Ana Blandiana und ihr Gedichtband ,,Mein Vaterland A4“
Ausgabe Nr. 2896

Ana Blandiana, Mein Vaterland A4./Patria mea A4. Gedichte Deutsch / Rumänisch, übersetzt von Maria Herlo, Katharina Kilzer, Horst Samson. Pop Verlag Ludwigsburg 2020, ISBN 978-3-86356-300-4, 155 Seiten, 19,90 Euro.
Der Gedichtband „Patria mea A4” von Ana Blandiana ist bereits ins Polnische, Italienische, Spanische, Französische, Englische, Bulgarische, Hebräische übersetzt und liegt seit 2020 auch auf Deutsch unter dem Titel „Mein Vaterland” vor. Gleich das erste Gedicht: „Das jenseitige Leben, verbunden mit uns noch irdisch Lebenden über ein Change-Office” (S. 7). So hat das immerhin noch niemand gesehen; niemand vor Ana Blandiana. Und diese Autorin ist nicht etwa flotte zwanzig Jährchen alt, sondern sie gehört zum Jahrgang 1942.
Ana Blandiana eröffnet noch andere – völlig unbenutzte – Möglichkeiten, sich bei uralten Bibelstellen einen Fortgang, eine Folgerung zu überlegen. Sie weist uns zum Beispiel darauf hin, wie schwer es ist, einen Engel an den Flügeln zu streicheln (S. 9). Und sie bringt in einem Gedichtgebet die Zeilen, „Gott, ich möchte wissen, was du fühltest, als du die Proportionen der Gifte festgelegt hast und als du in eine Seele den Mord, in die andere die Ekstase gelegt hast” (S. 83). Was Gott da fühlte! Mit solchen unabgegriffenen und zugleich poetischen, skeptischen Erwägungen stößt Ana Blandiana ihre Leserinnen und Leser an.
Viele Gedichte in diesem Band sind der Religion verpflichtet, speziell dabei dann oft dem griechisch-orthodoxen Glauben. Der Tendenz nach sind sie nicht biblisch getreu. Ana Blandiana überschreitet die biblische Botschaft. Trotzdem, der Bezug bleibt.
Ich will hier auch ihren Vergleich mit dem oberen Ende der Kerze hervorheben (S. 113), „die im Begriff ist zu erlöschen, /wie der Glaube, /unsicher, ungewiss, glücklich hochflackernd, dann sich biegend, verzweifelt blinzelnd,/ reduziert auf den Kern der Dunkelheit,/ aus dem sie sich wieder anzünden wird”.
Ebenfalls nicht in der Bibel zu finden – von Ana Blandiana markant-nachdrücklich platziert in einem der letzten Gedichte des Bandes – (S. 141): „Ein Jammern, aus der zunehmend heiseren Kehle eines Engels”. Und in dem gesamten Gedicht geht es genau darum.
In ihrem Gedichtband sind aber auch einige Gedichte, die sich einer völlig anderen Religion, nicht der christlichen, sondern der altgriechischen, verdanken. Zum Beispiel: „Mysterien“ (S. 131). Die Götter, die ihre Ewigkeit verbrauchen müssen, machtlos. Ana Blandiana unternimmt dann sogar das Wagnis, Beziehungen zwischen diesen beiden Religionsformen herzustellen: „Apollo tritt in meinen Schlaf, schlägt die Tür gegen die Wand”, dann verharrt er lange vor dem Kruzifix, begreift vielleicht, wie die Mysterien sich gegenseitig ersetzt haben.
Die privaten Sachen behandelt Ana Blandiana gleichermaßen unkonventionell, und die Erwartung des Unkonventionellen, dabei meist durchaus Begreiflichen treibt die Lesenden an, noch mehr und noch mehr zu lesen. Ana Blandiana schreibt über die Angst der Mutter nicht vor ihrem Neugeborenen, sondern vor ihrem noch Ungeborenen (S. 19). Aus der Sicht des kleinen Ungeborenen: „Hattest du Angst vor der Art, in der ich in deinem Inneren fast schon bedrohlich wuchs, dich ersetzend?” Die Mutter ist dabei durchaus selbstbewusst; das geht auch aus dem dann nächsten Gedicht hervor: „Ich (nun nicht ein Säuglings-Ich) werde solange leben, bis ich die Antwort finde. (S. 21)
Andernorts lässt diese Dichterin sich winzigste Vorgänge einfallen. So etwa in den Zeilen: „…immer wieder bewegt von einem Wind, erzeugt durch die Bewegung der Stirn” –. (S. 101)
Und eine andere filigrane Entdeckung dieser Dichterin: „Wenn Zeit das Leben der Seele wäre, /… / Aber nein. / Nichts geht verloren: Die Zeit sammelt sich in der Seele” (S. 121). Womöglich hätte Henri Bergson, der ingeniöse, unerreichte Zeit-Philosoph, seine Freude an dieser Auffassung.
