Der Zauber von Augenblicken

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Schreibwettbewerb des Konsulats 2023

Ausgabe Nr. 2848

Das Thema des sechsten Schreibwettbewerbs für deutschsprachige Lyzeaner, den das Deutsche Konsulat Hermannstadt und die Hermannstädter Zeitung veranstaltet haben, lautete: „Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines…” Ersetze die Punkte mit der Bezeichnung eines Tieres und setze den Text fort. In dieser Ausgabe lesen Sie den Beitrag der Drittplazierten Kiss Abigél (Báthori-Gymnasium Klausenburg).

Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines Kaninchen. Es war sehr winzig, ich war ziemlich weit weg von ihm. Ich ging näher an es heran und war überrascht, dass es sich vor mir nicht fürchtete. Als ich so nah war, dass ich es anfassen konnte, bemerkte ich, dass es eine riesige Wunde an seinem Rücken hatte. Ich berührte das kleine Kaninchen langsam, um ihm keinen Schmerz zuzufügen. Es tat mir leid und ich konnte es einfach nicht im Wald lassen. Etwas Seltsames begann in mir zu arbeiten…

Ich nahm es in die Hand und ging mit ihm nach Hause.

Als meine Mutter mich mit dem Kaninchen sah, war sie erstaunt. Ich erklärte ihr, was passiert ist und dass das Kaninchen gestorben wäre, wenn ich es nicht gefunden hätte. Ich wollte mich um es kümmern und meine Mutter erlaubte es. Ich bastelte ihm ein kleines Bettchen und stellte es neben meinem Bett. Mutti hat mir versprochen, dass wir am nächsten Tag zum Tierarzt bringen werden.

In der Nacht wachte ich auf und wollte nachschauen, wie sich das Kaninchen fühlte. Als ich das Licht eingeschaltet hatte, sah, dass es sich leicht bewegte, ich dachte, dass es vermutlich große Schmerzen hatte. Ich griff nach meinem Hörgerät und ich muss hinzufügen, dass ich gehörlos war. Durch diesen Apparat konnte ich hören, wenn ich das überhaupt wollte…

Die Ruhe ist wertvoll, ich konnte mich nie an den Lärm der Welt gewöhnen, in meinem Kopf war normalerweise alles still, außer meinen Gedanken hörte ich nichts. Seitdem ich das Gerät bekommen hatte, war die Ruhe verschwunden. Die anderen Menschen verstehen die Welt der Gehörlosen nicht, sie verstehen nur ihre Sprache, zu der sie Wörter und Stimme brauchen. Unser Leben und unser Hirn ist anders, wir haben unsere eigene Welt, die wir uns vorgestellt haben und nur manche verstehen…

Nachdem das Gerät an seinem Platz war, konnte ich hören wie sehr das Tierchen litt Ich hatte keine anderen Ideen, deshalb nahm ich das Kaninchen in die Hand, und nistete mich zusammen mit ihm in mein Bett ein.

Langsam beruhigte es sich, atmete allmählich gleichmäßig und schlief bald ein. Aber meine Tränen begannen zu fließen. Das kleine Tier erinnerte mich an meinen kleinen Bruder. Als ich sechs und er drei Jahre alt war, starb unsere Mutter bei einem Unfall. Unseren Vater kannten wir nicht, wir wussten nichts über ihn. Und ja, meine Eltern, die mich erzogen haben, sind nicht meine leiblichen Eltern, ich bin adoptiert. Das ist das Geheimnis meines Lebens. Nach dem Tod unserer Mutter gerieten wir in ein Waisenhaus und lebten dort weiter. Für mich war es schwieriger, weil ich gar nichts hörte und nicht reden konnte, aber mein wunderbarer Bruder brauchte dazu keine Wörter, um mich zu verstehen. Er war der Zauberer meiner Augenblicke. Er konnte aus meinen Gedanken lesen und alles übersetzen, was ich sagen wollte. Zurzeit war er alles, was überhaupt in meinem Leben zählte.

Eines Tages kam eine reiche Familie, die meinen kleinen Bruder adoptieren wollte, aber das einzige Problem war, dass sie mich gar nicht wollten, sie wollten kein krankes Kind erziehen. Sie wollten ein gesundes Kind, mit perfekten Fähigkeiten und das war mein Bruder. Unsere Erzieherin wollte nicht, dass sie uns trennen, aber ich wünschte meinem Bruder ein normales Leben und von diesen Menschen würde er alle Möglichkeiten dazu kriegen.

Ich überlegte und musste akzeptieren: Wenn er zu dieser Familie geht, wusste ich genau, dass ich ihn verlieren werde. Aber ich wusste auch, wenn wir jemanden ehrlich lieben, können wir ihn loslassen, wenn dadurch sein Leben besser wird.

