Kulturgeschichtliche Vermutungen

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Zu Joachim Wittstocks Erzählung ,,Die dalmatinische Friedenskönigin“

Ausgabe Nr. 2669

Joachim Wittstock: Die dalmatinische Friedenskönigin. Zwei Erzählungen aus südöstlichem Zeitgeschehen. Skarabæus-Verlag, Innsbruck, 1997, 132 Seiten, ISBN: 978-3706621427.

Die Erzählung ,,Die dalmatinische Friedenskönigin“ von Joachim Wittstock ist ein wenig rezipiertes, jedoch ein für die neuere Geschichte des Balkans sehr aufschlussreiches novellistisches Produkt der Wittstockschen Erzählkunst, dessen historische und kunstgeschichtlichen Zusammenhänge hier erläutert werden.

Der Terminus und Brennpunkt der Servituten wird anhand von Beispielen in der Erzählung erklärt und beleuchtet. Es kommt zu handgreiflichen Aggressionen zwischen Minderheiten und Mehrheit der kroatischen Küsten-Kleinstadt. Einzelschicksalen wird ebenso nachgespürt wie Landschaften und Gebäuden.

Der Ich-Erzähler behält seinen Standpunkt zwischen innerer Abgeschiedenheit und Distanz und daraus resultiert eine spannende Erzählung über einen Sommerurlaub auf der Insel Hvar (lateinisch Pharina, italienisch Lesina, in der Antike griechisch Pharos) in der Adria vor der dalmatinischen Küste, nach dem Modell der großen deutschen Urlaubsliteratur.

 

Die Erzählung „Die dalmatinische Friedenskönigin“ beruht auf einer erlebten Urlaubszeit im benachbarten Jugoslawien in einer Zeit, die den herannahenden Bürgerkrieg schon voraus ahnen lässt, wenn die Erzählung auch bekannterweise fiktionale Teile enthält, die der Autor als solche kennzeichnet und sie in einer realitätsnahen Einbettung darlegt.

Ehrlich und suggestiv geht der Ich-Erzähler vor, um die Aufmerksamkeit seiner Leser zu fesseln: Er bekennt seine Neugier dem unbekannten Landstrich an der kroatischen Küstengebiet gegenüber, die einen von Anfang bis Ende nicht loslässt. Begleitet von seinen Miturlauberinnen, die Familienangehörige sind, oder allein stellt er auf allerlei Erkundungen Beobachtungen an, die er dann mit seinem Gastgeber, Herr Matic im Gespräch reflektiert. Die Personen gliedern sich in Urlauber und Ortsansässige, sogenannte Eingeweihte, zu denen sich im letzten Kapitel noch Flüchtlinge gesellen werden. Was dem Leser dabei besonders schockierend auffällt, sind die sogenannten Servituten, die Ortsansässige belieben mit Waffengewalt zu verteidigen, sobald ein Fremder sich den unbefugt nicht zu betretenden Objekten in der Landschaft naht:

Es hatten sich wie allerorts, zahllose Servituten eingebürgert. Solange man sie respektierte, war es nur wenig bedenklich, dass es Gewehre über Gewehre gibt und niemand eine Übersicht haben kann, wieviele Pistolen oder Revolver in Privatbesitz sind und verwendet werden. Aber dann hat den Leuten diese Ordnung nicht mehr zugesagt, sie wurde aufgegeben, und das hat schon Hunderten das Leben gekostet…, schlussfolgert Wittstocks Ich-Erzähler am Ende der Erzählung, wobei diese Servituten, vor Gebäudeteilen, Hofteilen, Wegabschnitten und selbst dem Friedhof keinen Halt machen.

Ein Blick in die Geschichte dieser Region erlaubt eine Erklärung dieses dort so normalen Verhaltens:

Die Militärgrenze (lateinisch confinium militare oder kroatisch vojna  krajina)  bezeichnet eine strategische Abwehrgrenzlinie zwischen dem osmanischen Nachbarn vom Südbalkan und Österreich-Ungarn von 1435 unter König Sigismund (dem Gründer des Drachenordens, dessen Orden auch in Rumänien unter Vlad dem Pfähler wirksam war) bis ins 19. Jahrhundert, die sich über eine Länge von 1.850 km erstreckte. Eine wichtige Rolle im Abwehrkampf gegen die Osmanen hatten verschiedene Grenzmarken, von denen der Badekurort an der Küste in der Erzählung einer zu sein scheint. Das Ganze ergab ein Abwehrsystem im Ausnahmezustand mit dem Zentrum in Pannonien, wo Truppen und Bewaffnung an der Tagesordnung waren in einem Ausmaß, wie wir uns das heute nur unter dem Zeichen des Bürgerkrieges in Jugoslawien ausmalen können.

