Schreibwettbewerb

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Osten. Westen. Norden. Süden

Ausgabe Nr. 2772

Sigrid Arvay, heute Schülerin der 11. Klasse am Johannes-Honterus-Gymnasium Kronstadt, hatte im Vorjahr beim 3. Schreibwettbewerb (Thema: ,,Lehren aus der Pandemie“) einen ersten Platz belegt.Foto: Privat

Schreibwettbewerb des Konsulats 2022

Das Thema des vierten Schreibwettbewerbs für deutschsprachige Lyzeaner, den das Deutsche Konsulat Hermannstadt und die Hermannstädter Zeitung veranstaltet haben, lautete: ,,Was bedeutet Freundschaft für Dich?“. In dieser Ausgabe lesen Sie den Beitrag der Erstplazierten Sigrid Arvay (11. Klasse, Johannes Honterus-Gymnasium, Kronstadt:

Alita wachte von den hellen Sonnenstrahlen der Morgensonne auf. Heute war ihr großer Tag! Es hatte sich endlich eine Reisewolke gefunden, die sie am Abend zu ihrem guten alten Freund Nordus, den Hund, bringen würde. Sie kannten sich schon lange, hatten immer viel Spaß miteinander, doch Nordus wohnte weit weg, so dass sie sich nur selten sahen. Nun rannte Alita raus aus dem Haus und schaute sehnsuchtsvoll in den Osten, in Erwartung auf ihre Wolke.

Plötzlich spürte Alita wie etwas Sanftes auf ihre Schulter fiel. Neugierig drehte sie sich um und blickte auf einen glänzenden Schmetterling, der lustig mit den Flügeln wippte. „Osta!“, rief Alita fröhlich, „Bringst du mir Nachricht von der Reisewolke? Wird sie auch wirklich pünktlich hier sein?“ Der Schmetterling umkreiste das Mädchen ein paar mal und ließ sich schließlich auf ihrer Handfläche nieder. „Ach, Alita, du machst dir doch zu viele Sorgen!“, lächelte er vertrauensvoll. „Natürlich wird die Wolke hier sein! Aber bis dahin lass uns auf die Blumenwiese gehen und spielen.“

Alita folgte ein bisschen zögerlich. Sie kannte Osta erst seit kurzem und es fiel ihr schwer, sich jedes Mal frisch auf eine Begegnung mit ihm einzulassen, Er war ihr neuster Freund. Kennengelernt hatten sie sich zufällig. Alita hatte eine depressive Phase gehabt, wollte raus aus ihrer Welt und hatte sich täglich auf der Blumenwiese nach einem Helfer umgeschaut. Ihr Traum war einen Freund zu haben, der ihr bei den unmöglichsten Abenteuern beistehen würde; einer, der kräftig genug war, sie bis auf die höchsten Gipfel der Welt zu tragen und der mit seinem selbstbewussten Auftreten alle Depressionen zunichte machen musste. Kurz danach war Osta, der Schmetterling aus dem Osten, in ihrem Leben aufgetaucht. Er war in gewissem Masse selbstbewusst, aber nicht so abenteuerlustig wie erwartet. Anfangs abweisend, musste Alita sich zufriedengeben und trotz aller Unterschiede freundeten sie sich nach und nach an. Sie erlebte Osta als lieblich, zart und sehr einfühlsam – und als einen exzellenten Tänzer! Wer weiß, vielleicht war es ja sogar besser, dass Osta war, wie er war.

Doch wie gesagt: Es braucht alles seine Zeit. Der Schmetterling ließ sich anmutig von einer Blume auf die nächste treiben, Alita lief ihm erst langsam, unentschlossen nach, bis sie sich schließlich auf den wunderbaren Tanz einließ und vollkommen, mit Leib und Seele mit Osta um die Wette tollte. „Du machst das gut, du bist so wunderbar!“, strahlte Osta. „Ich?“, fragte Alita beschämt, „Ich bin nichts im Vergleich zu dir!“ „Oh doch!“, rief der Schmetterling, „Du bist schön und begabt. Willst du weiterspielen?“. „Natürlich!“, lachte Alita laut und dachte bei sich: „Ich mag zwar mit Osta nicht Berge erklimmen, aber diese Einfachheit in seinem Wesen und seine Ermutigungen tun einfach der Seele gut!“

Nach einiger Zeit wurde Osta müde und sie suchten sich ein schattiges Plätzchen. „Weißt du, dass du meine beste Freundin bist?“, flüsterte der Schmetterling. Alitas Herz schlug höher und sie musste mit Freude an die vielen schönen Erinnerungen von der Blumenwiese denken. Doch – waren sie tatsächlich schon so vertraut? Sie drehte sich um und schwieg. „Ich muss weg, Osta“, sagte sie nach einer Weile ein wenig kühl.

