Ausgabe Nr. 2819
Die sechs Besten bei der diesjährigen Landesphase des Schülerwettbewerbs im Fach Deutsch als Muttersprache erhielten je ein HZ-Jahresabonnement als Sonderpreis. Es handelt sich um Sophie Dahinten, Mühlbach, 7. Klasse, Nora Lucia Zoe Becker, Arad, 8. Klasse, Maria Măndăchescu, Bukarest, 9. Klasse, Martin Arvay, Kronstadt, 10. Klasse, Paula Dörr, Hermannstadt, 11. Klasse und Isabella Hoffmann, Neumarkt, 12. Klasse.
In dieser Ausgabe lesen Sie den Aufsatz von Martin Arvay (Johannes-Honterus-Gymnasium Kronstadt), der folgende Aufgabe zu lösen hatte: Verwende diesen Textausschnitt in einer Geschichte. Finde auch eine passende Überschrift: „Und da reden Sie einem die Ohren voll, wie die Dinge enden oder anfangen! Sie können ein noch so großer Schlaukopf sein, aber kein Mensch auf Erden kennt den Anfang oder das Ende von dem, was er tut. Es gibt nur eins, Kamerad: Tun, was man für richtig hält, und das Beste hoffen.“ (Gerald Kersh: Schicksal und Gewehrkugel)
Der Weg in die Freiheit
Draußen herrschte Dunkelheit. Dunkelheit und Kälte. Aus der Ferne hörte man Explosionen. Drinnen im Zelt, bei Kerzenschein, aßen wir unsere tägliche Ration zum Abendessen. Es herrschte eine trübe Atmosphäre, vermischt mit Angst, Ungewissheit und Zweifel. Jann, mein Kamerad, blickte zu mir. „Es wird klappen“, sagte er. Ich nickte nur. Ich konnte das aufsteigende Gefühl der panischen Angst nur schwer unterdrücken.
In den vergangenen Monaten haben wir die Zeit damit verbracht, auf Franzosen, Engländer und inzwischen auch auf Amerikaner zu schießen. Es gab keine ruhige Nacht. Fast alle Soldaten waren mit den Nerven am Ende. Ständig hörte man Explosionen. Mal aus der Ferne, mal aber auch recht nahe. Im letzten Fall war die Explosion meist durch Ächzen und Stöhnen gefolgt und das Lazarett wurde weiter gefüllt. Jeden Tag gab es mehrere Tote und noch viel mehr Verletzte. Wer unversehrt blieb, musste kämpfen. Zuzuschauen, wie Soldaten um mich herum starben, war schrecklich. Aber für mich war es noch schlimmer, auf feindliche Soldaten zu schießen. Ich konnte mich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, Leute zu erschießen und sie dann auf dem Gewissen zu haben. Jann hatte mal dazu gesagt: „In der Wildnis gibt es eine klare Regel: Fressen oder gefressen zu werden. Genauso ist es hier: Töten oder getötet zu werden.“ Leider hatte er Recht. Doch mich ließ der Gedanke nicht los, dass dieses Gesetz ja eigentlich nur für die Wildnis, für die wilden Tiere galt. Ist die Menschheit so tief gesunken, dass wir jetzt wie solche handeln? Wann verstehen die Menschen nur, dass es bei einem Krieg keine Gewinner, sondern nur Verlierer gibt? Mit der Zeit kam uns dann der Gedanke, einfach damit aufzuhören. Wir beide hatten den Krieg satt. Wir waren nur zu zweit: Jann und ich. Wochenlang hatten wir uns auf diesen Moment vorbereitet, haben Pläne geschmiedet, alle Möglichkeiten bedacht, jeden Tag uns ein bisschen Essen beiseitegelegt und doch fühlte ich mich noch nicht bereit. Wir beide wussten: Klappt es nicht und werden wir geschnappt, werden wir wegen Verrates getötet.
„Es wird gut, es wird klappen!“, sagte Jann nochmals, um sich Mut zu machen. Ich nickte wieder. Nach einiger Zeit sagte ich aber: „Das können wir nicht wissen. Das kann niemand wissen. Unser Führer meinte auch, er könne die Weltherrschaft erlangen. Und da reden sie einem die Ohren voll, wie die Dinge enden oder anfangen! Man kann ein noch so großer Schlaukopf sein, aber kein Mensch auf Erden kennt den Anfang oder das Ende von dem, was er tut. Es gibt nur eins, Kamerad. Tun, was man für richtig hält, und das Beste hoffen.“
Das Beste hoffen, das war das einzige, was wir jetzt tun konnten. Die Hoffnung hat uns am Leben gelassen. Die Hoffnung war die Kraft, die uns vorantrieb.
Die Spannung wuchs. Ich legte mich hin, um mich auszuruhen. An Schlaf konnte man nicht denken. „Es ist Zeit“, sagte Jann nachher. Ich schätze die Uhrzeit auf zwei Uhr morgens. „Volle Konzentration jetzt!“, sagte ich mir. Leise schlichen wir beide aus dem Zelt, nachdem wir die Kerze ausgeblasen hatten. Unser Plan war es, aus dem Frontgebiet in den Wald zu flüchten. Dort wollten wir uns den Weg in die Alpen, in die Schweiz, durchschlagen. Auf dem Rücken hatten wir beide unsere Rucksäcke mit Proviant für eine Woche. An unseren Gürteln war je eine Pistole für die Notfälle festgeschnallt.
Wie zwei Schatten krochen wir lautlos aus dem Zelt. Danach mussten wir mit der Leiter aus dem Graben klettern. Mit angehaltenem Atem rannten wir so schnell wir konnten über die freie Fläche bis in den nächsten Graben. „Wer da?“, ertönte es plötzlich ganz laut. „Mist, eine Wache muss uns entdeckt haben!“, dachte ich mir. Wir klebten uns so gut es ging an die Wand und blieben unbewegt stehen. Schritte näherten sich. Ich wunderte mich, wie die Wache mein klopfendes herz nicht hören konnte. Mir wurde fast schlecht vor Aufregung. Am Boden näherte sich ein Lichtkegel. Er kam immer näher. Jann schaute mich vielsagend an. Gemeinsam stürzten wir uns auf die Wache, die nur noch zwei Meter von uns entfernt war. Vor Schreck ließ sie die Taschenlampe fallen. Mit einem schnellen Schlag auf den Hinterkopf betäubte ich die Wache, bevor sie Alarm schlagen konnte. Der Schweiß floss in Strömen… Erleichtert atmeten wir auf.
Schnell kletterten wir auch aus diesem Graben heraus. In gebückter Haltung liefen wir über das Feld. Ich stolperte, stand auf, rannte weiter. Immer nur weiter. Wir kletterten über einen Zaun, die Jacken blieben am Stacheldraht hängen, wir rissen uns los und liefen weiter. Immer nur weiter. Der Wald war noch hundert Meter entfernt. Dann nur noch fünfzig, fünfundzwanzig, zwanzig, dann nur noch zehn Meter. Unter dem Schutz der Bäume hielten wir endlich. Wir hatten es geschafft! Vor Freude weinend fielen wir uns um den Hals. Der Weg in die Freiheit war frei. Ab nun kein Schießen, kein Töten, kein Kämpfen mehr. Nur noch Frieden.