Reise ins ,,Herz der Finsternis“

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Zum 100. Todestag von Joseph Conrad (1857-1924)

Ausgabe Nr. 2876

Joseph Conrad (1857-1924).

Der britische Schriftsteller polnischer Herkunft hieß eigentlich Józef Konrad Korzeniowski und wurde in Berditschew geboren (damals unter russischer Besatzung, heute Ukraine, Nähe Kiew). Die Eltern entstammten dem polnischen verarmten Adel, der Vater war ein großer polnischer Patriot, der wegen seiner politischen Aktivitäten 1861 verhaftet und in ein Lager nördlich von Moskau verbannt wurde. Die Mutter verstarb dort 1865, der Vater nach der Entlassung 1869. Mit elf Jahren war Józef Vollwaise, kam in die Obhut eines Onkels, der ihn förderte und dem Wunsch des Knaben nachgab, Seemann zu werden. Der 16jährige beginnt 1874 in Marseille seine Ausbildung und geht vier Jahre später nach England. Erst hier erlernt der knapp 20-Jährige die englische Sprache.

 

Weil hier auf die zahlreichen Romane und Erzählungen Conrads (z.B. Almayers Wahn, Der Niemand von der Narcissus, Lord Jim) nicht ausführlich eingegangen werden kann, soll der Fokus auf einem Schlüsseltext liegen, der exemplarisch für die moderne Rezeption des Gesamtwerks von Conrad steht, insbesondere, was die in den letzten Jahrzehnten geführte Debatte über die Folgen des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts für Afrika betrifft. Die Erzählung „Herz der Finsternis“, Originaltitel Heart of Darkness wurde erstmals 1899 in drei Nummern eines Magazins und 1902 als Buch veröffentlicht (Dt. Erstausgabe 1926 im Bd. „Jugend“; eigenständig erst 1933 . – Zitate nach der neuen Übersetzung mit Nachwort des Schweizers Urs Widmer. Diogenes-Verlag, Zürich 2005.)

Die Erzählung besteht aus drei Teilen. Die Reise ins Innerste Afrika beginnt mit der Rahmenerzählung, der anonyme Berichterstatter schildert die Ausgangssituation auf einer Yacht, die London nicht verlassen kann. Die einsetzende Ebbe in der Themsemündung und die anbrechende Dämmerung verhindern das Auslaufen des Schiffes. Fünf Männer sind an Bord: der Kapitän, zwei Kolonialbeamte, Charlie Marlow, der Protagonist der von ihm erlebten Geschehnisse und der anonyme Erzähler, welcher die zurückliegenden Erlebnisse Marlows wortgetreu wiedergibt. – Marlow wird als „Herumgetriebener“ bezeichnet, der nach Jahren auf See in Südostasien nach London zurückgekehrt war und nun als „Süßwassermatrose“ anheuern wollte. – Seine Liebe zur Seefahrt deckt sich mit der Motivation des Autors Joseph Conrad: „Als kleiner Junge hatte ich eine Leidenschaft für Landkarten… Damals gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde. Ein paar von ihnen habe ich aufgesucht… Aber da gab es immer noch einen – den größten , den weißesten sozusagen-, der es mir besonders angetan hatte. – In Tat und Wahrheit war er längst kein weißer Fleck mehr. (…) Er war nun kein leerer Raum für köstliche Geheimnisse mehr – ein lichtes Stück Land, über dem ein Junge von Ruhm und Ehre träumen konnte. Er war ein Ort der Finsternis geworden.“ – Gemeint ist der „Kongo-Freistaat“ (1885-1908) in Schwarzafrika, in Wahrheit ein Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. (1835-1909). Conrad hatte 1890 den Kongo befahren, aber erst nach über zehn Jahren die Erzählung verfasst. Nach zwanzig Jahren auf See erkrankte er auf dieser Reise an Malaria, musste mit 36 Jahren den Beruf aufgeben und widmete sich fortan dem Schreiben von Romanen und Erzählungen unter dem Pseudonym J. Conrad. –

Sein „Held“ Marlow bewirbt sich bei einem großen Handelskonzern und erhält den Auftrag, als Kapitän eines Dampfschiffs den Kongo flussaufwärts zu befahren, weil sein Vorgänger von Eingeborenen ermordet worden ist: „Ich fand die Büros der Gesellschaft ohne Mühe. (…) Sie war gerade dabei, ein Weltreich in Übersee aufzubauen und mit ihrem Handel Geld wie Heu zu verdienen. (…) Ich glaube, ich verpflichtete mich unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse auszuplaudern. Ich begann mich unwohl zu fühlen. Ihr wisst ja, ich bin solche Zeremonien nicht gewöhnt, und etwas Unheilschwangeres lag in der Luft. Es war, als sei ich nun an einer Verschwörung beteiligt…“

