Wehmütige Erinnerungen an meine beste Zeit anno 1956

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Ausgabe Nr. 2902

Peter Biro, 1956 in Großwardein geboren, wanderte 1969 mit den Eltern nach Deutschland aus, wurde Arzt und zog 1987 in die Schweiz um. Seit Ende 2021 ist er in Pension, nachdem er 34 Jahre an der Universitätsklinik in Zürich gearbeitet hat. Seitheer schreibt er für verschiedene Publikationen und seine Texte sind schon ins Ungarische und ins Rumänische übersetzt worden. Seine Kindheitserinnerungen veröffentlichte er unter dem Titel „Vom Taumeln zwischen den Kulturen. Eine Kindheit in Transsylvanien” (Werd & Weber Verlag)

An einem regnerischen Septembernachmittag begann der ganze Schlamassel. Eine monströse Vorrichtung – Forceps genannt – packte mich am Schädel und zerrte mich rücksichtslos aus meinem gemütlich temperierten Refugium „ans Licht der Welt“, wie diese ungehobelten Stümper es nennen. Licht der Welt, pah! Rohe Gewalt war das, nichts weiter.

Liebe Mitgeborenen, mitleidende Geburtsopfer, hier präsentiere ich euch, wie allgemein erwartet, meine Autobiografie. Doch lasst mich eins von vornherein klarstellen: Ich widme mich nur der einzig erwähnenswerten Periode – der Zeit vor dem „Zugriff“. Alles danach? Ach, vergessen wir’s lieber. Aber diese paar Monate davor, das war pure Glückseligkeit: mit Vollpension im Wellnessbereich rund um die Uhr versorgt und verwöhnt zu werden – ein Paradies, wie es schöner nicht sein konnte.

Alles begann mit einem bescheidenen Start: Ich, winzig klein und hübsch amorph wie eine Beere, schwebte ein wenig orientierungslos herum bis ich eine einladende Schleimhautfalte fand, die nur darauf wartete, mich aufzunehmen. Mein erster Gedanke? „Hier gefällt´s mir, hier lass ich mich nieder!“ Und hatte damit absolut recht: Kaum hatte ich mich festgesetzt, bekam ich Wohnkomfort vom Feinsten, Versorgung à la carte und wohlige Geborgenheit – so lebt man! Von hier aus konnte ich ungestört wachsen und gedeihen. Zugegeben, ich legte schnell ein paar Pfunde zu, aber wer wollte das einem bei solch einer Verpflegung auch vorwerfen? Kurz gesagt: „Küche wie bei Muttern“. Der zunehmende Platzmangel, der später kommen sollte, schien mir damals so fern wie der nächste Eisprung.

Anfangs war es das reinste Spa-Center: warmes Badewasser, ein zuverlässiges Versorgen mit allem, was mein kleines, neu entstandenes Herz begehrte, und diese perfekte Hintergrundmusik – ein sanftes Stampfen aus einer oberen Etage … „wa-bumm, wa-bumm, wa-bumm“! Rhythmisch, beruhigend. Ich hätte ewig so weiterleben können! Leider begannen sich irgendwann Veränderungen anzukündigen – unheilvolle Anzeichen, dass mein kleines Nirwana nicht von Dauer sein würde.

Noch verdrängte ich diese bösen Omen. Stattdessen genoss ich die kleinen Freuden des Lebens: sanfte Streicheleinheiten und manchmal sogar freundliche Stupser von außerhalb meiner Umfriedung. Besonders spaßig war das spiralige, wohlig-pulsierende Versorgungsrohr, mit dem ich wunderbar herumspielen konnte. Ich schmiegte mein Gesicht an die sanfte Wölbung des Mutterkuchens und strampelte gedankenverloren mit meinen einwärts gebogenen Beinchen. Dabei klemmte ich ab und zu die Nabelschnur zwischen die Zehen, die sich einwärts biegend sanft um den Schlauch schlossen – nicht zu stark und nicht zu lang. Gerade genug, um mir kurzzeitig berauschende Zustände einer gewissen Beschwipstheit zu verschaffen, aus denen ich mit einem wohligen Gefühl der Erleichterung erwachte. Das verursachte vor meinem inneren Auge verwirrend anmutige Farbenspiele und ineinander übergehende Formen von vollendeter Schönheit, die mich auf wunderbare Weise für die sonst vorherrschende Dunkelheit entschädigten. Diese tranceähnlichen Zustände waren das Highlight meines Tagesablaufs, und nie kam auch nur die geringste Langeweile auf. So wurde ich zum habituellen Nutznießer von kurzzeitigem Sauerstoffmangel – mit anderen Worten: ein echt abgedrehter Hypoxie-Junkie.

