Von Old Shatterhand bis János Xantus

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Besuch bei den Filmemachern Gábor und Áron Xantus (I) / Von Werner FINK

Ausgabe Nr. 2792

János (John) Xantus in der Uniform der amerikanischen Marine 1861.

„Die Traumhelden und die Traumlandschaften unserer Jugendjahre – er hat sie erzählt und beschrieben wie kein anderer, ja verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes. Ging er doch in seinem blonden deutschen Helden Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi vollends auf. Die Rede ist vom Volksschriftsteller Karl May, der es wie kein anderer verstand, seine Leser zu fesseln“, schreibt Konrad Wellmann in einem Artikel in der Hermannstädter Zeitung von 2012 zum 100. Todestag von Karl May (1842-1912) und stellt ebenda fest:  „Jung und Alt liebten seine starken Helden, hassten die Bösewichte und bewunderten seine angeblich selbst erlebten Abenteuer. Dabei hat Karl May erst im Alter einige Stätten seiner Romane kennen gelernt.“ Wenn Karl May erst im Alter die Stätten seiner Romane kennengelernt hat, wer war es, der ihm als Inspiration diente? Diese Gedanken gingen bestimmt ganzen Generationen Lesern durch den Kopf. Antworten zu finden wird versucht in dem Film ,,Magyar volt-e Old Shatterhand“ (War Old Shatterhand ein Ungar?/ 2006), von Gábor Xantus und dessen Sohn Áron Xantus. Expeditionsreisen sind übrigens eine Herzensangelegenheit der Beiden. Neulich drehten sie einen Film über Emil Racoviță (1868-1947), der 2021 mit dem Preis der Rumänischen Akademie und Ende September d. J. vom  Verband der Rumänischen Filmemacher (UCIN) ausgezeichnet wurde.

„Mein Großvater war ein sehr gläubiger Mensch und gleichzeitig ein Mensch mit großer Sehnsucht nach Abenteuern, verständlich, denn er war Gemeindesekretär in der Hinterbrühl. Seine wahren Berufswünsche wären gewesen: Indianer oder Bischof. Und beim Lesen von Karl May konnte mein Großvater beides gleichzeitig sein. Beim  Zuhören ist mir etwas Faszinierendes aufgefallen: Je länger mein Großvater gelesen hat, desto mehr hat er vergessen, dass er NICHT Old Shatterhand ist. Bald hat er jedes ‚Ich‘ tatsächlich so ausgesprochen, als wäre es sein Ich, und er hat die Geschichten so vorgetragen, als säße er jetzt in diesem Augenblick mit Winnetou am Lagerfeuer“, schrieb Guido Tartarotti 2017 in dem Artikel ,,Ich bin Old Shatterhand“,  der unter  kurier.at zu lesen ist. Weiter unten steht: „Das heißt, Karl Mays Fantasie ist eine so starke Droge, dass nicht nur der Autor irgendwann glaubte, er sei wirklich Old Shatterhand, sondern sogar Leser wie mein Großvater.“ Vermutlich beschäftigt es viele Karl May-Leser bis heute: War es nur seine Fantasie, mit deren Hilfe Karl May seine Werke und Gestalten schuf oder steckt mehr dahinter? Dass die Behauptung Karl Mays, er selber sei Old Shatterhand nicht stimmen konnte, ist ja klar.

Gábor und Áron Xantus auf den Spuren des Polarforschers Dr. Emil Racoviță in der Antarktis.

Eindeutigere Antworten können aber der Filmemacher und Hochschullehrer an der Babeș-Bolyai Universität Gábor Xantus und dessen  Sohn Áron Xantus, die einen Film zu diesem Thema gedreht haben, geben. „Die Geschichte kann auf den Anfang der 1970er Jahre zurückgeführt werden, als ich noch ein Jugendlicher  war, als mein Vater, Dr. Xantus János, der Naturkundeprofessor, von dem Journalisten Franz Remmel, Literaturhistoriker, zur damaligen Zeit der Korrespondent der rumänischen Presseagentur Agerpress, aufgesucht wurde“, erinnerte sich Gábor Xantus. „Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war nun die Karl May-Forschung“. Franz Remmel erzählte seinem Vater, dass er zur Schlussfolgerung gekommen sei, dass Karl May die Gestalt Old Shatterhands anhand von Xantus János geschaffen haben muss. Xantus war ein Weltreisender, Ethnologe, der Gründer des Budapester Tiergartens und die Gründung des Volkskundemuseums wird ebenfalls auf seinen Namen zurückgeführt. Damals soll Franz Remmel das als eine Tatsache präsentiert haben. Der Familie Xantus erschien diese Aussage ziemlich bizarr, weil sie zum ersten Mal diese Vermutung vorgelegt bekamen. Man schenkte ihr damals wenig  Glauben. Man verstand den dahintersteckenden Kult nicht. Man versuchte die Vermutung rational zu  behandeln und nicht als eine Sensation.