Wie kam es jedoch zu einem so blutigen Bürgerkrieg, von dem die Erzählung einzelne schicksalhafte Momente deutlich erkennen lässt.

Um das eingegrenzte Gebiet wehrbar zu machen, siedelten die ungarischen Herrscher beginnend mit Matthias Corvinus bosnische Wehrbauern inmitten einer kroatischen Mehrheitsbevolkerung an, quasi als Söldnerheere, die das Minderheitenproblem unter Bewaffnung nur akut werden lassen sollten. Vereinend sollte der gemeinsame Feind gelten: die muslimischen Osmanen. Jedoch ergab sich unter der Völkervermischung bis heute kein Konsens. Auch militärisch war diese Maßnahme wenig effektiv, da die Osmanen 1529 den Verteidungs-Wall durchbrachen, Buda eroberten, bis Wien vordrangen und allerorts Verwüstung anrichteten.

Die Friedenskönigin lebt nur im Herzen ihrer Hauptfiguren als Madonna, wenn sie auch im kleinen Gotteshaus der Gemeinde eine Statue besitzt. Wittstock nennt sie lateinisch: Maria – Regina della Pace, wenn er sich auch nicht zum praktizierenden Marienkult zählt. In Bulgarien ist der Marienkult als Stella maris bekannt, hingegen verehren sie die katholischen Kroaten als Friedensbringerin unter Heiden und Gläubigen, da die Mutter Gottes im Erlöser die Versöhnung für Seelenleben und Ewigkeit zur Welt gebracht hat.

Die Frage, die sich der Leser im Verlauf der Handlung stellt, inwiefern diese Versöhnung und das Heil auch im weltlichen und politischen Zugriff Einfluss auf das Leben des Einzelnen hat, zumal die Zeilen mit Handlungssträngen übersät sind, hinter denen die kriegerischen Absichten und Übergriffe einzelner unbekannter Täter stehen. Geschossen wird aus dem Hinterhalt, wobei die Marienfigur eine gewisse Schutzfunktion oder einen Symbolgehalt innehat. Spannend bis zuletzt bleibt die Situation der Kurgäste: Sie müssen häufig in Deckung gehen, werden nur zum Teil über die ortsüblichen Zusammenhänge und Gegebenheiten informiert, reisen aber nicht vorzeitig ab. Ihr Nachtquartier wird am Ende der Erzählung einer Flüchtlingsfamilie überlassen, mit denen sie sich auch anfreunden. Soziale Offenheit stößt aber nur zum Teil auf gegenseitiges Vertrauen.

Vielleicht muss man tiefer forschen: Maria wurde nach der Konstantinischen Wende von 313 n. Chr. von der griechischen und byzantinischen Theologie leicht als Nachfolgerin antiker Gottheiten angenommen und gilt in dieser Erzählung als Nachfolgerin der Friedensgottheit Irene, einer Tochter der Weisheit, Sophia.  Die Kirche, die Maria geweiht ist als Topos der Umkämpftheit und Ort der seelischen Sammlung, wo Kurgast und Ortsansässige vor der Himmelskönigin beten, oder sie zumindest meditativ betrachten, eine Zufluchtsstätte, ein Axis mundi. Der Erzähler stößt nicht auf leere Formen des Kultus, er beschreibt keine Ikonographie, sondern gibt sich seinen inneren Gedankengängen hin – setzt sich spontan mit Ihr selbst auseinander – ja, findet seinen inneren Weg zwischen Zweifel und verinnerlichtem Gottvertrauen, findet innere Sammlung in einem heiß umkämpften Gebiet.