Ana Blandiana hat ihre einfallsreiche, gern beim Konkreten bleibende Wortkunst auch auf so etwas Kindrelevantes wie den Abzählreim (S. 87) angewendet. „Eins zwei drei/ mir ist es einerlei/ zwei drei vier/ alles ist Theater hier/ vier fünf sechs/ übrig bleibt ein Klecks/ sieben acht neun/ nur ein Tautropfen – so fein/ acht neun zehn / wird mit dir vergehn”.
Der geheimnisvolle Titel des Gedichtbandes ist der letzten Zeile des letzten Gedichts entnommen. Das ist ein patriotisches Gedicht, „Vaterland der Ruhelosigkeit“. Aber im Detail ist mein Vaterland A4 die Papierseite; das Papierformat. Diese sensible Dichterin gibt nur dergestalt reduziert, dergestalt verfremdet das Patriotische wieder. Ganze Generationen von Schreibern sind nicht auf eine solche Idee gekommen und haben den Patriotismus im Gegenteil hypertroph abgehandelt. Sie wurden da oft ausfallend und gehässig gegenüber anderen Ländern; nicht so Blandiana. Sie war dabei eine prominente – und mutige – Gegnerin des Ceaușescu-Regimes. Deshalb wurde sie zu einer legendären Persönlichkeit in der rumänischen Literatur.
Also, man merkt es schon, ich bin entzückt von vielen dieser Gedichte Ana Blandianas. Und auch der Einband des Gedichtbuchs ist gelungen, denn er lässt in seiner – vergrößernden – Ausschnitthaftigkeit vollkommen offen, ob die Dichterin schön aussieht oder ob nicht. Da ist beides möglich. Eine solche bequeme Vorab-Wertung kann der Leser also nicht zu Hilfe nehmen. Dieses Nicht-Festgelegtsein bei den Begleiterscheinungen trägt zu der frappierenden Suggestivität des poetischen Werks der Dichterin nur bei.
Harald GRÖHLER
Ein anderes Universum
Ana Blandianas ,,Variationen über ein gegebenes Thema“

Ana Blandiana: Variationen über ein gegebenes Thema./Variațiuni pe o temă dată. Gedichte Deutsch/Rumänisch. Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ruxandra Niculescu. Pop Verlag Ludwigsburg, 2022, Reihe Lyrik, Band 170. ISBN 978-3-86356-364-6, 149 S., 18,50 Euro.
Mit Versen wie „Der Schlaf ist der geheimnisvolle Weg,/ der die Leben verbindet:/ das Leben vor der Geburt/ mit dem nach dem Tod/ und dem jetzigen.“ / „Hin und wieder/ hielt zwischen uns die Zeit an./ Wir traten aus ihr aus“ erzeugt die Dichterin Ana Blandiana auch in ihrem Gedichtband „Variationen über ein gegebenes Thema” eine zweite Welt. Es ist ein anderes Universum mit lauter verblüffenden Bezügen, ihre Folgerungen und Schlüsse wirken wie das Betreten einer weiteren, sehr neuen Daseinsweise.
Aber gerade das leistet eben die Kunst dieser Frau: so viel in die uns bekannten, altvertrauten Abläufe noch hineinzusehen, dass uns das dann im Endeffekt als eine frappierend erweiterte Existenz erscheint. „Was wäre, wenn wir uns vornähmen,/gleichzeitig voneinander zu träumen/als würden wir uns im Traum treffen?“ (S. 29).
Kein Wunder, dass Ana Blandiana bei ihrem Entwurf einer zweiten Welt auch auf Sachen kommt, an die zum Beispiel ich gar nicht glaube: „Erst mit dem Tod beginnt alles.“ (S. 53). (Ana Blandiana führt das dann fort: „Aber wir wissen nicht was.“)
Nahezu alle Gedichte dieses Bandes sind Liebesgedichte. Sie richten sich immer wieder an den Geliebten. Langsam wird hierbei deutlich: der Geliebte ist nicht präsent. Diese allmählich sich offenbarende Gewissheit verleiht den Gedichten noch zusätzlich einen Schub an Intensität, an Eindringlichkeit.