Doch dann drangen immer häufiger fremde Laute aus der Außenwelt zu mir. Es handelte sich um irgendwelche Gespräche, manchmal überlagert von irritierendem Magenknurren von oben rechts und anderen, naja, organischen Geräuschen von weiter unten. Es waren überwiegend unverständliche Sprachfetzen, die offensichtlich zu Dialogen gehörten, die meine Hausherrin mit irgendjemandem in der Nähe führte. Mangels eigener Erfahrung konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Ich hatte nur mitbekommen, dass es meist um „Geld“ und „Kind“ ging – Begriffe, die mir damals noch nichts sagten, mich aber später auf unangenehme Weise einholen sollten.

Ich will nicht behaupten, dass es ausgesprochen beunruhigende Erfahrungen waren. Aber ich muss zugeben, nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr strecken und bekam den Eindruck, dass ich irgendwie kopfüber nach unten eingeklemmt war. Ich begann das einstige freie Rumschweben zu vermissen, so dass ich mich zunehmend auf das liebgewordene Zehenspiel mit den vorübergehenden Trancezuständen kaprizierte. Was soll man sonst tun in dieser Lage? Irgendwie hatte ich mich bereits mit den engeren Verhältnissen abgefunden, als sich neue Unbill ankündigte. Meine Behausung begann sich stellenweise zusammenzuziehen. Natürlich drückte ich dagegen so gut ich konnte, aber es half nichts. Der mir bis dahin völlig fremde Begriff der „Wohnungsnot“ erlangte plötzlich eine reale, akut bedrohliche Dimension.

Und dann war es so weit: Zack, qwetsch, würg – der Forceps griff zu. Raus war ich, hinaus ins blendende Flutlicht einer Folterkammer, lautes Geschrei und – ernsthaft – ein Klaps auf den Hintern? Willkommen in der Realität. Und die erste Lektion: Diese Welt ist hart, kalt und voller infantilem Geplapper.

„Oh, guck mal, wie herzig!“

Lauter solche und ähnliche zuckersüß-schwachsinnige Schmeicheleien, die mir am frisch in Windeln gewickelten Arsch vorbeigehen. Spare mir die Heuchelei! Das sage ich nicht einfach so. Es entstammt der bitteren Erfahrung eines unsanft aufgeweckten Kindes.

Ach, wäre ich doch daheim geblieben – in meiner zwar engen, aber perfekt ausgestatteten Behausung. Aber nein, mich hat niemand gefragt. Weder der vordem mit dem Forceps fuchtelnde Folterknecht noch meine hysterisch rumschreiende Vermieterin, und schon gar nicht der dämlich dreinschauende Typ an ihrer Seite. Kein einziger hat sich die Mühe gemacht, mich um mein Einverständnis zu bitten. Stattdessen wurde ich mit einem unerträglichen Gelalle wie „Butzi-butzi!“ und „Na-na-na!“ empfangen – als wäre ich ein Hundewelpe mit einem halben Gehirn. Entschuldigung, wer sollte das bitte ernst nehmen?

Liebe Biografie-Interessierte, wenn ihr eines aus meinem Bericht mitnehmt, dann bitte dieses: Bleibt, wo ihr seid! Der Mutterleib ist Luxus pur – eine All-inclusive-Oase der Ruhe. Das Leben da draußen? Ein schlechter Witz. Die Welt lockt euch mit bunten Rasseln, phosphoreszierenden Tierfigürchen an der Zimmerdecke oder gar diesen sich endlos drehenden Mobiles. Aber glaubt mir: Nicht alles, was glänzt, ist eitel Fruchtwasser.

Da draußen lauern unzählige unangenehme Überraschungen, und ich spreche nicht nur von Impfungen, durchstochenen Ohrläppchen oder dem brutalen Raub der Mandeln. Ich berichte das alles aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Es ist schon erstaunlich, zu welchen Grausamkeiten diese sogenannten Erwachsenen fähig sind. Und das alles unter dem Deckmantel des sogenannten „Kindeswohls“.

Bleibt sicher, bleibt geborgen, und vor allem: Hütet euch vor dem hungrigen Maul des grausamen Forceps. Ich habe euch gewarnt.

Peter BIRO

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bücher.