Marlows Vorahnungen täuschen ihn nicht. Es ist die Reise in einen Albtraum, zu der er aufbricht. – Auf einem französischen Dampfer landet er an der Westküste Afrikas. Die Passagiere werden von Schwarzen in Booten an Land gebracht – sein erster Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung: „Sie brüllten, sangen; ihre Körper waren schweißüberströmt, sie hatten Gesichter wie groteske Masken – diese Kerle; aber sie hatten Knochen im Leib, Muskeln, eine wilde Vitalität., eine ungeheure Energie in ihren Bewegungen… Es war eine wahre Freude, sie anzuschauen.“ (33f.) Ein Mitreisender bezeichnet die Eingeborenen jedoch als „Feinde“. Endlich an Land, stößt Marlow auf die erste Baustelle, wo sechs am Hals aneinander gekettete Schwarze schwerste Arbeiten verrichten, „aber diese Männer konnte man, auch wenn man die Einbildungskraft noch so sehr strapazierte, nicht Feinde nennen. Sie wurden Kriminelle geheißen… Sie gingen keine Handbreit an mir vorbei, ohne mich anzusehen, mit jener vollkommenen, totenähnlichen Gleichgültigkeit unglücklicher Wilder. (…) Einen Augenblick lang stand ich entsetzt da, als hätte mich eine Warnung erreicht.“ Marlow ahnt, „dass ich im blindmachenden Sonnenlicht dieses Lands die Bekanntschaft eines schlaffen, eingebildeten, schwachsichtigen Teufels machen würde, eines räuberischen und mitleidslosen Wahnsinns.“ – Vom Chefbuchhalter der Handelsgesellschaft erfährt er zum ersten Mal den Namen jenes Mannes, „der so untrennbar mit den Erinnerungen an jene Zeit verbunden ist“, …ein erstklassiger Agent, eine sehr bemerkenswerte Person. (…) Er schickt uns so viel Elfenbein wie alle andern zusammen…“. Spätestens jetzt merkt Marlow, worum es bei den sogenannten Handelsstationen wirklich geht: um die Ausbeutung des kolonisierten Landes, die Lieferung von wertlosen Gütern im „Tausch“ für das heißbegehrte, teure Elfenbein. Der Name des hervorragenden „Agenten“ (nicht in der Bedeutung von Spion!) lautet „Mr. Kurtz“.

Bei der Ankunft in der ersten Station erfährt Marlow, dass der Dampfer, den er befehligen sollte, wegen eines Lecks gesunken ist. Zwar kann er repariert werden, doch monatelange Wartezeit auf die Ersatzteile stellt seine Geduld auf eine harte Probe. Er beobachtet den desolaten Zustand der Kolonialmacht, die Nachlässigkeit und bewusste Zerstörung materieller Ressourcen, Korruption und Faulheit der weißen Beamten und die gnadenlose Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung. Sie werden wie Tiere behandelt, ihr Tod kümmert keinen. – Merkwürdig ist aber, dass selbst die Schwarzen den brutalen Kurtz wie einen Götzen verehren.

Die Schilderung der bedrohlichen Natur des undurchdringlichen Urwalds spielt metaphorisch auf die Höllenbilder in Dantes „Göttlicher Komödie“ an. Besonders beeindruckend ist das titelgebende Bild vom „Herz der Finsternis“, das in unterschiedlicher Weise variiert wird. Marlow stößt immer tiefer in diese Finsternis vor, schließlich muss und will er Kurtz treffen, diesen legendären Agenten, den er inzwischen bewundert. Als er ihm endlich begegnet, ist Kurtz ein sterbenskranker Mann, der in seinem Todeskampf immer noch eine tödliche Gefahr für seine Mitmenschen ist. Marlows Schilderung dieses Alptraums ist überwältigend und kann hier nur knapp wiedergegeben werden: „Als ich an einem Abend mit einer Kerze zu ihm hereinkam, hörte ich ihn zu meiner Verblüffung ein bisschen zittrig sagen: ‚Ich liege hier im Dunkeln und warte auf den Tod.‘(…) Niemals habe ich eine solche Veränderung in einem Gesicht gesehen, und ich hoffe, nie mehr so was zu sehen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war fasziniert. Es war, als sei ein Schleier zerrissen. Ich sah düstern Stolz, erbarmungslose Gewalt, feigen Schrecken auf diesem Gesicht aus Elfenbein, tiefe und hoffnungslose Verzweiflung. Lebte er sein Leben nochmals, jeden einzelnen Wunsch, jede Versuchung und alle Hingabe, während jenes höchsten Augenblicks vollkommenen Wissens? Flüsternd schrie er etwas irgendeinem Bild entgegen, einer Vision – er schrie zweimal, nicht lauter als sein Atmen: ‚Das Grauen! Das Grauen!‘ Ich blies die Kerze aus und verließ die Kabine.“ –

Kurz eingegangen soll auf die Kritik, dass Conrad selbst rassistische Ansichten vertrat. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe (1930-2013), der in den USA lebte und seine Bücher – wie Conrad – auf englisch schrieb, erhob 1975 als erster diesen Vorwurf, schwächte ihn allerdings später etwas ab. – Abschließend kann aus heutiger Sicht festgehalten werden, dass die Erfahrungen und Berichte Conrads über den brutalen belgischen Kolonialismus im Kongo erheblich zur europaweiten Ächtung des belgischen Königs Leopold II. beigetragen hat. –

Die Erzählung wurde mehrfach verfilmt, die berühmteste Adaption ist „Apocalypse Now von Francis Ford Coppola von 1979, die im Vietnamkrieg spielt, mit Marlon Brando in der Rolle des Kurtz.

Konrad WELLMANN

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bildung.