Streiflichter von den diesjährigen Deutschen Kulturtagen in Schäßburg
Ausgabe Nr. 2915

Zum Auftakt traten die Tanzgruppe des Jugendforums Schäßburg und die Kindertanzgruppe „Burgspatzen” auf dem Platz zwischen der Klosterkirche und dem Venezianischen Haus, wo sich der Sitz des Demokratischen Forums der Deutschen in Schäßburg befindet, auf. Foto: Andrea ROST
„Die Schäßburger Kokel hat sich in ihr Bett zurückgezogen. Nicht einmal die Ortsansässigen wissen, was von Schäßburg verlorengegangen und wieviel übriggeblieben ist. (…) Die am Kokelufer gelegenen Viertel sind völlig zerstört. Sie beherbergen auch Industrie. (…) Eine Frau sagt: ‚Die meisten Menschen treiben sich seit damals ständig hier herum. Wir warten auf Otto‘, fügt sie noch hinzu. Der Name ‚Klausenburger Straße‘ taucht in ihrer Rede nicht mehr auf. Nichts ist von dieser Straße mehr geblieben, heil ist hier nur noch ein Name: Otto Lurtz. (…) Mit einem Boot hat er fünfzig Menschen aus der Klausenburger Straße gerettet, er hat sie aus Bodenluken und von den Dächern aufgelesen. ‚Sobald Otto die Leute im Boot unterbrachte, stürzte das leere Haus auch schon in die Wellen. Manche ließ er am Seil ins Boot hinunter, er ruderte mit dem Boot zwischen den Dächern umher, und wenn er einen Menschen aufnahm, riß das Wasser dafür ein Haus fort.’” Dieser Auszug stammt einem 1970 von dem Schriftsteller Stefan Banulescu veröffentlichten Beitrag.
Der gesamte Beitrag erschien zunächst am 20. Mai 1970 in der Zeitschrift Luceafărul und im gleichen Jahr in der deutschen Übersetzung von Elisabeth Axmann in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Neue Literatur.
Die diesjährigen Deutschen Kulturtage in Schäßburg standen unter dem Titel „Die Überschwemmungen der Jahre 1970 und 1975 – ein Rückblick” und fanden in der Zeitspanne vom 30. Mai bis 1.Juni statt. Wenn dieses Thema – nicht nur in Schäßburg – zur Sprache kommt, ist der Name von Otto Lurtz in aller Munde. Ein Wermutstropfen ist allerdings dabei: Er selbst hat zwar eine Vielzahl an Menschen retten können, dabei aber seinen Vater verloren.

Dr. Gerhild Rudolf bei ihrem Vortrag über den Architekten Fritz Balthes
Diesbezüglich konnte man in der Hermannstädter Zeitung Nr. 126 vom 29. Mai 1970 Folgendes aus der Feder von Horst Breihofer lesen: „Samstag nachmittag, als man in Schässburg das letzte Opfer der Hochwasserkatastrophe vom 13. Mai, den 63jährigen Rentner Lurtz beerdigte – er war von den einstürzenden Mauern seines Hauses verschüttet, vom Wasser fortgeschwemmt und erst nach einer Woche gefunden worden —, begann die Grosse Kokel wieder zu steigen. Am Abend wurde Alarm gegeben. Die Einwohner der von der ersten Flutwelle schwer betroffenen Viertel (Mühlenham ‚Pfarrerswiese‘, Siechhof) verliessen erneut ihre kaum entschlammten Wohnungen. Sonntag früh war die Kokel wieder zu einem reissenden Strom angewachsen. Um 8 Uhr stand der Siechhof im Wasser, – drei Stunden später drang die Kokel wieder bis zum ‚Stern‘ vor. Doch diesmal war das Wasser nicht so hoch. Und die Einwohner waren vorbereitet! Zwei Überschwemmungen innerhalb von zehn Tagen! Wie hat Schässburg, das ‚Schmuckkästchen‘ unter den Städten Siebenbürgens, diese Katastrophe überstanden?” Der Sekretär des Schäßburger Munizipalkomitees der RKP, Ion Cîndea, gab Breihofer telefonisch Auskunft: „Bei der ersten Überschwemmung standen 1200 Häuser im Wasser, 83 stürzten ein; bei der zweiten wurden 800 überflutet, rund 30 Häuser wurden komplett zerstört. (…) In Schässburg gehen die Arbeiten zur Wiederaufnahme der Produktion in allen Betriebsabteilungen, zur Beseitigung der Trümmer und des Schlamms weiter. Schässburg soll seinem Ruf als Schmuckkästchen bald wieder Ehre machen!“

