Ein Synonym für den Herbst

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Die Gewinnerfilme des Astra Film Festivals 2022 wurden bekannt gegeben

Ausgabe Nr. 2792

Der ,,Full Dome“, die mobile Kuppel auf dem Großen Ring, in der ca. 20.000 Kinder und Jugendliche an den acht Festivaltagen Kurzfilme im Full Dome-Format sehen konnten, war auch in diesem Jahr die wichtigste Attraktion. Das Bild hat eine 360-Grad-Ausdehnung im Horizont sowie mindestens 180 Grad über den Zenit und umgibt den Betrachter.                                                                                       Foto: Beatrice UNGAR

Ein Synonym für den Herbst in Hermannstadt ist das Astra Film Festival. Seit 29 Jahren lockt das Dokumentarfilmfestival Jung und Alt in seine Kinosäle, sei es wie zu Beginn ins eigene Haus auf dem Kleinen Ring, später ins Gewerkschaftskulturhaus, während der Pandemie ins Freilichtmuseum und dieses Jahr zum ersten Mal ins CineGold, in der Promenada Mall Sibiu. Die Qualität der Filme ist immer gleich gut, das Publikum geht mit dem Gefühl nach Hause, etwas Neues gelernt zu haben, manchmal aus dem Film selber, andere Male aus den Gesprächen, den Q&A Sessions mit den Filmemachern.

 

Dieses Jahr wurden diese Gespräche von prominenten TV-Journalisten, Soziologen und Historikern moderiert, was zu hochinteressanten Dialogen führte. Das Festival endete am Sonntag, dem 16. Oktober, nachdem einen Tag zuvor die großen Gewinnerfilme bekannt gegeben wurden.

Szene aus dem Film ,,Pocalul“.

Begonnen hat die 23. Auflage des Astra Film Festivals (AFF) am Sonntag, dem 9. Oktober, im Thaliasaal mit den offiziellen Grußworten der Organisatoren Dumitru Budrala und Csilla Kató, sowie der Präsentation des Films „Pocalul. Despre fii și fiice“ (Der Pokal. Über Söhne und Töchter), bei dem auch die Hauptfigur, Nina, eine Romafrau aus einer „Cortorari“-Siedlung, mit ihrem kleinen Sohn dabei war und nach der Filmvorführung auf Fragen aus dem Publikum antwortete. Der Film wurde von der Anthropologin Cătălina Țesar gedreht, die zehn Jahre lang Ninas Familie besucht und ihre Traditionen studiert hat. Der Film handelt von der Verhandlung der Mitgift bei den ,,Cortorari“. Die Familien verhandeln über die Mitgift der Tochter und bewerten das Erbe des Bräutigams, wenn sie Bündnisse schließen. Diese Bündnisse drehen sich um vergoldete Silberkelche, die vom Vater an den Sohn weitergegeben werden. Der Druck ist umso größer, wenn der Abschluss des Bündnisses von der Geburt eines Sohnes abhängt. Der Dokumentarfilm fängt nicht nur die Tradition und die Kultur der Cortorari ein, sondern verfolgt auch hautnah ein junges Paar, das versucht, einen Sohn zu bekommen, und die Atmosphäre, die Diskussionen und die Emotionen in der Großfamilie über das Geschlecht des ungeborenen Kindes, das Schicksal des Erbes und damit das eigene.  Die „Pokale“, die nur an Männer weitergegeben werden, und die den Bund zwischen den Familien garantieren, gehörten den Siebenbürger Sachsen und waren ein Zeichen des sächsischen Adels. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gaben die Sachsen sie auf und die Roma begannen, sie zu erwerben. „Pocalul. Despre fii și fiice“, der an mehreren Tagen innerhalb des Festivals gezeigt wurde,  gewann den großen Preis in der Kategorie „Rumänien“.

Als beste Regisseure eines rumänischen Films wurden Adina Popescu und Iulian-Manuel Ghervas auserkoren für den Film „Vulturii din Țaga“ (Die Adler aus Țaga). Der Film handelt von der Geschichte eines Fußballtrainers aus einem siebenbürgischen Dorf und der Gemeinschaft, die er vertritt. Fast jeden Sonntag markiert Nelu Târnovan, ein langjähriger Fußballtrainer, das Spielfeld des örtlichen Stadions, das irgendwo am Rande eines siebenbürgischen Dorfes liegt. Sein Team, die Adler von Țaga, spielt in der letzten Liga, und gute Ergebnisse lassen auf sich warten. Doch Nelu versucht um jeden Preis, die Mannschaft am Leben zu erhalten, auch wenn sich alles gegen ihn zu stellen scheint: die Schiedsrichter, das Wetter, seine Frau und manchmal sogar seine Spieler.