Tatsächlich war ihre Reisewolke schon bald darauf da und das Mädchen bestieg sie rasch. Die Reise dauerte lange. Als es Abend wurde, waren sie aber immerhin schon im Westen. Alita überlegte kurz und kam zum Schluss, dass es vielleicht noch Zeit gab, ihre Freundin Westa, einen Frosch, zu besuchen. Westa lebte hier in einem Teich im westlichen Teil der Welt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie noch bei Alita im Gartenteich gehaust, doch weil es dort viele hässliche Kröten gegeben hatte, hatte sich der Frosch schweren Herzens entschieden, umzuziehen. Somit gesehen war das Froschmädchen eine sogar noch ältere Freundin als Nordus!

Mit diesen Gedanken sprang Alita von ihrer Reisewolke ab und landete mit einem großen Platsch in eine Pfütze. „Hallo, Westa! Ich bin’s, Alita! Bist du hier?“, rief das Mädchen durch das Schilf. Sie wartete nicht lange und schon hüpfte ein grasgrüner Frosch ihr direkt in die Arme! „Wie schön, dass du gekommen bist!“, jauchzte Westa, die nur darauf gewartet hatte, ihre Freundin wieder zu begrüßen. Der Moment des Wiedersehens rief eine Menge alte Erinnerungen in den beiden hoch, die die beiden schnell und beide auf einmal austauschen mussten. Es war eine sonderbare Unbefangenheit, die Alita glücklich machte. Normalerweise fand sie es schwierig alte Bekanntschaften neu aufzufrischen, aber mit Westa klappte es immer gut.

Lange Zeit redeten sie einfach wild durcheinander herum, bis auch die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden. Die Zeit des Froschorchesters war gekommen und auch Westa bereitete ihre Geige vor. „Willst du, dass ich dir vorspiele, Alita? Ich habe ein neues, sehr kompliziertes Stück gelernt.“ Das Mädchen nickte freudig und bald darauf konnte man Westa fiedeln hören. Sie sorgte sehr gut auf ihre zarten Froschhändchen, um sie ja nicht zu beschmutzen. Ihre sensiblen Schwimmhäute benötigten sorgsame Pflege, denn eine Verletzung würde das Geigespielen sehr behindern. Wohl keiner der anderen Frösche beherrschte die Technik des Musizierens so gut wie Westa und Alita musste zugeben, dass sie sogar ein bisschen neidisch auf ihre Freundin war. Oft unbewusst hatte sie mit dem Froschmädchen um die Wette geeifert: was Musik anlangte, hatte Westa den Vorsprung; in anderen Dingen, wie Dichten, war Alita besser. Noch in ihren Gedanken versunken, legte Westa ihre Geige zur Seite und kam auf ihre Freundin zu. „Weißt du, Alita, es ist schön hier im See…aber ich vermisse dich.“ Erschrocken drehte sich das Mädchen um und sah eine Träne in ihren Augen. „Du bist und bleibst meine beste Freundin.!“, flüsterte Westa.

Dazu konnte das Mädchen nichts sagen und sie suchte rasch eine Möglichkeit den Teich zu verlassen; sie musste ja noch bis in den Norden und ihre Reisewolke hatte sich leider aus dem Staub gemacht. So sagte Alita Westa „Lebwohl!“ und rannte schnell weg. Klar nagte noch einige Zeit das schlechte Gewissen an ihrem Herzen, doch bald darauf kam auch eine gewisse Vorfreude auf ihre nächste Begegnung. Was würde sie mit Nordus heute noch unternehmen? Der abenteuerlustige, stets zu Witzen aufgelegte Hund war ein fabelhafter Spielkamerad. Alita fragte sich, ob auch andere Freunde zu ihnen stoßen würden, denn Nordus war überall gern gesehen und hatte viele Freunde. Mit einem Lächeln überlegte sie sich, wie schön es sein würde…

Es ging allerdings recht langsam voran und Alita musste sich mühevoll durchs Gestrüpp kämpfen. Die Nacht war auch dunkler als sonst und es wehte ein eisiger Wind. War die der Norden? Das Mädchen hatte ihn anderes in Erinnerung, aber sie konnte keinen anderen Weg finden. Eine Totenstille hatte sich über das Land gelegt und langsam, aber sicher wurde dem Mädchen klar, dass hier etwas nicht stimmte. Was war passiert?

