Die 27. Auflage des Hermannstädter Theaterfestivals dauert noch bis Sonntag
Ausgabe Nr. 2677
Kein Theaterfestival gleicht dem anderen. Die Organisatoren versuchen jedes Jahr, neue Herausforderungen an das Hermannstädter Publikum zu bringen.
Doch wie dieses Jahr war es noch nie. Heuer findet nämlich wegen der Coronavirus-Krise die 27. Auflage des Hermannstädter Internationalen Theaterfestivals komplett online statt. Begonnen hat es am Freitag, dem 12. Juni und dauert bis am Sonntag, dem 21. Juni. Wie in den vergangenen Jahren stehen auch diesmal Theater, Tanz, Oper, Zirkus, Konzerte, Filme und Gespräche im Vordergrund, bloß ist alles diesmal kostenlos und einen Mausklick entfernt.
„Es ist schön, aber es kann das Gefühl und die Atmosphäre im Theatersaal nicht ersetzen“, schrieb eine Facebook-Nutzerin als Kommentar während der Übertragung eines Theaterstücks. Die Zuschauerzahlen schwankten diese Tage zwischen 50 und 300 pro Event, wobei es anders als im Theatersaal ein Kommen und Gehen war. Diesmal kann sich wenigstens niemand beklagen, dass dieses oder jenes Theaterstück ausverkauft war oder dass das Handy des Nachbarn mitten im Stück klingelte. Und das Wetter spielt auch keine so große Rolle mehr: Der Dauerregen, der gerade seit zwei Wochen über Hermannstadt und Rumänien wütet, stört weder Schauspieler noch Zuschauer und am wenigsten die Organisatoren. Man muss als Zuschauer nur genügend Sitzfleisch und eine gute Internetverbindung haben, um sich die ganzen Vorstellungen anzusehen.
Begonnen hat das Internationale Theaterfestival unter dem Motto „Die Macht zu glauben“ am Freitag, dem 12. Juni, um 12 Uhr mit dem Theaterstück „After The Battle“ (Nach der Schlacht) von Pippo Delbono. Letzterer berührte die Zuschauer auch letztes Jahr in der Faust-Halle, als er mit „La gioia“ (Die Freude) experimentelles Theater vorstellte. Der Italiener Pippo Delbono ist dafür bekannt, die Regeln der Theaterwelt zu brechen. Auf seiner Bühne vereinen sich Tanz, Musik, der Pathos des gesprochenen Wortes und der Film. Auf seiner Bühne steht er selber zusammen mit scheinbar normalen, teils von der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen, wie der am Down-Syndrom leidende Gianluca Ballarè oder Bobó, dem taubstummen und mikrozephalen Freund und Künstler und einigen Schauspielern. Auch dieses Jahr erlebten die Zuschauer eine opulente Schau voller Poesie und Pathos, eine Mischung zwischen Kabarett und Burleske.
Klassisch ging es im Programm am Freitagnachmittag weiter mit „Adriana Lecouvreur“, der Oper in vier Akten von Francesco Cilea, dargeboten von dem Royal Opera House. In der Hauptrolle konnte man die rumänische Sopranistin Angela Gheorghiu bewundern. Nicht nur sie, sondern alle Sängerinnen und Sänger erbrachten eine erstaunliche und köstliche schauspielerische Leistung.
