Schülerwettbewerb

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Ich fürchte mich nicht!
Ausgabe Nr. 2772

Das Brukenthalgymnasium. Foto: Beatrice UNGAR

Für ihre Ergebnisse bei der diesjährigen Landesphase des Schülerwettbewerbs im Fach Deutsch als Muttersprache haben drei Schülerinnen vom Samuel von Brukenthal-Gymnasium je ein HZ-Jahresabonnement als Sonderpreis erhalten. Es handelt sich um die Achtklässlerin Sara-Maria Marin, die Neuntklässlerin Ada Cristian und die Zehntklässlerin Paula Dörr. In dieser Ausgabe lesen Sie den Aufsatz von Ada Cristian, die den ersten Preis gewonnen hat,  zum  Zitat von Cornelia Funke ,,Manchmal denke ich, Angst ist die Ursache allen Unglücks“:

Die Klasse 9A ist eine sehr komplexe Gemeinschaft. Schüler unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Herkunft treffen hier aufeinander. Vor allem ist es eine Klasse, auf die ich großen Einfluss habe.

Nehmen wir zum Beispiel Hans. Er ist ein kleiner, schlaksiger Junge, mit wuscheligem, blondem Haar und einer hohen Stimme. Wenn ihn Ferdinand und seine Bande belästigen, gegen die Wand schubsen und ihm ins Gesicht schlagen, ist es lächerlich einfach, seine Wirbelsäule hinaufzukriechen und ihm eine Gänsehaut zu bescheren. Wenn Ferdinand nach der Schule spöttisch lächelnd auf ihn zukommt, während seine Freunde den zappelnden Hans festhalten, langweile ich mich fast. Der kleine ist einfach zu leicht zu manipulieren! Er zeigt keine noch so winzige Spur von Widerstand. Auf Dauer, könnt ihr euch vorstellen, habe ich diese Eintönigkeit auch mal satt.

Aber Ferdinand, oh, Ferdinand! Der ist da schon komplizierter gestrickt. In der Schule mag er so stark und herzlos erscheinen, aber es gibt eine Seite an ihm, eine verletzbare, die nur zum Vorschein kommt, wenn er sich in den Schlaf weint. Es ist lustig, sogar wenn sein Vater ihn anbrüllt und ihm blaue Flecken auf seinen Wangenknochen hinterlässt, versucht er noch, seine Stärke vorzutäuschen. Aber ich bin immer bei ihm, wie ein treuer Freund. Das bemerke ich an seinem schnell klopfenden Herz, an den Schweißperlen, die auf seiner Stirn glitzern, und an seinem knackenden Kiefer, wenn er seine Zähne fest zusammenbeißt. Seine Mutter steht in einer Ecke wie ein Häufchen Elend und wimmert gelegentlich. „Warum tut sie nichts?“, fragt sich Ferdinand. Wut und Enttäuschung schwingen in seinen Gedanken mit. „Sie habe ich schon lange im Griff“, murmele ich ihm lächelnd zu. In der Schule krieche ich in Ferdinands Kopf, lasse ihn all das Schreckliche noch einmal durchleben und sporne ihn an, seinen Mitschülern zu zeigen, dass er nicht schwach ist, dass er nicht klein und hilflos ist, sondern stark, mächtig. Andere herunterzumachen, sogar zu schlagen, hilft ihm dabei. Er merkt gar nicht, dass er genau wie sein Vater wird, dass er andere fühlen lässt, was er in diesen grausamen Nächten empfindet. Es ist schon komisch, dass ich die Ursache von Ferdinands Unglück bin, was wiederum der Grund von Hans‘ Angst ist. Ich liebe diese Kettenreaktion! Ein einziges Kind, das mir den Einfluss auf so viele mehr erlaubt! Eine solche Kettenreaktion konnte ich vor einiger Zeit auch bei Michaela erkennen. Als junges Mädchen hatte sie ihre Mutter verloren, was ich gerne auszunutzen verstand. Manchmal gehe ich zum Spaß spätabends zu ihr nach Hause, wenn sie schon schläft. Ich schleiche unter ihre Bettdecke, lasse sie frösteln und flüstere ihr teuflisch zu: „Du wirst allein auf dieser Welt bleiben. All diejenigen, die du liebst, werden umkommen und all deine Freunde werden dich verlassen. Du wirst einsam sterben“.  Dann wacht sie mit schreckgeweiteten Augen und rasendem Herzen auf und ich lächle stolz in mich hinein. In der Schule schließt sie sich der beliebtesten Mädchenclique an. Das sind die Mädchen, die rauchen und trinken und andere hänseln. Michaela erinnert sich daran, was ich ihr nachts zuwispere, und raucht und trinkt auch, selbst wenn es in ihrer Kehle brennt und es sie husten lässt. Sie möchte einfach nur dazugehören. Manchmal, in Michaelas dunkelsten Stunden, habe ich einen so großen Einfluss auf sie, dass sie einige ihrer Mitschüler verbal verletzt. Einmal ging sie an Sophie vorbei, die ein etwas molligeres Mädchen ist, und zischte ihr zu: „Du fette Kuh, ich frage mich, wie du überhaupt durch die Tür passt.“ Sophie, ein ruhiges Mädchen, das immer freundlich zu allen gewesen ist, lief mit feuchten Augen an Michaela vorbei. Michaela fühlte sich schlecht, natürlich, aber die anerkennenden Blicke ihrer Clique waren es wert. Oder? Sie möchte ja nur dazugehören und den Gedanken, ihre Freudinnen zu verlieren, selbst wenn es schlechte sind, kann sie nicht ausstehen.