Die Familie Xantus in Klausenburg ist über einen Seitenzweig mit dem genannten János Xantus (Csokonya, 1825 – Budapest 1894) verwandt, der in seinen jungen Jahren noch das Adelsprädikat „Csíktaplócai“ geführt haben soll. Die Wurzeln der Familie sind nämlich in der Gegend von  Szeklerburg im Szeklerland zu finden. János Xantus hatte in der Revolution 1848/49 gekämpft und war danach nach London geflohen und dann von hier nach Amerika übersiedelt. Nach einem kurzen Aufenthalt in New York und Washington,  einer Zeit, in der er  vom  Zeitungsausträger bis zum Lehrer die verschiedensten Berufe ausübte um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, machte er sich 1852 nach St. Louis auf, wo die Eisenbahn nach Kalifornien gebaut werden sollte. Hier übernahm er die Aufgabe, topografische Vermessungen durchzuführen. Beim Militär machte er die Bekanntschaft mit dem Chirurgen William Alexander Hammond, der als Sammler für den bekannten Zoologen Spencer Fullerton Baird arbeitete. Unter der Förderung Hammonds wurde Xantus zum Hilfschirurgen und wurde von diesem auch in den Naturwissenschaften unterwiesen. 1855 rüstete das State Department der USA für eine Expedition zur Vermessung von Kansas, an der auch Xantus teilnahm, wobei er verschiedene Arbeiten naturgeschichtlichen, geo- und ethnographischen und linguistischen Inhalts an das Smithsonian-Instituts schickte. 1857 erhielt er den Auftrag, das bis dahin unbekannte Südkalifornien wissenschaftlich zu erforschen. Xantus schickte große Mengen Material nicht nur nach Washington, sondern auch nach Ungarn, wo er zum korrespondierenden Mitglied der Ungarischen Akademie ernannt wurde. Später soll er im Auftrag der Coastal Survey meteorologische Beobachtungen im Pazifischen Ozean durchgeführt haben. Nach einem Aufenthalt in Ungarn ging er wieder nach Amerika, wo er Sekretär im Flottendepartement wurde. 1862 wurde Xantus in das Konsulat der USA nach Manzanillo versetzt.  1864 wurde er der erste Direktor des neu gegründeten Budapester Zoologischen Gartens. Im Rahmen des Ungarische Nationalmuseums wurde er 1872 zum Kustos der  Volkskundesammlung berufen. 1869 begleitete er im Auftrag des ungarischen Unterrichtsministeriums eine Expedition nach Ostasien. In Japan trennte er sich von dieser und bereiste die Philippinen, Borneo, Sumatra, Java und kehrte Ende 1871 mit reichen zoologischen, botanischen und ethnographischen Sammlungen zurück. Wer das Karl May-Werk kennt, dem kommt dieser Lebensweg irgendwie bekannt vor.

„Remmel hat den Zusammenhang damit bewiesen, dass er die Briefe, die Xantus János aus Amerika nach Hause schickte hervorholte, er öffnete bestimmte Seiten und er las bestimmte Passagen vor und verglich sie mit Passagen aus Werken von Karl May, wobei die Übereinstimmungen erstaunlich waren“, erinnerte sich  Xantus. Als Karl May Old Shatterhand schuf, war er vorher nie in Amerika gewesen. Außerdem verbrachte Karl May eine nicht unbedeutende Zeitspanne im Gefängnis, von der Welt abgeschottet, trotzdem beschreibt er mit Genauigkeit einige Schauplätze in Kalifornien. „Er verfügte über genaue Informationen, die er irgendwo her haben musste. Weiterhin ist die Story an sich auffallend. Die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand, das  Verhältnis von Old Shatterhand zu den Indianern, das Verhältnis zwischen Old Shatterhand und Henry dem Waffenschmied. All das ist in den Romanen wiederzufinden, aber auch in den Briefen von Xantus János, die er aus Amerika seiner Mutter schickte. Diese Übereinstimmungen gaben auf jeden Fall zu denken.“  Auch wenn es keine Beweise dafür gibt, ist es denkbar, dass May in den Besitz der Briefe gekommen ist, vor allem nachdem sie von Prépost István im Verlag  Lauffer és Stolp 1858 unter dem Titel „Xantus János levelei Északamerikából” (Die Briefe von Xantus János aus Nordamerika) veröffentlicht wurden.