Szene aus Botond Püsöks Dokumentarfilm „Too Close”.

In der Kategorie „Neue Generation der Filmemacher” (Voci emergente ale documentarului) hatten die Juroren des Astra Film Festivals viele gute Filme zur Auswahl. Gesiegt hat jedoch der Film „Too Close” (Apropierea) von Botond Püsök. Letzterer verbindet dokumentarische Beobachtung mit Thriller und lässt seine Protagonisten die Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Haushalt erzählen. Die Protagonistin ist Andrea, eine Theaterschauspielerin, die in einem ungarisch-sprachigen Dorf irgendwo in Siebenbürgen lebt. Ihre Tochter Pirkó wurde von Andrea’s damaligem Partner Pika systematisch sexuell missbraucht, und die ganze Geschichte kam ans Licht, als Andrea mit Pika’s Sohn Bogyó schwanger war. Von Pirkó und Andrea damit konfrontiert, gestand Pika alles und wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine vorzeitige Entlassung wegen „guter Führung” droht jedoch das fragile Gleichgewicht zu stören, das Andrea und Pirkó in der Therapie erreicht haben. Der Grund für die Panik im Heim ist nicht nur Pika, sondern auch das ganze Dorf, das Verhalten der Einheimischen gegenüber der zerrütteten Familie und ihre allgemein positive Einstellung zu Pika und ihre Unterstützung für ihn. In ihren Augen ist die ganze Geschichte eine Lüge, und in ihren Gesprächen wird Andrea als „die Schauspielerin” bezeichnet, was bedeutet, dass sie für ihren Lebensunterhalt lügt, während Pika ein „Salz der Erde” ist, der Sohn des örtlichen reformierten Pfarrers und der geniale Ingenieur, der dem Dorf Bürgersteige und Gas gebracht hat. Wie kann ein so „guter Mann” hinter verschlossenen Türen ein Pädophiler sein?

Das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Rahmen der Familie oder des Haushalts ist immer ein heikles Thema, und es gibt wahrscheinlich keinen richtigen Weg, es in Form eines Dokumentarfilms zu behandeln. Die Opfer sind in der Regel nicht bereit, sich zu öffnen und darüber zu sprechen, da sie eine weitere Viktimisierung und Verurteilung durch ihr eigenes Umfeld riskieren. Dies macht Botond Püsöks „Too Close” zu einem äußerst riskanten, mutigen, heiklen und letztlich wirkungsvollen Porträt der oben genannten Situation. Das Publikum, das den Film gesehen hat, war sehr begeistert von der natürlichen und ehrlichen Art der Protagonistin und fieberten mit ihr mit, bis sie mit ihren beiden Kindern in Sicherheit gelangte.

In der Kategorie Osteuropäische Filme hat „The Pawnshop“ (2022, das Pfandhaus) des polnischen Regisseuren Łukasz Kowalski gewonnen. Der Film zeigt, wie die Besitzer eines Pfandhauses in Polen verzweifelte und teils vergebliche Versuche machen, ihr Geschäft zu retten.

