Ich, Du und Wir alle in you-tópia

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Premiere an der deutschen Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters

Ausgabe Nr. 2745

Ein Gesamtkunstwerk: Die neueste Premiere der deutschen Abteilung des Radu Stanca-Nationatheaters mit ,,you-tópia“, die am Sonntag, den 24. Oktober, stattgefunden hat,  kann als ein Gesamtkunstwerk bezeichnet werden.  Unser Bild: Szenenfoto mit Emőke Boldizsár als Marktschreierin im Vordergrund.                               Foto: Sebastian MARCOVICI

Starr wie Statuen stehen die Schauspieler der Deutschen Abteilung des Hermannstädter Radu Stanca-Nationaltheaters auf der Bühne, hinter ihnen sind weiße, minimalistisch anmutende Stellmodule platziert, auf den hellen, monochromen Kostüme flimmern Videopixel. Alle warten gespannt auf den Beginn der Premiere von ,,you-tópia“, ein Projekt, das Text mit Tanz, Performance und Musik vereint und eine Kollaboration zwischen in Rumänien und in deutschsprachigen Teilen Europas arbeitenden Künstlern ist.

Zitate avantgardistischer und zeitgenössischer Lyrik begleiten thematisch die verschiedenen Tableaus des Abends. Sie handeln vom Zerfall unserer Welt und deren Subjekten, von der verzweifelten Suche des Menschen nach sich selbst und seinem Sinn in ihr.

Zwischen Tragik und Komik oszillieren die Szenen, die teilweise an die Filme von Roy Anderson oder Erwin Wurms One Minute Sculptures erinnern. So bilden zwei junge Darstellerinnen beispielsweise in einer Szene mit ihren Haaren einen Vorhang, durch den ihre Hände neugierig durchschauen, während sich ihre schmalen Körper zu Stroboskop-licht und lauten Gitarrenriffen synchron winden wie kleine Ungeheuer, oder eine andere Schauspielerin durch eine Mischung aus minimalistischen Sprechlauten und Slapstick die Absurdität aktueller öffentlich gehaltener Diskurse aufzeigt.

Anfangs mag man sich fragen, wie sich das Ganze wohl entfaltet, was passieren wird, ob einem endlich etwas erzählt wird. Wenn man sich jedoch darauf einlässt, was gerade geschieht, hat man die Möglichkeit, anders zu sehen und neue Aspekte zu entdecken, die Theater ebenso ausmachen, wie die Moral oder Bedeutung dessen, was gezeigt wird. Man hat die Möglichkeit, die Plastizität der pastellfarbigen Kostüme zu betrachten, die sich geschmeidig an die Bewegungen der Schauspieler anpassen, das pfirsichfarbene Licht zu genießen, das deren Haut warm umhüllt, und die Musik zu spüren, die von Marin Grigore und Vlad Robaș eigens für ,,you-tópia“ komponiert worden ist und die Inszenierung dezent trägt.

Vermummt und gefangen: Richtig ausprobiert, ja geradezu ausgereizt, haben die Schauspielerinnen und Schauspieler die Plastizität der Kostüme, die sich geschmeidig an die Bewegungen anpassten, als sie versuchten, ihre Gesichter damit zu vermummen und sich darin verfingen. Foto: Sebastian MARCOVICI

Es ist lange her, dass ich so etwas wie ein Gesamtkunstwerk gesehen habe, in dem jeder Teil auch für sich stehen könnte und doch so perfekt auf alle anderen Teile abgestimmt ist und im Ganzen ein Erlebnis für die Sinne herstellt.

Obwohl die Schauspieler keine ausgebildeten Tänzer sind, lebt die Inszenierung von deren Körperlichkeit, und der Interaktion ihrer Körper, von Gesten, Zitaten und einer physischen Energie, die man nicht ignorieren kann, denn ihre starke Präsenz erzeugt ein so gewaltiges Gefühl von Gegenwart, dass es einem den Atem verschlägt.

Später, nach der Vorstellung, erfahre ich von einer der Schauspielerinnen, dass sie und ihre Kollegen viel selbst improvisiert haben, sich Sachen überlegten oder anfingen, herumzuexperimentieren und dass diese Experimente das Fundament bildeten, anstatt andersherum, wie sie das sonst oft gewohnt waren. Es wurde ihnen Raum gegeben, sich auszuprobieren, um etwas in ihnen zu finden, das sie zeigen wollen.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem, was dem Zuschauer angeboten wird. Wer hier akribisch nach Gewissheit, Sinn und Antworten sucht, mag enttäuscht werden, aber ist dieses Symptom fehlender Sinnhaftigkeit denn nicht auch kennzeichnend für die Zeit, in der wir leben? Ein Status Quo, den Kunst durch ihre Mittel versucht, auszudrücken, um damit Analogien zu einer gewissen Lebensrealität zu schaffen.

,,Wir versuchen (..) die Grenzen der Wahrnehmung in unbekannte, subtile Terrains zu schieben, die uns neue Perspektiven eröffnet über den Status der Menschheit in einer Zeit des Globalismus, der Sklaverei, in einer Welt der Maschinen. Während wir immer mehr vom Virtuellen vereinnahmt werden,  kommen unsere natürlichen Ressourcen an ihre Grenzen und scheinen bald zu verschwinden. Die Frage, die wir stellen wollen, ist: Ist uns wohl  noch ein Rest gesunder Existenz übrig geblieben, in die wir uns aus dieser kranken Gesellschaft flüchten können um so der göttlichen Schöpfung näher zu kommen?”, so Regisseur Florian von Hoermann über ,,you-tópia“.

Zusammen mit der in Berlin lebenden dänischen Choreografin Edith Buttingsrud Pedersen und den Schauspielern der deutschen Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters arbeitete er eineinhalb Monate lang intensiv in Hermannstadt an der Inszenierung, die einen weiteren geglückten Versuch darstellt, hier lebende Theaterbesucher aus gewohnten Seh- und Rezeptionsmustern herauszulocken.

Wer die Premiere von ,,you-tópia“ nicht miterleben konnte, sollte sich die sehr sehenswerte Inszenierung unbedingt bei nächster Gelegenheit anschauen. Vielleicht sieht man ja sogar die Welt und sich selbst danach mit anderen Augen, denn wenn das Theater tatsächlich etwas mit einem kathartischen Moment zu tun hat, dann spürt man ihn hier definitiv.

Pia IONESCU-LIEHN

 

Das „you-tópia”-Team

Regie:

Florian von Hoermann

Choreographie:

Edith Buttingsrud Pedersen

Regieassistenz:

Marcus Hinterberger

Bühnenbild:

Előd Golicza

Kostüme:

Zsófia Gábor

Musik:

Marin Grigore, Vlad Robaș

Video mapping:

Dan Basu

Übersetzungen aus dem

Rumänischen:

Elise Wilk

Es spielen:

Johanna Adam, Emőke Boldizsár, Yannick Becker, Daniel Plier,

Fabiola Petri, Lukas Redemann, Benedikt Häfner, Ana Tiepac, Ștefan Tunsoiu, Eva Frățilă,

Patrick Imbrescu, Daniel Bucher.

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Theater.