Bei der Namensgebung der Otto-Lurtz-Brücke (v. l. n. r.): Dechant Pfarrer Hans-Bruno Fröhlich, Schäßburgs Bürgermeister Iulian Sirbu, 2. Bürgermeister von Dinkelsbühl, Georg Piott, Schäßburgs Vizebürgermeisterin Erzsebeth Kreuzer und der Vorsitzende des Schäßburger Deutschen Forums, Stefan Gorczyca. Foto: Andrea ROST
In ihrem Vortrag zum Thema „Die Überschwemmungen der Jahre 1970 und 1975, ein Presserückblick in Text und Bild” zitierte die Journalistin Hannelore Baier u. a. aus dem Beitrag von Helmut Kamilli „Eine Woche nach dem Hochwasser“, erschienen im Neuen Weg vom 21. Mai 1970: „Ein Bild, in Worte kaum wiederzugeben. (…) Wo vor sieben Tagen ein Haus gestanden hatte, ist jetzt eine tiefe Grube, gefüllt mit schmutziggelbem Kokelwasser, in dem ein leerer Koffer schwimmt. Soviel haben die entfesselten Fluten vom Haus Nr. 9 in der Clujului-Straße übriggelassen. Otto Lurtz, Dreher in der Nicovala, ist mit einem Paar durchnässter Gummistiefel, einer schlammigen Hose und einem zerfetzten Hemd geblieben und mit einem Boot, mit dem er ein halbes Hundert Menschen gerettet hat, die von dem schäumenden Wasser letzte Zuflucht auf Bäumen und Dächern gesucht hatten. Etwa 50 Kinder, Frauen und Greise hat Otto Lurtz unter höchster Lebensgefahr in Sicherheit gebracht, nachdem sein Vater vom abstürzenden Gebälk begraben wurde und für immer verschwand.“

Mariana Gorczyca (links) präsentierte am Samstagnachmittag im Rathaussaal die von Beatrice Ungar erstellte deutsche Fassung ihres Buches „Rubla, locul fără umbră”, die unter der Titel „Rubla, Ort ohne Schatten” im Honterus-Verlag erschienen ist. Foto: Aurelia BRECHT
Das Boot, mit dem Lurtz so viele Menschenleben retten konnte, war in der Ausstellung „Schäßburg im Zeichen der Flukatastrophen” im Haus mit dem Hirschgeweih zu sehen, die Peter Ambrosius kuratiert hat.
Die Deutschen Kulturtage wurden am 30. Mai nachmittags vor dem Venezianischen Haus, dem Sitz des Schäßburger Deutschen Forums, im Beisein zahlreicher Ehrengäste, darunter eine Delegation der Partnerstadt Dinkelsbühl unter der Leitung von Bürgermeister Christoph Hammer, feierlich eröffnet. Nachdem die Bläsergruppe des Deutschen Forums Schäßburg unter der Leitung von Theo Halmen aus dem Stundturm die Veranstaltung mit einem kurzen Konzert begrüßt hatten, traten die Kindertanz-
gruppe „Burgspatzen“ unter der Leitung von Martha Szambothy und Waltraut Schuster und die Tanzgruppe des Schäßburger Jugendforums auf.