Jola und Wiesiek sind ein exzentrisches Paar, das das größte Pfandhaus Polens betreibt. Ihr Geschäft macht schwierige Zeiten durch, ebenso wie die Stadt, in der sie leben, einst ein florierendes Industriezentrum des Landes, jetzt im wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die beiden suchen nach allen möglichen Lösungen, um aus der Krise herauszukommen, und obwohl nichts zu funktionieren scheint, bleibt das Pfandhaus weiterhin geöffnet und die Menschen, die hierher kommen, bringen neben den zum Verkauf angebotenen Gegenständen auch ihre Lebensgeschichten mit. Drei Angestellte – zwei Frauen und ein Mann – hat das Pfandhaus, deren Leben zwischendurch auch vorgestellt wird. Zum Teil witzig, zum Teil traurig zeigt die Doku eine Geschichte und Bilder, die den Osteuropäern – und sicherlich nicht nur ihnen – wohl bekannt sind: Der Umstieg in die Marktwirtschaft, der ganze Gemeinschaften zerstört. Wiesiek ist ein Träumer und ist sicher, dass er kurz vor dem großen Geschäft steht und kauft Hirschgeweihe und Mammutzähne. Jola versucht, ihren Mann auf einen realistischeren Weg zu bringen und hat ihre eigene Ideen – z. B. ein Frühjahrsfest –, um den Laden mit Leben zu erfüllen, hört ihren Kunden zu und hilft den Ärmsten ihrer Kunden – eine heiße Suppe für den Obdachlosen und eine warme Daunenjacke für das unterernährte Mädchen machen für diese Menschen den Unterschied. Der Film endet genauso wie er ist – traurig und hoffnungsvoll zugleich: Ein Jahr später steht der Laden noch immer vor dem Bankrott, hat allerdings noch nicht geschlossen.

In der Kategorie „DocSchool” (DokSchule) wurde der Film „A Place in the World” von Emilie Beyssac Cywinska zum Gewinner auserkoren. Als Begründung schrieb die Jury, der Film zeichne „ein zartes und warmherziges Familienporträt, das mit einer solchen Leichtigkeit, Natürlichkeit und Zuneigung gemalt ist, dass es auf subtile Weise zeigt, wie sich die Kräfte der großen Geschichte im kleinen Maßstab des täglichen Lebens abspielen“. Eric Essers „Nestwärme – Mein Opa, der Nationalsozialismus und Ich“ gewann in der gleichen Kategorie den Preis für die beste Regie. Der Dokumentarfilm zeigt auf, wie schwierig es ist, die eigene Familie zur möglichen Nazi-Vergangenheit und NSDAP-Mitgliedschaft des Großvaters zu befragen. Den Anstoß für dies alles gab wiederum ein einzelner Filmausschnitt, den Esser im Nachlass des Großvaters fand: darauf ist zu sehen, wie sich sein Vorfahre eine Hakenkreuz-Plakette ans Revers steckt. Ansonsten habe es aber nie einen Hinweis auf eine solche Gesinnung gegeben. Die AFF-Jury verlieh den Preis „für ein Film-Essay, das mutig und mit großer Verletzlichkeit und Ehrlichkeit, aber auch mit großer intellektueller und erzählerischer Raffinesse eine unbequeme persönliche Geschichte und den Weg zu ihrer Enthüllung erforscht“.

Neben den Filmen im Wettbewerb gab es noch die Kategorien „VR and Immersive Art“. Hier wurden Filme mit VR-Brille oder 360 Grad Filmprojektionen im Full Dome auf dem Großen Ring gezeigt wurden. Nicht zu vergessen die wohl am meisten besuchten Filme der Astra Film Junior, die jeden Morgen von ganzen Schulklassen gesehen wurden und oft Wochen im Voraus ausverkauft waren.

Weitere Themen heuer waren „Endlose Liebe“ (Iubirea eternă), „Gesichter des Krieges“ (Fețele războiului), „Beschlossener Tod“ (Moarte decisă), „Focus Investigation“.

Dem britischen Regisseuren Nick Broomfield wurde dieses Jahr die Kategorie „Ein Leben in Dokumentarfilmen“ gewidmet. Broomfield ist einer der berühmtesten Dokumentarfilmregisseure weltweit, seine Dokus werden in Kinos gezeigt, die meisten sind mehrfach prämiert.  Broomfield hat an der Universität in Cardiff Rechtswissenschaften, an der Universität Essex Politikwissenschaften und an der National Film and Television School Filmwissenschaften studiert. Der Regisseur arbeitet bei seinen Dokumentationen meist mit einer sehr kleinen Crew, oft nur er und ein bis zwei Kameramänner. Er begann in den 1970er Jahren im Stil des Cinéma vérité. Über die Zeit wandelte sich sein Stil. Er tritt inzwischen selbst in seinen Dokumentationen auf und ist auch Teil der Geschichten. Die Themen, über die er arbeitet, sind meist gesellschaftlich, aber sehr unterschiedlich.

Im Rahmen dieser Kategorien wurden auch drei Filme von ihm gezeigt, die nicht unterschiedlicher sein können: einen Film über einen Serienmörder, ein Doku über die Liebe zwischen dem Musiker Leonard Cohen und seiner Muse Marianne und einen sehr persönlichen Film über die Beziehung zwischen dem Regisseuren und seinem Vater, einer der berühmtesten englischen Fotografen.

