Weil sie Deutsche waren

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Russlanddeportation aus der Perspektive der Kindergeneration

Ausgabe Nr. 2899

Bei den ersten „Hermannstädter Gesprächen“ des Jahres dabei waren   (v. l. n. r.): Kilian Dörr, Hannelore Baier und Helga Pitters.
Foto: Cynthia PINTER

„Die Matratze hat meinem Vater das Leben gerettet“, erinnert sich die Hermannstädter Lehrerin i. R. Helga Pitters, über die Russlanddeportation ihres Vaters 1945. Unter dem Titel „Gedanken – Gedenken. 80 Jahre seit dem Beginn der Russlanddeportation aus der Perspektive der Kindergeneration“ fand am Mittwoch, dem 29. Januar im Rahmen der Reihe „Hermannstädter Gespräche“ die erste Podiumsdiskussion des Jahres im Spiegelsaal des Forums statt. Eingeladen waren Helga Pitters und Stadtpfarrer Kilian Dörr, deren Väter zum Wiederaufbau in die Sowjetunion deportiert wurden. Das lockere Gespräch wurde von der Journalistin und Historikerin Hannelore Baier moderiert. Organisatoren waren das Demokratische Forum der Deutschen in Hermannstadt und das Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart, durch die ifa-Kulturmanagerin Christiane Böhm.

 

„Meine Schwester war noch nicht 18 Jahre alt, als mein Vater erfahren hatte, dass er auf der Liste der Deportierten war, er war 42 Jahre alt damals. Am 13 Januar wurde er ausgehoben. Man wusste nur, dass man Kleider und Mundvorrat mitnehmen musste. Dann sind wir Kinder gelaufen und haben alles Essbare aus dem Haus für ihn zusammengetragen. Aber eigentlich kamen sie nicht direkt zum Bahnhof sondern ins Corso-Kino hier im Zentrum, also gab es die Gelegenheit ihn noch zu fragen, was er brauchte. Er hat gesehen, dass man dort auf dem Boden liegen muss, also hat er gesagt, bringt mir meine Matratze aus dem Bett mit. Dann haben wir ihm in einem Wägelchen die Matratze mitgebracht. Er hatte damit viel Glück, denn er musste später nicht auf Eisenstangen liegen, sondern hatte eine Unterlage und als er nach Hause kam, hat er die Matratze wieder mitgebracht“, erzählte Helga Pitters. Dass man nun offen über die Erlebnisse aus der Russlanddeportation sprechen kann, war vor einigen Jahren noch nicht möglich. Die Erlebnisgeneration habe laut Hannelore Baier „sehr lange geschwiegen, weil die Betroffenen trotz der Anzeichen, dass es zu Deportation kommen wird, es bis zuletzt nicht geglaubt haben, dass sie tatsächlich ausgehoben werden. Sie haben bis zuletzt nicht gewusst, wohin sie gebracht werden und sie haben vor allem nicht gewusst, wann sie wieder zurückkommen. Sie sind alle mit Traumata geblieben, sofern sie zurückkommen konnten.“

Alle arbeitsfähigen Männer, im Alter zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen von 18 bis 30 Jahren wurden zum Wiederaufbau in die Sowjetunion geschickt. Diese Deportation zur Zwangsarbeit diente dem Wiederaufbau und galt als Reparationsleistung für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Aus Schäßburg allein seien 453 Personen verschleppt worden, die 333 Kinder zurückließen. Diese Kinder seien bei Großeltern, Verwandten oder den Nachbarn geblieben.

Helga Pitters, geborene Rehner, hat als Vierzehnjährige hautnah miterlebt, als ihr Vater ausgehoben wurde und als er zurückkam. Das Hermannstädter Publikum lauschte gespannt, als sie darüber erzählte: „Er war nur ein Jahr in Russland, wir hatten aber in dem Jahr keine einzige Nachricht von ihm bekommen, die erste Nachricht war die, dass er im ersten Heimtransport in Focșani ist, im gleichen Zug wie der ehemalige Bischof Albert Klein. Wir haben ihn nicht erkannt, als er auf dem Großen Ring ankam. Er stieg als letzter mit seiner Matratze aus dem Bus aus und wir haben ihn nicht erkannt. Er hat uns erkannt.“ Der Vater sei wie die meisten Rückkehrer ausgehungert gewesen, also hatte Helgas Mutter ein Festessen mit Hackbraten zubereitet, den der Vater bei seiner Heimkehr genießen durfte, aber nur in kleinen Portionen, denn zu viel Essen hätte ihn krank machen können. In Russland hätten sie auch die geschälten Kartoffelschalen gegessen. So lehrte der Vater die Kinder die kleinen Kartoffeln nicht zu schälen, sparsam zu sein, nichts wegzuwerfen. Alles sollte verwendet werden.

Dass der Hunger das größte Thema unter den Russlanddeportierten war, erinnert sich auch Kilian Dörr, dessen Vater dreieinhalb Jahre deportiert war: „Immer wenn es bei uns zu Hause ein Festessen gab, sagte mein Vater, das Essen sei fast so gut wie die Ziesel, die er in Russland gebraten hatte. Er hatte das Glück in der Landwirtschaft zu arbeiten, und solche Ziesel zu fangen und zu essen. Das war der große Vergleich, wenn etwas gut schmeckte.“ Sein Vater habe erstmals Straßen im Uralgebirge gebaut, bei Plast, und ein Jahr mit Kirgisen die Bewässerung für Rinderweiden betrieben. „Dort haben sie sich von Walderdbeeren, Zieseln und Rindersteaks ernährt. Die Kirgisen aßen nur Rindfleisch. Danach kam er in einen Steinbruch, wo er sich eine Lungenentzündung geholt hat, die ihn so niedergeworfen hat, dass er fast gestorben ist.“ Zum Glück wurde er in ein deutsches Kriegsgefangenenlager verlegt, das habe ihn gerettet. Kilian Dörrs Vater habe nie über die Zeit in Russland geklagt, er habe das Negative immer verdrängt, weil man aber auch lange Zeit nicht darüber reden durfte. Erst in der Zeit nach der Wende begannen die Menschen, mehr über die Deportation zu reden.

Auf die Frage Hannelore Baiers, ob man damals wusste, wieso sie deportiert wurden, antwortete Helga Pitters: „Ich weiß nicht, ob von Wiederaufbau gesprochen wurde, aber man wusste, dass es deswegen geschah, weil sie Deutsche waren. Es wurde ihnen auch in Russland vorgeworfen, stellvertretend für das, was man den Russen angetan hat, müssten sie jetzt das gutmachen.“ Kilian Dörr sagte dazu: „Ja, die ersten Worte, an die sich mein Vater erinnert hat, waren ‚Gitler kaputt‘. Damit wurden sie empfangen und ganz am Anfang bei ihrer Ankunft beschimpft.“

Das Gespräch hätte sicherlich noch weitergeführt werden können, denn im Publikum gab es auch Gäste, deren Eltern deportiert waren und Interessantes zu erzählen hatten. Und auf dem Büchertisch lag zur weiteren Dokumentation das Buch „Die Deportation von Rumäniendeutschen in die UdSSR. Argumente aus russischen Archiven“ von Ilie Schipor (in der deutschen Fassung von Ruxandra Stănescu) kostenlos auf. Ein zweiter Teil der Gesprächsrunde mit anderen Teilnehmern wäre gewiss wünschenswert.

Cynthia PINTER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.