Plötzlich stieß sie auf ein unförmiges Knäul. Entsetzt schrie sie auf und sprang zur Seite. Ein sonderbares, unwohles Gefühl bereitete sich in ihr aus. Unsicher betastete sie das Ding, noch immer im Unklaren was sie beinahe zum Fallen gebracht hatte. Sie war müde und wollte endlich zu Nordus! Was versperrte ihr hier den Weg? Fast schon hatte sie sich dazu entschieden das sonderbare Objekt einfach dazulassen, als es auf einmal blitze. Für den Bruchteil einer Sekunde war es hell, doch es reichte, dass Alita im Schein des kalten Lichtes die Wahrheit erkennen konnte. Ihr Herz blieb stehen: vor ihren Füssen lag Nordus.

Ihr wurde schwindlig. Nordus antwortete nicht auf Fragen, sein Körper war kalt. Alita rüttelte an ihm, schrie ihn an, rief um Hilfe, aber nur ein Donnergrollen antwortete ihr. Das Mädchen war verwirrt, aus ihren Bahnen herausgeworfen und unfähig ein Wort herauszubringen. „Nein“, dachte Alita, „das ist eine Wahnvorstellung!“, aber sie wusste ganz genau, dass es keine war.

Ein paar Minuten starrte sie auf den leblosen Körper, dann begann es zu regnen und mit ihm fielen auch dem Mädchen die Tränen von der Wange. Es ist nie gut, wenn einen der Schock so plötzlich überwältigt. Wir Menschen brauchen Sicherheit, zu mindestens in einem gewissen Maß. Wie sollen wir leben, wenn einem ständig der Boden unter den Füssen genommen wird? Aber diese Welt ist nicht sicher! Es passieren die unmöglichsten Dinge. Wo nur sollen wir Halt finden? Das war Alitas schreckliche Erkenntnis.

Lange Zeit verbrachte sie unkontrolliert heulend im Regen. Um sie stürmte und donnerte es, aber sie kümmerte sich nicht darum. Weinen, weinen, weinen: mehr konnte und durfte sie nicht tun. Nordus – es war ihr Freund gewesen. Sie hatte sich das Leben anderes vorgestellt. Doch nun war er weg. Für immer! Wäre sie früher dagewesen…Hätte sie sich nur von ihm verabschieden können…

Irgendwann wichen die Regenwolken und irgendwann versiegten auch Alita die Tränen. Die Welt war noch immer dunkel, aber nicht mehr in schwarz, sondern in ein lebloses, trockenes Grau umhüllt. Es war still, kein Blättchen regte sich.

Plötzlich konnte man ein Rascheln hören und zwei Gestalten traten aus dem Gestrüpp hervor. Alita hob müde ihren Blick: von rechts kam Osta der Schmetterling, von links Westa, der Frosch. Alita traute ihren Augen kaum! Wie hatten ihre Freundinnen diesen schweren Weg geschafft?! Frosch und Schmetterling umarmten sie schweigen. Brauchte man irgendwelche Worte zu sagen? Sie hatten die Nachricht wohl erfahren; der Wind war ein zuverlässiger Bote.

Lange Zeit saßen sie dort zusammen, Tränen gab es keine mehr. Aber dann richteten sich Osta und Westa auf und taten etwas sehr Unerwartetes: Osta riss sich einen ihrer Flügel ab und legte ihn auf Nordus, Westa begann mit bloßen Händen, Stück für Stück, dem Hund ein Grab zu schaufeln, bis der leblose Körper ganz verscharrt war.

Da gab es kein Halten mehr für Alita. „Ich habe solche Freunde nicht verdient“, schluchzte sie. „Ihr seid so viel besser als ich!“ Diesen Liebesdienst würde sie nie bezahlen können! Doch Osta und Westa zogen sie schon hoch und sie verließen gemeinsam den Norden. Ihr Weg führte in den Süden, neuen Abenteuern entgegen. Das Leben würde nicht einfach so weitergehen, das war eine Lüge. Der Schmerz würde noch eine Weile andauern. Dennoch wusste Alita: Sie hatte noch Freunde. Wunderbare Freunde, die sie in ihrer dunkelsten Stunde nicht im Stich gelassen hatten. Und das ließ ihr Leben schon viel erträglicher werden.

Wahre Freundschaft ist ein unverdientes Geschenk.

 

 

 

 

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.