Der Geliebte ist nie da: darauf spielt auch der Titel des ganzen Bandes an. Der Rezensent gibt aber zu: er hat erst eine Weile herumgerätselt, sind es Mitteilungen an den Freund als an jemanden, der etwa politisch verschleppt worden ist, oder an jemanden, der gestorben ist? Für einen Verschleppten spricht z. B. das Gedicht „… dass du heimkommst/ wie ein Ritter ohne Angst und List.// Und als wäre nicht alles seltsam genug/ …/ will ich über deinen Heimweg nichts wissen/ es genügt mir/ dass du da bist.“ (33). Oder etwa das Gedicht „Wenn wir wie einst noch Mikrophone im Haus hätten, würde man mich beim Abhören sicher für verrückt halten, wie ich mit dir rede (…) und man würde vermuten, dass die Pausen im Gespräch durch konspirative Zeichen gefüllt würden“ (S. 23). Nun, endlich wurde auch mir klar: Blandiana hält Zwiesprache mit einem Verblichenen.
Es ist erstaunlich, was diese Dichterin aus der Situation des Niemals-mehr herausholt, aus den Anreden an einen Gestorbenen. Ein heute rarer Vorzug, dass sie sich dabei nicht zu begriffsmäßigen Konstruktionen versteigt. Der Geliebte wird im Laufe des Buches deutlicher: „Den Schmerz in Gedanken zu zergrübeln/ wurde dir niemals zu viel.// Von Kindheit an haben deine Worte/ einander zerfleischt – lebenslang“ (S. 111). Aber noch viel deutlicher wird die Sprechende, Ana Blandiana; sie vor allem durch das, was sie sich bei ihren Folgerungen vergegenwärtigt. Ihre Liebe tut dem keinen Abbruch; ihre Liebe lässt keine Einfälle verkümmern. „Ich bitte dich um Ratschläge, auf die ich nicht höre, ich gebe dir meine Manuskripte zu lesen und ändere danach nichts.// Wichtig ist, dich in der Nähe zu spüren /nachdem ich vergesse, dass ich dich selbst erfand“ (S. 71).
Und vier entscheidende Zeilen aus dem vielleicht besten Gedicht des Bandes: „(…)/ Aber was heißt verschwinden?/ Wie kann etwas, was es gibt/ nicht mehr sein/ als wäre es nie gewesen?“ (S. 103).
Es geht in ihren Gedanken und in diesen Gedichten oft genug um das Jenseits, um eine Zeit nach dem Tod. Das wird aber keineswegs verkitscht mit ausgelaugten Bibeladaptationen. Ana Blandiana – Tochter eines orthodoxen Priesters – dupliziert da so gut wie nichts. Sie überlegt sich selbstständig die Jenseitswelt, die für sie gewiss ist. „Ich frage mich oft, ob das, was du hier wusstest, dir dort, wo du jetzt bist, etwas nützt, oder ob du alles neu lernen musst“ (S. 59). Und sie entwirft das bemerkenswerte Gedicht um den Spiegel. „,Ich habe einen Pakt mit dem Spiegel‘, sagtest du./ ,Er hat mir geschworen, bis zum Tod/ dich immer so zu zeigen, wie ich dich sehe‘“. Ana Blandiana entwickelt das dann weiter: „Jetzt sehe ich mich im Spiegel/ und warte mit Angst auf die Veränderung./ Aber es passiert nichts:/ was für ein wunderbarer Beweis/ dass du nicht aufhörst mich anzusehen.“ (S. 17). Viel ist schon über die Spiegel gedichtet worden; mit dieser Stoßrichtung wie von der jetzt 81-jährigen Dichterin noch nie etwas. Ana Blandiana wendet sich mit solchen Gedichten zugleich ab von der bloßen Zuständlichkeit der Dinge. Sie bemüht sich allenthalben um Sinngebung.
Die Gedichte Ana Blandianas in dem Band sind freie Rhythmen, manchmal da oder dort gereimt, aber das Ende des Buches enthält einige Sonette – im Rumänischen auch korrekt gereimt –, darunter das erstklassige „Es schneit!“ (S. 109), und dieses Sonett benötigt wieder die andere Welt.
Harald GRÖHLER