Österreichische Erstaufführung der ,,karpatenflecken“ von Thomas Perle
Ausgabe Nr. 2817
An diesem Abend weht ein leichtes Mailüftchen in der Wiener Innenstadt und viele junge Menschen stehen in kleinen Gruppen plaudernd und lachend vor dem Eingang zum Vestibül des ehrwürdigen Burgtheaters. Dieses gilt auch heute noch als eine der bedeutendsten Bühnen Europas und ist nach der Comédie-Française das zweitälteste europäische sowie das größte deutschsprachige Sprechtheater.
Die Stimmung ist gelöst und man wartet auf das charmante Zeichen der Billeteurin, die nicht nur die Eintrittskarten kontrolliert, sondern auch die schwere Tür öffnet, um den Zuschauerraum endlich freizugeben. Knapp vor 20 Uhr ist es dann soweit: ich lasse mich mit dem Besucherstrom in den wenig beleuchteten Theatersaal treiben und habe Glück, denn ich finde in der Dunkelheit auf Anhieb meinen Sitzplatz. Das Programm fest umklammert harre ich der Dinge. Die in Schwarz getauchte Bühne ist karg bestückt und lässt erahnen, dass der Text das Bühnenbild ersetzt.
Ich bilde mir ein, dass ich Thomas Perle, den Gewinner des Retzhofer Dramapreises 2019 und Autor der ,,karpatenflecken“ – umringt von seinen Freunden – vor dem Eingang schon gesichtet hatte: Er wirkt sympathisch, nicht exzentrisch, eher bodenständig. Ein Mitdreißiger, der mit diesem Stück einerseits die Vergangenheit seiner „teitschen“ Familie in den Fokus rückt, aber gleichzeitig die wechselhafte Geschichte von Monarchie, Faschismus, Kommunismus und zwei Weltkriegen auf sie projiziert.
Thomas Perle wurde 1987 in Oberwischau/Vișeul de Sus im Norden Rumäniens geboren. Die Vorfahren der Oberwischauer stammen u. a. aus Oberösterreich, aus der Gegend von Gmunden, aber auch aus der heutigen Slowakei, genauer aus der Region Zips. Einst lebten in der Gegend von Oberwischau ca. 6000 Karpatendeutsche – heute sind es gerade noch 500 und es werden jährlich weniger. Auch die Familie von Thomas Perle emigrierte 1991 nach Deutschland.
Aber zurück zum Theaterstück: Obwohl der Geburtsort immer derselbe ist, wurde die Großmutter im Königreich Rumänien geboren, ihre Schwester dann unter Reichsverweser Miklós Horthy in Ungarn, die Tochter kam in der Volksrepublik Rumänien zur Welt und die Enkelin erblickte das Licht der Welt kurz vor dem Ende der Sozialistischen Republik Rumänien. Die Lebensgeschichten dieser Frauen, die zeitlebens einer Minderheit angehörten, fügen sich zu einem historischen Panorama, das vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Fall des Eisernen Vorhangs reicht. Nicht zuletzt geprägt von Hoffnungen, die auf ein besseres Leben im Westen abzielen.
Besonders interessant, aber ungemein verstärkend ist die fast vergessene Sprache, die Thomas Perle seinen Protagonistinnen auf den Leib schreibt: das „Zipserisch“ – ein Dialekt der Karpatendeutschen, der in Oberwischau gesprochen wird und eine gelungene Mischung aus Altöstereichischem, Rumänischem, Ungarischem und Jiddischem darstellt. Und trotzdem klang es für mich als Wienerin sehr vertraut und war ohne Schwierigkeiten zu verstehen.
