Wenig beachtet: Guillermo del Toros ,,Pinocchio“
Ausgabe Nr. 2813
Ein Preisträger der diesjährigen Oscar-Verleihung, der wenig Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs findet, ist Guillermo del Toros ,,Pinocchio“. Die düstere Filmversion des Kinderbuchklassikers ist ein Antikriegsfilm, hinterfragt die Bedeutung des Lebens und macht Animationsfilme für Erwachsene wieder salonfähig. Daher gewann del Toros Film berechtigt den Preis für den besten Animationsfilm.
Ein diktatorisches Italien zur Zeit des zweiten Weltkrieges: Vater Geppetto hat gerade seinen Sohn Carlo in einer brennenden Kirche verloren, als er im betrunkenen Zustand den Holzjungen Pinocchio schnitzt.
Auf den ersten Blick hat diese Variante der Geschichte nichts gemeinsam mit der ursprünglichen Variante des Schriftstellers Carlo Collodi. Wer den Blick genauer wagt, wird allerdings einen der besten Filme des letzten Jahres finden. Guillermo del Toros ,,Pinocchio“ versucht überhaupt nicht so zu sein wie Adaptionen von Disney und Co.
Vielleicht ist es genau das, was den Stop-Motion-Animationsfilm auf Netflix so besonders macht. Del Toros Pinocchio ist düster und hinterfragt ziemlich schnell Machtgefälle, Kriege, Diktaturen und den Tod.
Allerdings ist es zudem ein Film über einen Vater und seinen Sohn aus Holz, der Emotionen ganz groß an die Glocke hängt. Als Geppetto blind vor Wut Pinocchio als Bürde bezeichnet, macht sich Pinocchio nachts auf, um einen Job zu finden und seinen Vater stolz zu machen. Er landet erst bei einem Zirkus, später in einem Militärcamp der italienischen Kriegsjugend und abschließend im Maul eines Seemonsters. Gleichzeitig bemerkt Vater Geppetto seinen Fehler recht schnell und reist seinem Holzjungen hinterher. Am Ende gibt es einen spannenden wie traurigen Twist, der unglaublich gut zur neuen Adaption passt.
Die vorhandenen Nebenfiguren sind ebenfalls ein Faktor, der diesen Film gut macht. Egal ob die poetisch sprechende Grille Sebastian J. Cricket, der italienische Junge Candlewick oder der Zirkusaffe Spazzatura, alle sind mit Liebe zum Detail ausgearbeitet. Del Toro schafft es, seinen Nebencharakteren genauso viel Tiefe zu geben, wie er sie seinen Hauptakteuren gibt.
Ebenfalls beeindruckend ist das Spiel mit der beklemmenden Atmosphäre des Films. Neben der offensichtlichen Kriegsthematik, wird der Film durch die Frage nach Leben und Tod getragen. Die Schwestern „Tod” und „Blaue Fee” glänzen hier besonders in ihren Rollen als Lebensnehmerin und Lebensgeberin. Gleichzeitig geben sie Pinocchio unglaublich viele Weisheiten mit auf den Weg, was den Film anspruchsvoller und philosophischer macht, als das ursprüngliche Werk.
Auf der anderen Seite finden wir den menschlich wirkenden Holzjungen Pinocchio, der in die düstere Atmosphäre so viel Leichtigkeit und Licht dank seiner naiven Art hineinbringt, wie es nur ein Kind kann. Besonders berührend sind seine Lieder, das glückliche „Everything is new to me” hält mit Klassikern wie „What’s this?” aus „Nightmare before Christmas” mit. Das gefühlvolle „Ciao Papa” entlockt dem Zuschauenden wahrscheinlich die eine oder andere Träne.
Generell wirkt Del Toros Pinocchio wie ein modernes Animationswunder und reiht sich stimmungstechnisch bei „Pans Labyrinth” oder kreativen Welten von Tim Burton ein. Genau diese erwachsene Atmosphäre ist es, die dem Film eine Altersbewertung von ab 12 Jahren gebracht hat.
Von den Kritiken hoch gelobt und mit zahlreichen Preisen wie einem Oscar oder Annie ausgezeichnet, ist Pinocchio, trotz seiner zwei Stunden Laufzeit, ein kurzweiliger und mysteriöser Film. Er beweist, dass sich Produktionen bei Netflix lohnen, wenn man ihnen nur die richtige Federführung gibt.
Maja HENNEMANN