Die Hauptorganisatorin Andrea Rost (1. v. r.) stellte Dipl. Ing. Georg Hügel vor, der über die Maßnahmen sprach, die nach den Überschwemmungen getroffen worden sind.
Fotos: Beatrice UNGAR
Zur Partnerschaft zwischen Dinkelsbühl und Schäßburg ist in der Hermannstädter Zeitung Nr. 2034 vom 8. Juni 2007 Folgendes zu lesen: „Am Donnerstag der Vorwoche haben die Vertreter der Städte Schäßburg und Dinkelsbühl die offiziellen Verträge über ihre Partnerschaft unterzeichnet. In ihren Ansprachen betonten der Bürgermeister von Schäßburg, Dorin Drăgan, sowie der Bürgermeister von Dinkelsbühl, Dr. Christoph Hammer, daß somit auch offiziell die schon lange bestehende Freundschaft der beiden Städte anerkannt werde. Die Feierlichkeiten boten einen festlichen Rahmen um Otto Lurtz, der beim Hochwasser von 1970 über 50 Menschen das Leben rettete, den Titel eines Ehrenbürgers von Schäßburg zu überreichen.” Den diesbezüglichen Beschluss hatte der Stadtrat von Schäßburg im Juni 2006 gefasst.

Die Journalistin Hannelore Baier bei ihrem Vortrag „Die Überschwemmungen der Jahre 1970 und 1975, ein Presserückblick in Text und Bild” am Samstag im Rathaussaal. Foto: Beatrice UNGAR
Zurück zu den Deutschen Kulturtagen. Den ersten Vortrag zum Hauptthema boten unter dem Titel „Ursachen und Auswirkungen der Überschwemmungen in der Geschichte Schäßburgs” Crista und Viorel Rusu am Freitag im Rathaussaal. Im Vorraum eröffnete die Bergschule die Ausstellung zu dem Schülerprojekt „teppICH – eine Geschichte der Kindheit”, die mit Unterstützung des Bukarester Goethe Instituts enstanden ist und die schon bei der „Begegnung auf dem Huetplatz” in Hermannstadt im Foyer des Forumshauses zu sehen war.
Eine weitere Ausstellung – „Architekt Fritz Balthes (1882-1914)” – war vor dem Rathaus zu besichtigen. Den diesbezüglichen Vortrag über den gebürtigen Schäßburger Architekten hielt Dr. Gerhild Rudolf, Leiterin des „Friedrich Teutsch”-Begegnungs- und Kulturzentrums.
Mit drei Schülerinnen und Schülern der Bergschule hatte der Schäßburger Jugendreferent Kevin Wagner Interviews mit zwei Zeitzeugen der Überschwemmungen von 1970 und 1975 erarbeitet. Was Roswitta Arz und Erika Petre erlebt hatten, konnte das Publikum anhand von kurzen Filmaufnahmen erfahren. Dies war einer der emotionalsten Momente der drei Tage.

Als Dankeschön erhielten alle Vortragenden und Ehrengäste eine Tasse, auf der Otto Lurtz (1936-2018) in seinem Boot abgebildet war. Foto: Cynthia PINTER
Der wohl emotionalste war die Feierlichkeit zur Namensgebung der Neuen Kokelbrücke am Sonntag nach dem Festgottesdienst in der Klosterkirche. Die Brücke heißt seit Sonntag Otto Lurtz.
Welche Maßnahmen nach den katastrophalen Überschwemmungen getroffen und durchgesetzt wurden, konnte man in dem Vortrag „Der Kokelausbau und systematisierende Baumaßnahmen nach den Überschwemmungen der 70er Jahre” von Dipl.-Ing. Peter Hügel erfahren.
Mit folgenden ernüchternden Worten schloss Hügel seinen Vortrag: „Die Klimaänderungen sind auch ein besorgniserregender Faktor, die zu immer extremeren Niederschlägen führen, die Hochwasser generieren können. Wie alle Naturphänomene ist auch Hochwasser nicht vorhersehbar. Das nächste große Hochwasser kommt bestimmt“.
Bevor es am zweiten Tag gesellig zugehen sollte bei dem traditionellen „Ausklang im Schänzchen”, also einem Grillabend, stellte Mariana Gorczyca ihren Roman „Rubla, locul fără umbră“ vor, dessen deutsche Fassung unter dem Titel „Rubla, Ort ohne Schatten“ in diesem jahr im Hermannstädter Honterus-Verlag erschienen ist.
Sonntagmittag gab es zum Abschluss auf dem Burgplatz Darbietungen der Tanzgruppen aus Sächsisch-Regen, Hermannstadt, Mühlbach und Schäßburg sowie ein Platzkonzert der Bläsergruppe des Deutschen Forums Schäßburg.
Beatrice UNGAR