Welterkenntnis in Deutungsversuchen

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Der Grafiker Stefan Orth und das Buch / Von Joachim WITTSTOCK

Ausgabe Nr. 2899

Stefan Orth vor dem Plakat der Ausstellung im Foyer der Astra-Bibliothek.
Foto: Enikő ORTH

Der Grafiker und Maler Stefan Orth wurde vor achtzig Jahren, am 3. Februar 1945, in Nagyszékely geboren, in einer Landgemeinde des ungarischen Komitats Tolna/Tolnau. Da sein Vater, ein reformiert-calvinistischer Geistlicher, zum Pfarrdienst in die Großwardeiner Gegend wechselte, besuchte Stefan zunächst in Episcopia Bihor die Elementarschule und dann in Großwardein/Oradea das Kunstlyzeum. Hierauf studierte er am Theologisch-Protestantischen Institut in Klausenburg/Cluj und an der Nicolae-Grigorescu-Kunstakademie in Bukarest, die er 1976 absolvierte.

In jenem Jahr ließ er sich mit seiner Gattin, der Pianistin und Klavierpädagogin Enikő Maria Orth geb. Mészáros, in Hermannstadt nieder, wo er auch gegenwärtig lebt. 25 Jahre hindurch arbeitete er als Grafik-Restaurator im Brukenthalmuseum, und er widmete sich damals und ununterbrochen bis heute seinem bildkünstlerischen Schaffen. Er gehört seit 1980 dem Künstlerverband Rumäniens an, dessen hiesige Filiale er längere Zeit hindurch leitete. 2010 wurde er zum Ehrenbürger von Hermannstadt ernannt.

Bücher ermöglichen im günstigen Fall eine zuverlässige Verständigung und gesicherte Überlieferung, und doch bergen sie Welterkenntnis bloß in Teilen, in Deutungsversuchen. Das wusste der Theologe Stefan Orth, und auch der bildende Künstler in ihm begriff zusehends klarer, er müsse immer wieder von Neuem ansetzen in seiner Bemühung, aus den Erscheinungsformen des Lebens und der Natur zu den verborgenen Gesetzmäßigkeiten des Daseins vorzudringen. Anspruchsvolle gedankliche Entwürfe suchte er in Bildsprache zu übertragen, auch ist für ihn und sein Schaffen die Wiederaufnahme einzelner Themen und die motivische Variation kennzeichnend.

Hat man die zahlreichen Bildbände und Ausstellungskataloge Stefan Orths vor sich und nimmt die von ihm mit Umschlägen und Illustrationen versehenen Veröffentlichungen zur Hand, bestätigt dieser Augenschein die Feststellung: Bücher in mancherlei Formen zu gestalten, war eine Hauptbeschäftigung des Künstlers.

Viele der in seinem Atelier entstandenen Malereien und Grafiken größeren Formats brachte er auch durch Kunstalben und sonstige Publikationen in Umlauf, doch widmete er sich vom Beginn seiner Laufbahn an immer wieder auch den von verschiedenen Autoren verfassten Schriften aus der Literatur, Kunst und dem Geistesleben.

Die Veröffentlichung der von ihm betreuten Alben begann nach der politischen Wende in Rumänien mit einem Bildband, den er Hermannstadt widmete. Vereint sind in ihm Radierungen, Zeichnungen, Gemälde und Plakate („Sibiu/Hermannstadt“. Zweisprachige Ausgaben davon wurden 2006, 2013 und 2017 herausgebracht. Das Buch geht auf eine Mappe mit Grafiken Stefan Orths zurück, die 1991 erschienen war).

Wir bleiben noch bei dieser Ortschaft. Dreisprachig (Rumänisch, Deutsch, Ungarisch) sind die Erläuterungen zu einem Zyklus von „Zeichnungen zur Geschichte Hermannstadts“, veröffentlicht unter dem Titel „Qui tempus habet vitam habet“ (Wer über Zeit verfügt, dem ist Leben gegeben, 2006). Eine bildkünstlerische Annäherung an Ereignisse aus der Stadtgeschichte liegt vor, dargeboten im Stil früher Holzschnitt-Drucke. Jeweils eine Prise Humor fehlt den Zeichnungen nicht, zumal dem Bildchronisten auch manche Skurilitäten der Vergangenheit auffielen, ja sich ihm aufdrängten.

Eine mit eigenen Grafiken versehene rumänischsprachige Anthologie neuerer Dichtung Hermannstädter Autoren wurde von Stefan Orth 2007 veröffentlicht („Ilustraţii la poezia contemporană sibiană”).

Vor allem Hermannstädter Anliegen der Publizität und Werbung dienten die von Orth entworfenen Plakate. Ein vielgestaltiges, an Bildmotiven und originellen Schriftzügen reiches Album legt davon Zeugnis ab (2013). In Stichworten sei einiges von der Thematik dieser Plakate angedeutet: Ausstellungen im Brukenthalmuseum, in den Museen für Volkskunde, für Naturwissenschaften, im ASTRA-Freilichtmuseum; Ausstellungen des Verbandes bildender Künstler; Konzerte klassischer Musik; das viele Jahre hindurch abgehaltene Festival der Jazzmusik; Hermannstadt als Europäische Kulturhauptstadt u. a.

Vielversprechende Ansätze zur Illustration literarischer Werke führen in die 1970er Jahren zurück. Gabriel Garcia Márques lässt sich hier anführen, dessen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ Stefan Orth mehrere Radierungen widmete. Und Texte des Dichters Marin Sorescu regten ihn zu Lithografien an.