In der letzten Nacht, als wir zusammen waren, war er in meinen Armen und dort schlief er ein. Das erste Mal seit dem Tod unserer Mutter habe ich geweint, meine Tränen flossen dann ständig. Das kleine weiße Kaninchen erinnerte mich an die Nacht, als ich akzeptieren musste, dass mein Bruder für immer verschwinden wird. Ich versuchte, die Gefühle vor ihm zu verstecken, damit sie meinem Bruder keinen weiteren Schmerz zufügten. Aber in dieser Nacht tat alles wieder weh, die Erinnerungen kehrten zurück. In dieser Nacht brach alles in mir zusammen.

Dieses kleine Tier hat mir gezeigt, wie sehr mir mein kleiner Bruder fehlte, das Kaninchen war noch winziger als mein Bruder, aber so verwundbar, wie mein Bruder früher. Das Kaninchen brauchte mich und ich fühlte mich wieder so, als ob jemand mich wieder ohne Wörter verstehen würde.

Später lernte ich meine Eltern kennen. Sie waren schon ziemlich alt, als sie sich entschieden haben, dass sie ein Kind adoptieren möchten. Sie wollten ein behindertes Kind erziehen, damit sie ihm eine Chance aufs Leben geben. Sie haben mich ausgewählt und ich kann ganz ehrlich sagen, dass sie die besten Eltern der Welt sind. Sie haben mich unheimlich lieb und ich habe von ihnen alle Möglichkeiten erhalten. Sie haben mir ein sehr teures Hörgerät geschenkt, damit ich mit allen kommunizieren kann. Meine Eltern lernten zwar die Gebärdensprache, aber meine Umgebung konnte das nicht. Zu Hause habe ich den Apparat nie genutzt. Wenn es nicht verbindlich oder nötig war, benutzte ich das Gerät nicht. Die Welt war zu geräuschvoll, ich wollte Ruhe und Geborgenheit, dazu war alles durch den Apparat zu lärmig. Als ich mit meinem Bruder zusammen war, brauchte ich nur Augenblicke und meine Hände, dadurch konnte er alle Gefühle, Verzweiflung und Gedanken verstehen, er begann mir immer mehr zu fehlen.

Ich weiß nicht, wie, aber irgendwie bin ich eingeschlafen. Am nächsten Tag gingen wir zum Tierarzt, der sagte, dass es mit dem kleinen Hasen kein großes Problem gab, er brauchte nur Medikamente, Futter und Creme auf die Wunde. Zwei Tage später war er schon ganz gesund.

Ich war erst sechzehn Jahre alt, seit acht Jahren habe ich nichts von meinem Bruder gehört, bevor das Kaninchen namens Zauberer Junior in meinem Leben erschienen war. In jedem Moment dachte ich an ihn, ich könnte mich einfach auf nichts anderes konzentrieren.

Daher wollte ich mit ihm Kontakt aufnehmen, ich erinnerte mich an den Namen der Familie, die ihn adoptiert hatte. Auf einem sozialen Netzwerk habe ich ihn gefunden, ich wollte ihm schreiben, aber so ganz wusste ich nicht, ob er sich an mich erinnerte oder ob er tatsächlich mein leiblicher Bruder war. Ich war verzweifelt, aber ich wollte es wissen, deshalb habe ich die folgenden Zeilen geschrieben:

„Hallo! Ich bin Maya Müller, es scheint zwar seltsam zu sein, aber ich bin vermutlich deine Schwester. Glaub bitte nicht, dass ich verrückt bin, ich muss mich davon überzeugen, ob du mein Bruder bist oder nicht. Wenn du mein Bruder bist, wäre es gut, wenn wir uns treffen könnten. Ich möchte dich zu nichts zwingen. Viele Grüße Maya“.

Nachdem ich die Nachricht geschickt hatte, beruhigte ich mich. Ich umarmte Zauberer Junior und fast gleich kam die Antwort:

„Hallo Maya! Ich bin Jonas, wann treffen wir uns? MFG, dein Bruder.“

Ich war unglaublich froh, wir haben uns entschieden, dass wir uns am nächsten Tag im Park begegnen.

Ich saß auf einer Bank, Zauberer Junior neben mir. Ich war schon zwei Stunden früher da, um mich nicht zu verspäten. Ich las in einem Buch. Ich griff nach meinem Handy, holte es heraus und ließ es in meine Tasche gleiten. Ich brauchte es jetzt nicht. Danach nahm ich das Kaninchen in die Hand und sagte: „Danke, Schätzchen! Du bist mein zweiter Zauberer …“.

Und dann tauchte Jonas auf und zeigte mir nur ein Wort: „Endlich …“.

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bildung.