Der Höhepunkt des Wochenendes war die Ausstrahlung der fünfeinhalb-stündigen Vorstellung „Brüder und Schwestern“, von Fjodor Abramow, die am Freitag und Samstag online zu sehen war. Die legendäre Inszenierung des Regisseuren Lew Dodin am Maly Drama Theater vom harten Kolchosleben in Nordrussland zu Ende des Zweiten Weltkriegs hat auch jetzt nichts an Spannung und Wucht verloren. Das Geheimnis des Stücks liegt in der Wahrhaftigkeit der Figuren: Jeder Dörfler ist wie aus dem Leben gegriffen. Die Kolchosvorsitzende Anfissa muss ihre hart schuftenden Frauen auf bessere Zeiten vertrösten: „Haltet durch, nach dem Krieg werden wir uns satt essen!“ Der Bauernbursche Mischa arbeitet unverdrossen für seine Mutter, die kleinen Geschwister, das ganze Dorf, doch er wird um die Liebe seines Lebens gebracht. Nach dem Krieg, dem großen Sieg, kehren die wenigen Männer zurück, versehrt an Leib und Seele. Unerbittlich presst der Staat den Bauern weiterhin Holz, Getreide und das letzte Geld ab zum Aufbau des Kommunismus. Der Hunger bleibt.
Bei der Premiere 1985 war „Brüder und Schwestern“ eine Sensation, ein Vorbote der Veränderungen in der Sowjetunion. Noch nie war das Leid sowjetischer Bauern so klar gezeigt worden. Auch heute war das Stück immer noch sehenswert, das bewiesen über 300 Zuschauer im Internet.
Am Sonntag, dem 14. Juni, konnte man einen weiteren Klassiker der Weltliteratur erleben: Anton Tschechows „Der Heiratsantrag“ wurde von dem Nationaltheater „Satiricul Ion Luca Caragiale“ auf die Bühne gebracht. In der Regie von Alexandru Grecu werden parallel auf der Bühne eine Kombination aus den Einaktern „Der Heiratsantrag“ und „Der Bär“ von Tschechow gespielt. Beide Stücke handeln von der Beziehung zwischen Mann und Frau und haben somit nichts an Aktualität verloren. Das Publikum unterhielt sich großartig und lachte oft und ungehalten.
Von Tschechow waren übrigens noch drei Stücke im Programm: zwei Mal „Drei Schwestern“ von verschiedenen Ensembles aufgeführt und einmal „Der Kirschgarten“.
Die Variante in deutscher Sprache der „Drei Schwestern“ in der Regie des berühmten Peter Stein wurde am Dienstagabend, dem 16. Juni, online gezeigt. Das Stück wurde 1984 von den Schauspielern der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin aufgeführt, in den Hauptrollen Corina Kirchhoff als Irina, Edith Clever als Olga und Jutta Lampe als Mascha. Dreieinhalb Stunden konnte man die legendäre Verfilmung erleben, in der die drei Schwestern aus einer Welt der Stagnation und Perspektivlosigkeit ausbrechen wollen. Nur etwas stimmte an den Raum-Zeit-Koordinaten nicht. Tschechows Figuren müssen in einer Stadt und in einer Zeit leben, in der ihr Glück unrealisierbar scheint. Aber beides gleichzeitig zu begreifen, wäre für ihre Seelen zu viel: Deshalb begrüßen Olga, Mascha und Irina den Oberstleutnant Alexander Werschinin ganz herzlich, als der aus ihrer geliebten Heimat Moskau zu Besuch kommt, und erwarten hoffnungsvoll den Bericht von einem schönen Leben am richtigen Ort. Der aber kann nur von der Leere und Enttäuschung berichten, die er in der Rolle des Familienvaters erlebt. Unglücklich sind die drei Hauptgestalten bis zum Schluss, sie sind nicht in der Lage, sich aus der Atmosphäre müder Antriebslosigkeit herauszureißen.
Ein Höhepunkt des ersten Festivalwochenendes war die Ausstrahlung des Theaterstücks „Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada in zwei Teilen, am Sonntag und Montagabend. Unter der Regie von Luk Perceval konnte man den Schauspielern des Thalia Theaters Hamburg zusehen, wie sie in ihren Rollen brillierten.
„Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet!“ – mit diesem Satz auf einer Postkarte beginnt der ungewöhnliche, leise Widerstand des einfachen Arbeiterpaares Quangel während des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Fallada erzählt deren Geschichte, die nach dem Kriegstod des Sohnes mit einfachsten Mitteln den Kampf gegen die Maschinerie des Nazistaates aufnehmen. Über 200 handgeschriebene Postkarten und Briefe, abgelegt auf Treppen und Hausfluren willkürlich ausgesuchter Wohnhäuser, verteilt das Paar in den Jahren 1940 bis 1942.
Die Inszenierung, in welcher die Handlungsstränge sich nahtlos aneinanderreihen, schildert sehr eindringlich die miteinander verwobenen Schicksale einer Reihe von Personen. Alle leben im Umfeld der Quangels oder sie sind mehr oder minder durch die Postkartenaktion betroffen. Es wird ein Berlin im Kriegszustand gezeigt, dem sich kein Haushalt entziehen kann – auch der des stillen, dem Nazi-Regime angepasst lebenden Ehepaars Anna (Oda Thormeyer) und Otto Quangel (Thomas Niehaus) nicht. Percevals wundervolles Schauspieler-Ensemble versteht es, Stille, Verletztheit, Nachdenklichkeit oder Zynismus und Brutalität ebenso meisterhaft darzustellen wie ins Groteske gesteigerte Komik. Besonders überzeugend ist André Szymanskis Darstellung des Kriminalkommissars Escherich, mehr karrierebewusster Mitläufer als glühender Nazi. Der Roman von Hans Fallada basiert auf dem authentischen Fall des Ehepaars Otto und Elise Hampel, das 1940 bis 1942 in Berlin Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte und denunziert worden war. Der Roman gilt als das erste Buch eines deutschen nicht-emigrierten Schriftstellers über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Viel heiterer ging es am Montagmittag zu, als die Komödie „Familie Tót“ von István Örkény, in der Regie von Alexandru Cozub, gezeigt wurde. Die Moldauer Schauspieler des „Mihai Eminescu“-Theaters verkörperten die Familie des ehrenwerten Feuerwehrhauptmanns Lájos Tót, die sehnsüchtig die Rückkehr des geliebten Sohnes von der Front erwartet. Doch stattdessen besucht sie sein Vorgesetzter – der Major – zur Erholung von den psychischen Strapazen des gnadenlosen Kriegs. Die Tóts stimmen zu, den Major für zwei Wochen bei sich in ländlicher Idylle aufzunehmen, für ihn zu sorgen, ihn zu pflegen und ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Denn die Hoffnung, er würde danach den Sohn aus Dankbarkeit von der Front in eine sichere Schreibstube versetzen, beflügelt die Familie zu untertänigsten Diensten. Es sind ja „nur“ zwei Wochen, doch der Major will und will sich nicht zufrieden zeigen. Schikanöse Machtausübung einerseits und Unterwürfigkeit auf der anderen Seite werden satirisch zugespitzt gespielt.
Während des Theaterfestivals überraschte das „Radu Stanca“-Theater mit der ersten Mini-Serie des Film-Theaters „Autobahn“ von Neil LaBute. Täglich wird um 12 Uhr eine der sieben Episoden der Serie in der Regie von Andrei und Andreea Grosu gezeigt. Die 20-35-minütigen Episoden haben eines gemeinsam: Deren Handlung spielt sich im Auto ab. Es spielen die Schauspieler des Hermannstädter Theaters Cendana Trifan, Gabriela Pîrlițeanu, Horia Fedorca, Adrian Matioc, Raluca Iani, Ofelia Popii, Ciprian Scurtea, Marius Turdeanu, Viorel Rață, Adrian Neacșu, Cezara Crețu, Diana Văcaru-Lazăr, Mihai Coman und Iustinian Turcu.
Über 180.000 Menschen haben sich am Wochenende Vorstellungen aus dem Programm des Theaterfestivals angesehen. Das Festival geht bis Sonntag, dem 21. Juni weiter und alle Programmpunkte sind kostenlos auf der Webseite https://www.sibfest.ro/fits-online zu erleben. Cynthia PINTER