Gott, ich liebe diese Klasse! Alle sind so klein, so unschuldig, so leicht zu beeinflussen. Ihre von Unsicherheit geprägten Gedanken sind so leicht zu infiltrieren, dass es beinahe lächerlich ist. Ihre Abwehr, ihr Widerstand sind lächerlich schwach. Sie bieten mir so viele Möglichkeiten an, sie ängstlich und unglücklich zu machen. Ich fühle mich wie im Paradies. Nach einiger Zeit langweile ich mich schon wieder. Meine treuen Kunden habe ich wie immer fest im Griff, aber ich möchte auch Neues ausprobieren, jemanden beherrschen, bis er das Gefühl hat, er kann nicht mehr atmen. Seit ein paar Wochen habe ich bereits ein Auge auf Louisa geworfen. Sie ist ein offenes Kind, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Nach einigen Nachforschungen habe ich erfahren, dass sie gute Freunde und Eltern hat, die sie lieb haben und in allem unterstützen. Sie könnte eine Herausforderung darstellen, aber ich bin mir sicher, dass ich auch sie knacken werde. Schließlich habe ich es bisher immer geschafft.

Louisa will Schriftstellerin werden, sie liest gerne und schreibt Geschichten, seit sie acht Jahre alt ist. Hier setzt mein Plan an. An einem regnerischen Nachmittag gehe ich zu ihr nach Hause. Ich versuche gar nicht zu klopfen, ich weiß, dass ich nie willkommen sein werde. Sie schreibt gerade an einer Rede, die sie als Klassenbeste in einigen Tagen  vor der ganzen Schule halten wird. Ich setze mich neben sie, linse ihr über die Schulter und lese den fast fertigen Text durch. Dann beuge ich mich an ihr Ohr und raune ihr zu: „Was glaubst du eigentlich, was du da machst? Du wirst vor der ganzen Schule stehen, und das da willst du ihnen sagen? Merkst du nicht, dass das kompletter Müll ist?“ Ihre Hände beginnen zu zittern und sie schließt gequält die Augen. Ich grinse triumphierend vor mich hin. Dann aber öffnet Louisa die Augen, sieht mich entschlossen an und sagt laut: „Nein! Meine Rede ist gut und jetzt raus aus meinem Kopf!“ Ich bin so verdattert, dass ich hinausgehe, ohne es eigentlich vorzuhaben. Noch nie hat jemand direkt mit mir gesprochen. Ich habe Louisa unterschätzt, sie ist stärker, als ich gedacht habe, aber ich werde sie schon brechen. Das nächste Mal, als ich zu ihr gehe, ist das genau vor ihrer Rede. Sie bereitet an dem Pult auf einer Bühne im Sportsaal ihre Karteikarten vor, als ich mich hinter sie schleiche. Ich werde auf den passenden Moment warten und sie vernichten.

Als der Vorhang aufgeht, zische ich boshaft: „Die ganze Schule schaut dich an. Du wirst dich lächerlich machen“. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern. „Deine Rede taugt nichts. Nur Schrott. Du schaffst das nicht!“, fahre ich fort. Ihr Atmen ist abgehackt und ihre Stirn glänzt. Sie schaut sich unsicher um. Ihr Blick landet auf ihren Eltern, die sie aufmunternd anlächeln. Louisa rafft sich zusammen, stellt sich gerade hin, zischt mir zu: „Fahr zur Hölle, Angst!“ und fängt mit ihrer Rede an. Ihre Stimme zittert am Anfang, aber mit der Zeit wird sie selbstbewusster, bis ihre Worte durch den ganzen Saal hallen.

„Wir haben ein schweres Jahr hinter uns. Wir haben uns erst dieses Jahr kennengelernt und schon gibt es Grüppchen, Cliquen, die einander anscheinend hassen. Wir wurden schon mit Mobbing konfrontiert, mit verbalen und sogar physischen Angriffen, gegen die wir kaum etwas ausrichten können. Deswegen möchte ich eine Botschaft an meine Mitschüler weitergeben, eigentlich an alle, die in diesem Saal anwesend sind: Lasst die Angst nicht die Oberhand gewinnen! Seid mutig und stellt euch eurer Furcht! Es ist menschlich, Angst zu haben, wichtig ist, dass wir ihr nicht erlauben, uns zu vernichten. Hass kann man mit Liebe besiegen. Denn Angst führt zu Hass und Hass führt zu Unglück. Seid der bessere Mensch, helft anderen, denn gemeinsam sind wir stark, gemeinsam können wir sogar die Angst besiegen! Ich glaube an euch, an uns! Danke.“

Donnernder Applaus erfüllt die Halle und ich fühle mich so fehl am Platz wie noch nie, weswegen ich lautlos von dort verschwinde. Manchmal besuche ich noch die 9A, aber ihre Abwehr ist beinahe undurchdringbar. Sie sind zusammengeschweißt, nicht alle sind mit allen befreundet, aber es ist ein Anfang. Und irgendwie … macht es mich glücklich, sie so zu sehen.


Berichtigung

Im Zusammenhang mit dem in der HZ Nr. 2771 vom 27. Mai 2022 veröffentlichten Aufsatz von Sara-Maria Marin sind uns bedauerliche Fehler unterlaufen: Sie ist Schülerin der 8. Klasse am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium und nicht der 7. Klasse. Folglich passte auch das Foto, zu dem sie bei der Olympiade den Aufsatz geschrieben hat, nicht. Das richtige Foto ist links abgebildet. Die Aufgabe dazu lautete: ,,Schreibe die Geschichte weiter. Finde eine passende Überschrift: Im nächsten Augenblick kommt ein Mann durch die Tür und schneidet die Rose ab. Wer ist er? Warum tut er das? …

 

 

 

 

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.