Sprachlich befindet man sich mit Joachim Wittstock auf der Ebene der Gegenwartssprache. Er gibt viele Gedächtnisströme wieder, es entwickeln sich Dialoge, man findet als Leser Zugang zu den unterschiedlichen Gestalten des Ortes und ihrer Gegenwart. Fiktiv ist die Liebesbeziehung zwischen Miroslav und Vera, Realitätsnähe finden wir in allen anderen Dialogen und Gruppengesprächen der Touristen. Auch die Spannung zwischen deutlich markierter Fiktion und Gegenwartsbezug führt den Leser in die reiche Innenwelt des Ich-Erzählers ein, der anhand von imaginären Charakteren die gefühlsgeladene Atmosphäre der Bewohner des Landstrichs und ihre subjektive Wirkung episch zu erläutern sucht.

Auf morphologischer Ebene möchte ich noch folgenden Topos anführen, eine Personifizierung: „Gedanken spazieren gehen lassen“ – das ist es, wozu Wittstock seinen Leser einlädt und ihn damit auffordert, ein Nachbarland kennenzulernen, das nicht nur exotisch ist, sondern auch dramatisch umkämpft, heiß geliebt und verteidigt werden will.

Die Friedenskönigin, als emblematische Figur mit Signalfunktion, ermöglicht dem Ich-Erzähler einen äußeren Ort zu finden, wo Spannungen innerlich abgelegt und verarbeitet werden, sie bietet ihm Schutz, Vertikalität und Ausrichtung inmitten von Hass, Kampf, Unruhe und politischem Durcheinander – einen Topos innerer Freiheit, abgeschottet vom Druck der äußeren Umstände. Als Urlaubsziel erreicht der Erzähler nicht nur eine geglättete Horizonterweiterung, sondern einen Ort, wo althergebrachte Ordnungen zwar bitter umkämpft, aber dennoch inbrünstig verehrt und heiß geliebt werden, um dort in innerer Freiheit die Realität reflektierend und dennoch distant zu betrachten und von persönlichen Leidenschaften geläutert, wieder in die Heimat zurückzukehren.

Abschließend kann man sagen, dass Wittstock die Reihe der deutschen Nachkriegs-Urlaubserzählungen seit Martin Walsers ,,Fliehendes Pferd“ um eine sehr packende und auch politisch hoch aktuelle Geschichte bereichtert hat. Dieser Titel wird noch von keiner Literaturgeschichte erwähnt, Hans Bergel nennt Wittstock in einem Atemzug mit vielen anderen siebenbürgischen Autoren, jedoch verarbeitet und reflektiert diese brisante Erzählung südosteuropäische Geschichte und will in einem internationalen Kontext gelesen und gedeutet werden: Wittstocks Thematik widerspiegelt europäische (nicht nur balkanische) historische und kultur-religiöse Umstände und Zusammenhänge, seine Handlung und Personenkonstellation beginnt einsträngig, der sich dann weitere epische Unter-Stränge zuordnen lassen, sein Sprachgebrauch umschifft gekonnt mystische oder religiöse Enge und liefert strukturierte epische und bisweilen auch lyrisch anmutende Aha-Erlebnisse. Dessen novellistische Kürze stellt Fragen in den Raum, die der Leser nach und nach entschlüsseln kann und sollte.

Eine Literaturgeschichte, die den grundlegenden Elementen dieses belletristischen Werks gerecht wird, bleibt also noch zu erwarten. Zu bedenken wäre hierbei, dass der Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift unmittelbar einer Diktatur und einer blutigen Revolution entkommen war. Der äußeren martialischen Gewalt, die er in seiner Heimatstadt – „In der Nachbarschaft“, die zweite Erzählung dieses Bandes, führt in die Wendezeit des Jahres 1989 und schildert die Flucht eines Securitate-Offiziers, der in entscheidenden Tagen und Stunden zur Wachmannschaft des Ceaușescu-Nachfolgers Nicu gehört hatte – und hier als Urlaubsgast erlebte, setzt er in dieser Erzählung die Macht der Gedanken, der lyrischen Bilder und einer post-modernen epischen Sprachgewalt entgegen und besiegt durch seine Kunst innerlich befreit das letzte Kriegs-Monstrum des 20. Jahrhunderts.

Anne TÜRK

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.