Dann wurde auch  ein Interview mit Franz Remmel aufgenommen, wo Franz Remmel auf Deutsch den Zusammenhang zwischen Xantus János und Old Shatterhand erklärt. „Zahlreiche Beschreibungen  von Karl May spielen sich im Wilden Westen ab und es wären zu viele der Zufälle, würde man nicht daran glauben können, dass Xantus tatsächlich der Romanheld Karl Mays Old Shatterhand war“, sagt Franz Remmel im Interview. „Es gibt sehr viele Parallelen für diese Voraussetzung. Erstens einmal die physische Gestalt von Xantus und der Old Shatterhands. Xantus war ein gut gebauter, großer, starker Mann, ein zähes Wesen, der sehr vieles im Wilden Westen durchgestanden hat. Und dann die Informationen. Um die Jahrhundertwende konnten nicht derart viele Informationen von Amerika nach Europa gelangt sein, damit Karl May sich als Old Shatterhand identifizieren konnte. Dies setzt voraus, dass er eine Fülle von Informationen hatte, aus denen er schöpfen konnte und von denen er auch reichlich Gebrauch machte.“ Remmel spricht weiterhin  auch von einer zweiten Gestalt, die mutmaßlich von Karl May „kopiert“ worden war. Im Rahmen der Expedition, bei der die Sierra Nevada überquert wird, soll Xantus häufig einen gewissen „Don Antonio“ erwähnen, dem Karl May mutmaßlich die Züge für Sam Hawkens entlehnt habe.  Remmel weist auch darauf hin, dass Xantus in späteren Jahren amerikanischer Konsul in Mexiko gewesen ist, eben zur Zeit der Errichtung des später gescheiterten maximilianischen Kaiserreichs, als Maximilian I., der Bruder von Franz Joseph, im Kampf gegen Benito Juárez besiegt und dann hingerichtet wurde. „Einige Hinweise darauf finden sich bei Karl May im Band ‚Der sterbende Kaiser’“, stellt Remmel fest.

In dem Karl May-Werk wird der Waffenschmied Henry erwähnt. Einen Waffenschmied dieses Namens hatte es tatsählich gegeben. Benjamin Tyler Henry hatte  genau zu dieser Zeit, in der zweiten Hälfte der 1800er Jahre die  Henry Rifle, das erste Unterhebelrepetiergewehr auf dem amerikanischen Markt, das Einheitspatronen mit Metallhülsen verschoss, entwickelt. In dem Karl May-Werk erhält Old Shatterhand den „Henrystutzen“ von ihm. Es handelte sich dabei um einen Prototyp.

Der Prototyp eines Unterhebelrepetiergewehrs, einer Henry Rifle, mit dem auf dem Verschlusskasten eingravierten Namen ,,John Xantus“ ist zu sehen im Xantus János Museum in Győr.

„Einige Jahre später suchte uns der damalige Hauptdirektor des Budapester Zoos Miklós Persányi auf und sagte: ‚Du warst skeptisch, du hast nicht an diese Vermutung geglaubt, dass Xantus János als Vorbild für die Schaffung von Old Shatterhand gedient hat. Hier ist der Beweis dafür’“, erinnerte sich Gábor Xantus. Kurz vor dem Treffen wurde in Gödöllő bei Budapest bei der Aushebung eines Grabens zum  Verlegen von Gasleitungen, ein Gewehr gefunden. Auf beiden Seiten des Gewehrs war „John Xantus“  eingraviert. John Xantus gab es nicht viele und das Gewehr hatte keine Seriennummer: ein Prototyp eines Unterhebelrepetiergewehrs, einer Henry Rifle. Im Film erzählt Museograf Péter Szabó die Geschichte rund um das Gewehr.

„Xantus nahm die Indianer in seinen Schutz, als er als Kartograph in Kalifornien gearbeitet hat. Damals wurde die Ost-West-Eisenbahn gebaut, die über das Gebiet der Indianer führte. Als ein Beweis dafür dient auch die Tatsache, dass mehrere Indianerhäuptlinge  ihm ihre Töchter anboten, was er aber nicht annahm. Immer wenn es ihm möglich war, war er derjenige, der eine Art diplomatische Beziehungen schuf zwischen den weißen Siedlern, die an der Eisenbahn arbeiteten und den Häuptlingen der Indianer. Also, es gibt sehr viele derartige Koinzidenzen“,  meinte Gábor Xantus.

„Als unser Dolmetscher mich vorstellte und ihm sagte, dass ich von jenseits des Großen Wassers kam, fragte er: ‚Warum?‘ – worauf der Dolmetscher antwortete: ‚Weil man ihn aus seinem Land vertrieben hat‘. Nun nahm der Häuptling  die Pfeife aus seinem Mund und nahm seine Opanke von seinem rechten Fuß ab und reichte sie mir herüber, wobei er sagte: ‚Du bist ein wahrer Freund, weil man auch dich, genau so wie man auch uns, aus deinem Land vertrieben hat, nimm die Pfände meiner Freundschaft an, und komm mit uns, wir sind mächtig’“, schreibt János Xantus in seinem Brief vom 1. Dezember 1852 an seinen jüngeren Bruder.  (Fortsetzung folgt)

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