Über vereinzelte Illustrationen ging Orth bei zwei Werken aus dem literarischen Erbe hinaus: Er erarbeitete Bildfolgen zum biblischen „Hohelied Salomos“ und zu Imre Madáchs „Tragödie des Menschen“.

Orth hält sich in der grafischen Auslegung vom „Hohelied Salomos“ (2007) an Bildmotive, wie sie aus dem alten Ägypten, dem historischen Jerusalem oder der griechischen Antike überliefert sind. Die dem östlichen Mittelmeerraum zuordenbare Formensprache wird jedoch aufgelockert durch neuere Stilmerkmale und vielfach auch durch Überzeitliches. Denn ein Anliegen der Orthschen Veranschaulichung des alttestamentarischen Textes ist es – wie der Grafiker in einem Vorwort ausführt – die angeblich nicht in die Bibel passenden Verse als ein Werk zu präsentieren, das im Thema der Liebe „ein spirituelles/emotionales Element mit kosmischem Ausmaß“ enthält, „das sicherlich rein menschlich und weniger historisch oder juristisch, jedoch überall und immer gültig ist“.

Und nun ein Wort zu Imre Madách (1823-1864) und zu Orths grafischer Interpretation von dessen „Tragödie“ (Umschlag und Illustrationen von Stefan Orth. Deutsche Ausgabe 2022; ungarische Ausgabe 2023).

Die erste seiner Ausstellungen in diesem Jahr hat Stefan Orth vor allem der Buchgrafik gewidmet. Zu sehen war sie bis gestern im Foyer im neuen Trakt der Astra-Bibliothek. Foto: Beatrice UNGAR

Madách, ein bedeutender Vertreter der ungarischen Literatur während des Übergangs von der Spätromantik zum Realismus, führt in seinem Hauptwerk „Die Tragödie des Menschen“ (1861) durch die Geschichte, von der Antike Ägyptens, Athens und Roms über Byzanz und die feudalistischen Machtzentren Prag und Paris bis in die Gegenwart des Autors, erfasst im zeittypisch wirkenden Schauplatz London. Die Symbolgestalten Adam und Eva erleben in einzelnen Stationen einiges von dem für Etappen der Menschheitsgeschichte jeweils Typische, weniger zu ihrer Freude als vielmehr zu ihrem Leidwesen. Gott („der Herr“) und Luzifer sind, wie im mittelalterlichen Mysterienspiel oder auch in Goethes „Faust“ (wo „der Böse“ Mephisto heißt), im Streit um das Seelenheil des Menschen.

Die ganzseitig in Sepia gehaltenen Illustrationen Orths zu diesem Werk sind der ernsten Thematik angemessen – in feinen Linien, in vorsichtig gesetzten graubraunen Flächen streichen die Grafiken den sinnbildlichen Gehalt der einzelnen Szenen heraus. Die Bilder lassen ihren Ursprung in eigenen, das heißt von Orth angefertigten Stichen und Radierungen erkennen, in größer angelegten Blättern. Diese hatte der Künstler auch in Ausstellungen gezeigt, wie sie anlässlich des 200. Geburtstags von Imre Madách in Rumänien und Ungarn veranstaltet worden waren.

Eine geistliche Dimension durchzieht auch die Blätter des Albums, das gar den Titel „Heiligenbilder“ trägt und in einer Abteilung des Bandes „Reisebilder“ vereint (2016). Beide Bezeichnungen sind nicht wortwörtlich zu nehmen, denn weder haben wir es mit strikt kanongerechten, auf Altäre passenden Bildwerken einer bestimmten religiösen Konfession zu tun, noch werden Ansichten von fotografischer Zuverlässigkeit aneinandergereiht. Die Grundstimmung aber ist von dem – im umfassenden Sinn – Religiösen geprägt, von Eindrücken und Wahrnehmungen, wie sie bei Prozessionen aufkommen mögen.

Umschläge für diverse Veröffentlichungen hat Stefan Orth im Lauf der Jahre entworfen. Wenn wir uns auf die Hermannstädter Szene beschränken, so stoßen wir auf Autoren wie Christoph Klein, Wolfgang Fuchs, Lilly Krauss-Kalmár, Zoltán Kalmár, Ilie Moise, Horst Klusch, Rodica und Mircea Braga, Luminiţa Mihai Cioabă, George V. Precup, die sich Buchumschläge aus Orths Künstleratelier besorgten. Und ich darf hier, verbunden mit dem Ausdruck des Dankes und der Anerkennung, sagen, dass er zwölf meiner Bücher mit Umschlägen versehen hat.

Er wählte dabei nicht die einfachsten Lösungen, sondern ging stets als einfallsreicher, sorgfältig arbeitender Künstler vor. Bald fertigte er zum Buchinhalt passende kleine Gemälde oder Zeichnungen an, bald appellierte er an Motive, die bereits in seinem eigenen Œuvre vorhanden waren und nun der neuen Bestimmung angepasst werden mussten.

Zu seinem Geburtstag sei dem Grafiker und Maler, dem Buchgestalter Stefan Orth viel Gutes gewünscht. Auch die Redaktion der Hermannstädter Zeitung schließt sich dieser Gratulation an.

Joachim WITTSTOCK

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kunst, Persönlichkeiten.