Nachruf auf Kurtfelix Schlattner (1936-2024)
Ausgabe Nr. 2876

Kurtfelix Schlattner (1936-2024).
Mehrfach hatte ich mich bereits von Kurtfelix Schlattner verabschiedet. Immer dann, wenn wir uns in Hermannstadt oder in Rothberg trafen, Wein (er) und Kaffee (ich) getrunken hatten, über so vieles gesprochen und ein Stück des Weges gemeinsam gegangen waren. Er umarmte mich, küsste mich auf die Wangen und ich sagte „auf bald“ oder „bis zum nächsten Mal“. Meist erwiderte er, „das werden wir sehen“ oder „so hoffen wir“. Wenn er dann in seinen alten Volkswagen, seit einigen Jahren in ein Taxi stieg, groß, hager, meist eine Tasche in der Hand, dachte ich daran, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte.
Kurtfelix Schlattner, geboren am 23. Januar 1936 in Arad, war mir als „der Bruder” vorgestellt worden. Der jüngere Bruder von Eginald Schlattner nämlich, mit dessen Leben, Werk und Vorlassbestand ich mich wissenschaftlich auseinandergesetzt habe. Dass er selbst ein wichtiger Akteur war, wurde mir mit jedem Gespräch, mit jedem Text, den ich über die 1950er-Jahre in Rumänien las, deutlicher bewusst. Aufgewachsen als zweites von vier Geschwistern in Fogarasch nahm Schlattner 1957 in Klausenburg ein Studium der Geschichte auf. Schon bald geriet er in den Strudel der Securitate, der nach den politischen Ereignissen im Herbst 1956 in Ungarn auch die deutsche Minderheit Rumäniens erfasste. Im Juni 1958 wurde er festgenommen und im Oktober desselben Jahres wegen „Mitwisserschaft um eine regimefeindliche Organisation” zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als wir uns kennenlernten, in den 2000er-Jahren, wusste ich und wusste doch nicht, was es für ein Menschenleben bedeutet, das zu durchleben, was Kurtfelix Schlattner durchlitten hatte. Irgendwann traute ich mich, danach zu fragen, nach der Gefangenschaft unter furchtbaren Bedingungen, danach, wie man diese Zeit übersteht und wie man mit diesen Erfahrungen weiterlebt. Er erzählte von der verlorenen Jugend, der Angst vor dem Tod und der grausamen Zeit im Strafgefangenenlager Periprava-Grind im Donaudelta. Er berichtete von dem, wie er betonte, schrecklichsten Tag in seinem Leben: Als er im Januar 1963 entlassen wurde, erfuhr er, dass die Schwester Elke bereits zwei Jahre zuvor bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt war.
Das Leben war fortan vorgezeichnet. Die Wiederaufnahme des begonnenen Studiums war vorerst nicht möglich. Auch eine Anstellung bekam er als politisch Vorbestrafter nicht. Erst 1966 konnte er sein Lehramtsstudium im Fachbereich Geografie absolvieren und war anschließend Lehrer in Hermannstadt und Schellenberg. Eine Tätigkeit, die ihn mit Glück erfüllte. Noch Jahre später sprach er mit Freude über diese Zeit und die einstigen Schülerinnen und Schüler. 1984 ging Kurtfelix Schlattner gemeinsam mit seiner Ehefrau nach München, um den Töchtern aus früherer Ehe nahe sein zu können. Den Lehrerberuf konnte er nicht mehr ausüben, eine neue Heimat wurde ihm Deutschland nur bedingt. Als sich in den 1990er-Jahren die Gelegenheit bot, eine kleine Blockwohnung in Hermannstadt zu kaufen, ging das Ehepaar Schlattner zurück. Anfangs lebten sie in Rumänien und in Deutschland, bald immer weniger im Westen, bis sie die Brücken dorthin weitestgehend abbrachen.
In Hermannstadt sah man ihn, der sich vorwiegend im rumänischsprachigen Umfeld bewegte, oft in Cafés und auf Terrassen sitzen. In Rothberg hatte er sich ein Zimmer, die Drachenkammer, eingerichtet. Hierhin zog er sich zurück, las und kommentierte das Weltgeschehen mit einem Rotweinglas in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Ein charmanter, ein liebevoller Gesprächspartner, mit einem ausgesprochenen Hang zum Sarkasmus.
Ob ihm das Sprechen über diese seine Vergangenheit, die Aufarbeitung der politischen Prozesse der späten 1950er-Jahre und die Publikationen, die nach 1990 erschienen oder der Verdienstorden, den ihm Rumäniens Staatspräsident Klaus Johannis im Juni 2018 verliehen hat, geholfen haben, einen Umgang, vielleicht sogar seinen Frieden mit seiner Vergangenheit zu finden, kann ich nicht sagen. Uns, der nachfolgenden Generation, hat er viel gegeben. Kurtfelix Schlattner war Gast auf zahlreichen Akademiewochen des Studium Transylvanicum, wo er offen über eben diese Zeit sprach. Er beantwortete bereitwillig Fragen von jungen Menschen, die bestenfalls eine Ahnung hatten von dem, was ihm widerfahren war, und stellte sich den oft schmerzhaften Erinnerungen. Als Zeitzeuge war er genauso geschätzt wie als Freund und Lebensbegleiter; für sein Engagement im Hinblick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs erhielt er gemeinsam mit Eginald Schlattner den Siebenbürgisch-Sächsischen Jugendpreis.
Am Mittwoch, den 24. Juli 2024 ist Kurtfelix Schlattner in Hermannstadt gestorben. Er fehlt.
Michaela NOWOTNICK