Neue Erkenntnisse zur Deportation in die Sowjetunion
Ausgabe Nr. 2883

Ilie Schipor: Die Deportation von Rumäniendeutschen in die UdSSR. Argumente aus russischen Archiven. Honterus Verlag Hermannstadt 2023, 230 Seiten. Deutsche Fassung: Ruxandra Stănescu. ISBN 978-606-008-144-9.
Wer dieser Tage am Hermannstädter Bahnhof mit dem Zug verreist, kann vor der Abfahrt noch gemütlich spätsommerliche Sonnenstrahlen genießen. Viel schlimmer muss die Stimmung hier, in Heltau, Mediasch oder Freck Mitte Januar 1945 gewesen sein, als etliche Waggons mit Rumäniendeutschen in die Sowjetunion abfuhren. Ein nun in deutscher Übersetzung erschienenes Buch zeigt, was zu dieser Deportation in russischen Archiven zu finden ist.
Der Autor des Buches, der rumänische Historiker und Doktor der Militärwissenschaften Ilie Schipor war von 2009 bis 2019 Gesandter-Botschaftsrat an der Rumänischen Botschaft in Moskau. Währenddessen begab er sich in russischen Archiven auf Spurensuche und fand viele Quellen zur Deportation von Rumäniendeutschen in die Sowjetunion. Darin liegt der neue Erkenntnisgewinn des Buches. Die deutschsprachige Forschung konzentrierte sich dagegen bisher auf die Sicht der Deportierten.
Diese Sicht ist aber auch in den russischen Archiven zu sehen: „BITTE ORDNEN SIE IHRE FREILASSUNG AN, DA SIE ÜBER DREISSIG JAHRE ALT UND NERVENKRANK IST UND DAHER ARBEITSUNFÄHIG“, schrieb eine Mutter in einem Telegramm aus Hermannstadt am 25. Januar 1945 um 18.30 Uhr an die sowjetische Alliierte Kontrollkommission, um die Freilassung ihrer deportierten Tochter zu erbitten.
Über zehntausend verschiedene Dokumente, davon die meisten dem deutschen und rumänischen Publikum unbekannt, fand Schipor in den Archiven. Im informativen ersten Teil nutzt er die neu erschlossenen Quellen, um die geopolitischen Umstände und den Ablauf der Deportationen zu schildern.
Die Sowjetunion deportierte die „Volksdeutschen“, allesamt Zivilisten, da sie Reparationen für die im Zweiten Weltkrieg entstandenen Schäden in Form von Zwangsarbeit beanspruchten. Auf Grund des Beschlusses Nr. 7161 des Staatskomitees für Verteidigung am 16. Dezember 1944 wurde angeordnet: „1. Die Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen Deutschen – Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30 Jahren -, die sich auf dem von der Roten Armee befreiten Territorien Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befinden, und ihre Verbringung zur Arbeit in die UdSSR.”
Der Umgang mit den Deportierten, die vor allem in der heutigen Ukraine schuften mussten, wird heute als Kriegsverbrechen gewertet.
Hinter jedem der über 70.000 deportierten Menschen steckte ein einzelnes Schicksal, von denen etwa jedes 13. mit dem Tod in der Ferne endete. Emotionslos, aber sorgfältig führten die Sowjets Buch darüber, wie der Transport organisiert wurde, wieviel die Deportierten zu Essen bekamen oder wer wann starb.
Knapp zwei Drittel der 230 Buchseiten enthalten solche Dokumente aus den russischen Archiven. Teilweise handelt es sich um Anweisungen oder Lagerpläne im russischen Original (hier sind Sprachkenntnisse sinnvoll), hauptsächlich aber Übersetzungen der Originalquellen. Darunter finden sich Todeslisten und die Arbeitsorte der einzelnen Gefangenenbataillone. Das mag besonders für all jene interessant sein, die noch Fragezeichen in ihrer eigenen Familiengeschichte aufklären wollen.
Mit der Übersetzung des Buches von Ilie Schipor wurde der Grundstein gelegt, der die sowjetische Perspektive dieses dunklen Kapitels der deutschen Minderheiten in Rumänien für deutschsprachige Interessierte zugänglich macht.
Weitere Forschung dazu wäre wünschenswert. Doch wegen des Ukraine-Kriegs und den damit verbundenen Einschränkungen für die Wissenschaft sind russische Archive für nichtrussische Historiker seit 2022 kaum mehr zugänglich.
Andreas SIENZ