Ein angemessenes ,,visuelles Gedächtnis“

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Buchvorstellung und Konzert mit Protagonisten aus Luxemburg im Thaliasaal

Ausgabe Nr. 2772

Buchvorstellung im Kellergeschoss (v. l. n. r.): Daniel Plier, Heinke Fabritius, Marc Schroeder und Makcim Fernandez Samodaiev.                                                                               Foto: Aurelia BRECHT

„Order 7161“ war die Bezeichnung des Geheimbefehls Stalins, der die Deportation von etwa 70.000 Rumäniendeutscher zur Wiederaufbauarbeit in die Sowjetunion als Reparationsleistung zur Folge gehabt hatte. Am 26. Mai 2022, Christi Himmelfahrt, stellte der Luxemburger Marc Schroeder sein zwischen 2012-2015 entstandenes Fotobuch „ORDER 7161“ mit Erinnerungen  von und Gesprächen mit ehemaligen Deportierten vor. Einen besseren Ort als die „Chimnița“ (Keller) unter der Bühne des Thaliasaales in Hermannstadt konnten die Veranstalter sicher nicht finden.

Veranstalter waren die Kulturreferentin für Siebenbürgen, Dr. Heinke Fabritius, sowie der Honorarkonsul des Großherzogtums Luxemburg in Rumänien, Daniel Plier.  Bestuhlt mit einfachen Holzstühlen, die alle besetzt waren, und eingeleitet vom improvisierten, der Atmosphäre des Ortes angepassten Cellospiel des Hermannstädter Cellisten Makcim Fernandez Samodaiev, Orchestermitglied der Staatsphilharmonie Hermannstadt, wurde der Zuhörer eingenommen und so  vorbereitet für eine beeindruckende Präsentation.

Marc Schroeder und Botschafterin Elisabeth Cardoso mit dem Fotobuch ,,ORDER 7161″.Foto: Daniel PLIER

Der Hintergrund, das Bühnenbild, leicht verschwommen, aber unverkennbar eine Fabrik (Arbeitsstätte) – war passend, ja es kooperierte mit den auf Grund der vergangenen Jahre verschwommenen Erinnerungen der ehemaligen Deportierten, die im Fotobuch zu Wort kommen. Vor dieser Kulisse, in das leiser werdende, ausklingende Cellospiel, betrat Mariana Mihu-Plier vom Radu Stanca-Nationaltheater Hermannstadt die Szene mit einer furiosen, hoch emotional vorgetragenen Textpassage, gelesen aus dem großartigen Roman „Dincoace și dincolo de tunel 1945″ von Mariana Gorczyca. Nach einer dem Vortrag angemessenen Atempause stellte der Mitveranstalter und aktiv teilnehmende Schauspieler und Honorarkonsul des Großherzogtums Luxemburg, Daniel Plier, Marc Schroeder vor und begrüßte als Veranstalter die sehr zahlreich erschienenen Gäste. Seine folgende Lesung aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ – unter dem Motto ,,Hunger ist kein Gegenstand“, war nicht weniger emotional und dem Thema entsprechend empathisch vorgetragen als der seiner Ehefrau, Mariana Mihu-Plier.

So war  alles bereitet  für die eigentliche Fotobuchvorstellung, von der kompetenten Dr. Heinke Fabritius und dem  Autor und Fotograf Marc Schroeder als  Interview inszeniert. Der Autor, der Rumänien seit 2007 immer wieder bereiste, beschrieb seine Motivation für das Buch damit, der Vergangenheit der Deportierten mit ihren Erinnerungen ein Gesicht zu geben. Marc Schroeder beschrieb das so: Das im vorgestellten Fotobuch „Order 7161“ vermittelte Wort und das Bild seien ein „Dokument der Vergangenheit der Menschen“. Der eigentliche Akt des Fotografierens der besuchten „Ehemaligen“ war ein Weg des Herstellens von Vertrauen, der auch nicht immer erfolgreich gewesen ist: Nicht alle wollten sich fotografieren lassen, aber reden wollten alle.

Die Cellistin Anik Schwall nimmt den Applaus des Publikums entgegen, dem sich auch der Dirigent Carlo Jans im Hintergrund anschließt.                                                                 Foto: Mihai COLIBABA

Das Misstrauen gegenüber einem Foto hat nicht in der Person Marc Schroeder gelegen, sondern, wie das Publikum erfahren konnte, in den Traumata der zu Fotografierenden, die in ihrer Vergangenheit lagen. Umso mehr ließen die Ausführungen  erahnen, wieviel Energie und Zeitaufwand Marc Schroeder investiert hat, um Vertrauen  bei den Menschen zu schaffen, um die in seinem Fotoroman gezeigten Bilder machen zu können –  gelebte Erinnerungen. Mehrere Tage verbrachte er mit den Protagonisten seines Buches, um seine Absicht einzulösen, den Lesern und Betrachtern die emotionale Qualität der Bilder und der Texte nahe zu bringen. Die Frage nach der Herausforderung, die in Worten gefassten Erinnerungen und die Bilder in den Rahmen eines Buches zu setzen, beantwortete Schroeder eindrucksvoll so: ,,Ja es ist eine Herausforderung. Wir versuchen mit unterschiedlichen Papiersorten, Papierfarben, nicht immer gleichfesten, auch  mit rauem Papier die geeignete Wahrnehmung über die Griffigkeit beim Leser zu fordern“. Man spürte als Zuschauer, sitzend in der „Chimnița“, während den Antworten auf die gestellten Fragen von Dr. Heinke Fabritius an Marc Schroeder die Dramatik in dem „Zurück in der Zeit“.

Den Abschluss der Veranstaltung – nennen wir sie  die verlorene Jugend der  interviewten Deportierten, die jetzt ein angemessenes „Visuelles Gedächtnis“ haben  –  bildeten die von den Schauspielern Mariana Mihu-Plier und Daniel Plier in deutscher bzw. rumänischer Sprache vorgetragenen Gedichte von Oskar Pastior – ,,Der Chor der glücklichen Mütter (derer, die heimgekehrt sind)“ bzw. ,,Der Chor der unglücklichen Mütter (derer, die nie mehr heimkehren)“ -, Auszüge aus dem Roman ,,Atemschaukel“ der Nobelpreisträgerin Herta Müller und aus dem von Beatrice Ungar ins Deutsche übersetzten Roman „Diesseits und jenseits des Tunnels 1945“ von Mariana Gorczyca.

Die Veranstaltung erfreute sich auch der Teilnahme der Botschafterin des Großherzogtums Luxemburg in Athen, I. E. Elisabeth Cardoso, die seit 31. März 2022 im Amt ist und nun zum ersten Mal Rumänien besucht hat.

Botschafterin Cardoso begrüßte im Anschluss von der Bühne des Thaliasaals das Publikum bei dem sinfonischen Konzert, in dessen Mittelpunkt zwei Luxemburger standen: der Dirigent Carlo Jans und die Cellistin Anik Schwall. Sorin Lerescus 7. Sinfonie erklang als Welturaufführung, danach Max Bruchs ,,Kol Nidrei op. 47″ und Alexander Glazunovs ,,Chant du Ménestrel“ mit Anik Schwall als Solistin und zum Schluss ,,Moods“ eine Komposition des Luxemburgers Marco Pütz.

Lothar SCHELENZ

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kunst.