis beglückwünschen und ihr für ihre herausragenden Beiträge zur Literatur danken. Möge ihr Schreiben weiterhin inspirieren, berühren und die Welt bereichern. Herzlichen Glückwunsch!

Vielen Dank an die KünstlerGilde für diese Gelegenheit, Sie alle zu ermutigen, das Gesamtwerk von Ilse Hehn zu erkunden, ihre Worte in Ihre Herzen aufzunehmen und weiterzutragen.

Eva BEYLICH

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.