Herta Müller in der Deutschen Nationalbibliothek
Ausgabe Nr. 2652

Dr. Sylvia Asmus (links) und Herta Müller. Foto: buchmarkt.de
Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek präsentierte am 28. November d. J. in Zusammenarbeit mit der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller eine Ausstellung ihrer Collagen. Herta Müller, die 1987 Rumänien verlassen hatte, um, wie sie sagt, ins Exil zu gehen, war im übervollen Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main anwesend, um in einer Lesung mit Gespräch ihr neues Werk „…der Wind stellt seine Tasche in ein anderes Land…“ vorzustellen und die Ausstellung zu eröffnen.
Die Veranstaltung in Frankfurt am Main begann musikalisch mit zwei Stücken von Georges Enescu, „Bächlein am Ende des Gartens“ und „Der arme Bettler“, gespielt von Henriette Brüggen (Klavier) und Laurent Weibel (Violine). Anschließend eröffnete Ute Schwens, Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek, die Veranstaltung. Herta Müller betrat mit der Moderatorin des Abends, Dr. Sylvia Asmus, Leiterin des Deutschen Exilarchivs, die Bühne.
Als Zuschauer konnte man die Aura spüren, die Herta Müller umgibt – charismatisch, ganz in schwarz mit weißer Bluse gekleidet, klein von Gestalt, groß in der Ausstrahlung. ,,Wenn Menschen fliehen, dann ziehen mit ihnen auch die Worte in ein anderes Land“, mit diesem Satz von Herta Müller begann Dr. Silvia Asmus ihre Moderation und Herta Müller öffnete sich ihrem Zitat mit der Antwort: „Überall haben Wörter gewartet, ich habe sie nur ausschneiden müssen. Sie waren außerhalb von mir, ich musste nicht im Kopf danach suchen“. Die von der Autorin verwendeten immer gleichgroßen Karten geben Grenzen, den Rahmen ihrer Collagen, vor. ,,Ich brauche Regeln! Eine Prosa ist so lange man will, eine Collage auf einer Karte nicht“. Die Moderatorin hatte leichtes Spiel, Herta Müller erklärte sich dem Publikum ausführlich. Diktaturen, Diktatoren, Flucht, Verlust von Heimat, Identitätsfindung, das sind die Themen von Herta Müller. ,,Die Toten sind im Himmel, die Wolken zeigen sie, innere Bilder verbinden sich in meinem Kopf mit der Realität. Sprache, wie könnte ich sie lieben, wenn etwas Schlechtes für mich damit gemacht wird, Sprache ist nur Freiheit, wenn sie mir Freiheit lässt zu atmen, in einer Diktatur gibt es diese Freiheit nicht, da ist sogar das Papier knapp“.
Sätze wie Donnerschläge, die sie dem staunenden Publikum präsentierte, man spürte ihr Brennen für die Freiheit und die Gerechtigkeit. Herta Müller präsentierte sich als Grenzgängerin zwischen Bild und Text, zwischen Prosa und Lyrik, Flucht und Exil, Grenzen und Grenzüberschreitungen. Der zweite Teil der über zweistündigen Veranstaltung begann mit dem Lesen einiger ihrer 114 Collagen, die als Ausstellung bis zum 28. März 2020 im Exilarchiv zu sehen sind. Eindrucksvoll, ohne Satzzeichen, ohne Grenzen auf dem begrenzten Platz einer Karte, Worte, die sich scheinbar von selbst finden. „MEIN VATERLAND WAR EIN APFELKERN MAN IRRTE UMHER ZWISCHEN SICHEL UND STERN“, eine Collage, die zur Poesie geworden ist, Herta Müller liest ihre Gedanken!
Danach schaffte die Moderatorin es spielend, überzuleiten zum aktuellen Weltgeschehen, indem sie Herta Müller auf die Rolle der Lyrik in einer Diktatur ansprach, worauf diese antwortete, dass Lyrik wichtig sei, es aber schlecht ist, wenn sie zu wichtig wird, weil es in einer Diktatur oft die einzige Möglichkeit sei, sich auszudrücken. Sie selbst habe das Stück von Wolf Biermann „Es ist ein Schnee gefallen“ als kraftgebend in der dunklen Zeit der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien empfunden. Herta Müller warnte vor dem Vergessen der Vergangenheit in China, Ungarn, Türkei und Russland, wo eine staatliche Form des Erinnerns in das Gegenteil umschlägt, sodass Erinnerung nichts mehr bedeutet. ,,In China werden Lyriker gestorben, wie Liao Yiwu, er wurde erst vom System verschlungen, danach im Chinesischen Gulag vergessen und starb. Seine Frau lebt jetzt in Berlin, darf sich aber nicht äußern, sonst werden die in China lebenden Anverwandten ebenfalls ins Lager gesperrt. Diktaturen produzieren Flüchtende“, so Herta Müller. Ihre Collagen sind Ausdruck von Vielfalt der bunten Presse, nicht bloß graues Papier wie in einer Diktatur, sie liegt offen herum, eine Collage von ihr ist das Gegenteil von Zensur. Es ist Ausdruck von Freiheit und Kampf gegen das Vergessen! Ein grandioser Abend mit einer charismatischen, aber auch von den Geistern ihrer Vergangenheit besessenen Herta Müller!
Lothar SCHELENZ