Der erste Film von Nick Broomfield, der beim AFF gezeigt wurde, ist „Tales of the Grim Sleeper“. Der fesselnde Dokumentarfilm beleuchtet den erschütternden Fall des Serienkillers „The Grim Sleeper“ auf einzigartige Art und Weise: Hier wird nicht der Täter in den Fokus der filmischen Auseinandersetzung gerückt, sondern das soziale Umfeld und vor allem die Opfer. Broomfield arbeitet stets mit einer kleinen Filmcrew und schafft dadurch eine äußerst eindringliche Atmosphäre. Einem Kriegsberichterstatter gleich begibt er sich selbst auf die gefährlichen Straßen in Los Angeles, um dort nach den Angehörigen und Bekannten der Opfer sowie Verwandten, Nachbarn und Freunden des Täters zu suchen und mit ihnen zu sprechen.

„Marianne & Leonard: Words of Love“ (2019, Marianne & Leonard: Liebeswörter) ist ein Dokumentarfilm über die berüchtigte Beziehung zwischen dem Singer-Songwriter Leonard Cohen und seiner norwegischen Muse Marianne Ihlen. Das war womöglich der bestverkaufte Film des Festivals, der Saal war rappellvoll. Die Liebesgeschichte beginnt in den frühen 60er Jahre auf der Insel Hydra in Griechenland, wo Cohen an seinem Roman arbeitet und gar nicht daran denkt, Sänger zu werden. Hier beginnt seine Beziehung zu der Norwegerin Marianne Ihlen, die geschieden ist, einen kleinen Sohn hat und auch mehrere Liebhaber. Die Geschichte ihrer Liebe wird mithilfe des Archivmaterials aus den 60er und 70er Jahren vorgestellt, dazu gibt es mehrere Audio-Interviews mit Marianne und Leonard, dann sind aber auch andere Personen interviewt, die sich an jene Zeiten erinnern. Im Mittelpunkt des Films steht die lange und komplizierte Beziehung und später Freundschaft zwischen Marianne und Leonard, nebenbei erfährt man etwas über Leonard Cohens Karriere. Auch wenn die Liebesbeziehung nur etwa acht Jahre gedauert hat, hat Leonard Marianne Karten zu all seinen Konzerten geschickt – sie ist inzwischen zurück nach Norwegen gezogen, hat einen Norweger geheiratet und widmet sich ihrem Sohn, der Probleme hat – und das war auch seine längste Beziehung in seinem turbulenten Leben. Der Film zeigt auch ein Bild der 60er und 70er Jahre, wo Sex, Drugs & Rock’n’roll im Mittelpunkt standen. Der Film endet 2016, als Marianne stirbt, allerdings nicht bevor Leonard sich von ihr in einer emotionalen Nachricht verabschiedet. Er selber stirbt nur wenige Monate danach.

Mit „My Father and Me“ (2019, Mein Vater und ich) zeigt Nick Broomfield einen sehr persönlichen Teil seines Lebens: Seine Beziehung zu seinem Vater Maurice, mit dem er sich nach und nach besser verstanden hat und erst als erfahrener Dokumentarist den Wert dessen Werkes geschätzt hat. Sein Vater war der bekannteste Fotograf für die industrielle Propaganda, war für den Großteil seines Lebens ungefeiert und ist erst viele Jahre nach seinem Rückzug  wieder entdeckt worden. Seine Filme wurden ein Viertel Jahrhundert in einer feuchten Garage aufbewahrt und konnten nur von einem britischen Museum teilweise gerettet werden – inzwischen wurden sie in aller Welt gezeigt. Viele seiner schönsten Fotografien werden im Laufe des Filmes gezeigt, während das Leben der Familie – mit Maurice im Mittelpunkt – porträtiert wird. Durch diesen Film bringt der Regisseur eine Hommage an seinen Vater, und wird von den Kritikern als eine seiner besten Arbeiten gefeiert.

Alle Filme des Astra Film Festivals können noch bis zum 30. Oktober online gesehen werden unter https://www.astrafilm.ro/astra-film-online

Cynthia PINTER

Ruxandra STĂNESCU

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Film.