Wie sehr der Autor seine eigenen oft bitteren Erfahrungen als Migrant in die ,,karpatenflecken“ einfließen lässt, zeigt folgende Sprachsequenz der Enkelin:
den osten/hörten sie/auf meiner zunge./lachten./sah den ostblock mir an./die karpaten wie flecken auf meiner haut ließen sich nicht weg/ostblock/ostblock/ostblock
Hatten doch die „teitschen“ Auswanderer nur ein Ziel, nämlich Westeuropa. „Westeuropa ist ein schönes Land. Nein, kein Land, mehr ein Ort, an dem man vom Boden essen kann, weil er so sauber ist. Es ist ein Ort, an dem sich alle Menschen kennen und nett zueinander sind, weil sie alle im Geiste Geschwister sind. Es ist der Ort, an dem Schokolade auf den Bäumen wächst, Milch mit Honig in den Flüssen fließt, Zucker und Blumen vom Himmel regnen und Spielsachen aus dem Boden wachsen.“ (Quelle: Thomas Perle: ,,wir gingen weil alle gingen“)
Doch die Ernüchterung folgt rasch. Perle sieht es für sich als Kind bzw. Jugendlicher rückblickend so: „Ich bin sehr, sehr dankbar, Teil beider Welten zu sein. In Rumänien geboren, in Deutschland aufgewachsen und leb aber jetzt so im Dazwischen, leb in Österreich, leb ja nicht in Deutschland, und guck jetzt so von außen auf meine Herkunftsländer so hin und weiß, was es bedeutet eben als Migrant in Deutschland aufzuwachsen (…) in Rumänien in einer Familie geboren worden zu sein, für die man immer deutsch war (…) und dann kam man nach Deutschland und war plötzlich die rumänische Familie (…) durfte dann in meiner Jugend erst mal herausfinden, wer ich eigentlich bin ohne mich wirklich zu finden…“ (Quelle: Video 2021/,,Thomas Perle im Autor:innenatelier“/Deutsches Theater Berlin)
In ,,karpatenflecken“ klingt das aus dem Mund der Tochter wie folgt:
geh dorthin zurück woher du gekommen! geh dorthin zurück!/zurück zurück!/geh dorthin /dorthin zurück mit dir! /denke mir ich bin/doch/von hier/bin ich doch. /teitsch/in deutschland./ist nicht dasselbe.
Der lange und steinige Weg der Identitätsfindung mündet bei Thomas Perle im Schreiben. Er sieht seine Aufgabe darin, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, um sie zum Nachdenken zu bringen; einzig und allein mit dem Ziel aus der Geschichte zu lernen, einzig und allein mit dem Ziel für eine bessere Zukunft: wollen helfen bei den blühenden landschaften/herr kohl!/tauschten einen bauern gegen dicken kohl.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte ja speziell unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl Rumäniendeutsche gegen Geld – eine Art Kopfgeld – aus dem kommunistischen Rumänien freigekauft und ihnen damit eine legale Ausreise in den Westen ermöglicht.
In ,,karpatenflecken“ schildert die Tochter die Realität in der neuen Heimat u. a. folgendermaßen:
meine mutter geht jetzt fleißig arbeiten steht am fließband jetzt./und putzt/nebenbei putzen wir. /das diplom meines vaters haben sie anerkannt zum glück!/was für ein glück wir haben./das diplom kann er sich jetzt anschauen der vater zuhause /spätabends/nach seiner schicht./auch er sortiert im lager pappkartons.
Trotzdem resümiert sie:
wir bleiben./ich gehe sicher nicht mehr zurück!
Thomas Perle sieht seine ,,karpatenflecken“ als Antwort auf den im Jahre 2015 aufkeimenden „hässlichen“ Nationalismus. Als Vorbild für gelebte Vielsprachigkeit dient ihm sein Geburtsort Oberwischau mit seinen vielen dort ansässigen Ethnien.
Nach mehr als einer Stunde endet die österreichische Premiere von ,,karpatenflecken“. Das Publikum ist begeistert und frenetischer Applaus umhüllt die Schauspielerinnen, aber man zollt auch so dem mittlerweile auf der Bühne erschienenen Autor seinen Respekt.
Beeindruckt von dem Theaterstück trete ich hinaus ins Freie, atme tief durch, als mir im selben Moment ein Gedanke durch den Kopf schießt, der mich unwillkürlich zum Schmunzeln bringt: Wie hätte sich wohl der unvergessliche Wiener Film- und Bühnenschauspieler Oskar Werner (1922-1984) dazu geäußert, wenn auf der Bühne des Wiener Burgtheaters ,,Zipserisch“ Einzug hält!
Ingrid WEISS