Antje Schmidt-Classen und das Hermannstädter Taubstummenheim
Ausgabe Nr. 2765
In diesen wirren Zeiten der inneren und äußeren Not und Bedrängnis habe ich nicht in den Medien der Massenkommunikation nach Trost und Hoffnung gesucht, sondern in Schriften, die mit ihren Lesern die Zwiesprache suchen, und bin dabei in der Apostelgeschichte auf folgende Verse gestoßen: „Denn ich habe von niemandem Silber oder Gold oder Kleidung begehrt. Denn ihr wisst selber, dass mir diese Hände zum Unterhalt gedient haben für mich und die, die mit mir gewesen sind.“ (Apg 20,33-34)
Nun war die Zwiesprache mit diesen Zeilen kein Wechselspiel von Frage und Antwort. Sie wirkten vielmehr als Erfahrung, dass im Glaubensleben die Verbindung mit dem Alltag allein gesucht und auf alle persönlichen Fragen eine zusammenhängende Darstellung gefunden werden kann. Somit auch auf solche Vorgänge, die – nach dem historischen Versagen der Mächte dieser Welt – im Falle einer totalen Konfrontation alles Leben zu zertrümmern drohen.
So hat die Zusammenstellung der Bilder dieser Verse meine Zwiesprache mit der Textstelle zu einer reinen Seele geführt, die auch gegenwärtig, heute noch, unbeirrt und zuversichtlich, in einzigartiger Weise ihre Berufung ausübt. Es ist die einstige Lehrerin Antje Schmidt-Classen aus Siegen in Deutschland, die nach 25 Jahren Schuldienst ihren Beruf den Hermannstädter gehörgeschädigten Kindern zuliebe aufgegeben hat und ihre Hilfs- und Opferbereitschaft in bewegender Weise für die hörgeschädigten Kinder wie auch für Not leidende Familien in Hermannstadt einsetzt.
Doch zurück zu den Anfängen, zu den „Quellen“, die Folgendes preiszugeben haben: Nach den historischen Ereignissen des Jahres 1989 war Hermannstadt Schauplatz des Handelns und Wirkens von Persönlichkeiten, die das Geschehen jener Zeit auf einer neuen Grundlage geprägt haben. Zu jenen Männern der ersten Stunde gehört zweifelsohne der erste demokratisch gewählte Bürgermeister von Hermannstadt, und das war der Ingenieur Sorin Inocențiu Șerbu, der im März 1992 dieses Amt übernommen und im Jahre 1995 abgeben musste und der über die Fülle der Geschehnisse und Begegnungen in jener Zeit ein Erinnerungsbuch geschrieben hat. Es ist unter dem Titel „Sub sigla democrației. Primul primar al Sibiului ales democratic după revoluția din 1989″ (Unter dem Siegel der Demokratie. Der erste nach der Revolution von 1989 demokratisch gewählte Bürgermeister von Hermannstadt) im Jahre 2020 im Hermannstädter Andreiana Verlag erschienen, mit einem Vorwort Seiner Heiligkeit Dr. Laurențiu Streza, Erzbischof von Hermannstadt und Metropolit Siebenbürgens.
Beim Lesen dieses Buches ist mir merkwürdig zum Bewusstsein gekommen, dass kein anderer von den Trägern der politischen, administrativen oder sozialen Verantwortung jener Zeit, aber auch der folgenden Jahre, in seinen überlieferten Schilderungen der Zeit-
ereignisse dem Wirken von Antje Schmidt-Classen in Hermannstadt Bedeutung geschenkt hat – zur Beherzigung und zum Zeugnis des Zugetragenen und des an das Wunderbare grenzenden Wirkens von Antje Schmidt-Classen.
Anders jedoch der frühere Bürgermeister Sorin Inocențiu Șerbu, der in seinen lesenswerten Memoiren ein anerkennendes Kapitel der denkwürdigen Begegnung mit Antje Schmidt-Classen im Jahre 1993 widmet und darin an die bedeutsame Weise erinnert, in der sie den Weg zum sozialen Handeln an der Hermannstädter Schule für gehörlose Kinder (gegenwärtig: Centrul Școlar pentru educație incluzivă Nr. 2 Sibiu – Școala pentru persoane cu deficiente de auz/Schulzentrum für Inklusive Erziehung Nr. 2 / Schule für gehörgeschädigte Personen) gefunden hat – ein gesellschaftliches Wirken, für das sie bereits im November des Jahres 1991 zur Ehrenbürgerin von Hermannstadt ernannt worden war. Er erwähnt darin auch, dass Antje Schmidt-Classen vom Präfekten des Kreises Hermannstadt – das war der engagierte, inzwischen verstorbene, für sein Tun geschätzte Dipl.-Ing. Nicolae Nan – auf die Wirklichkeit der sozialen Strukturen und der Organisation hingewiesen worden ist, unter denen die institutionalisierte Betreuung und Erziehung der gehörgeschädigten Kinder in Hermannstadt stattfand.
Es war kein leichter Weg, der Antje Schmidt-Classen, die für ihre private Unterstützung notleidender Menschen in Rumänien bereits am 28. Juni 1991 von dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden war, zu ihren ersten Erfolgen führte. Denn das nach den Plänen des Architekten Maetz im heutigen Schulhof im Jahre 1886 errichtete Gebäude der Rumänischen Mädchenschule mit Internat des ASTRA-Vereins, im Jahre 1939 (vom Architekten Cernea und der ASTRA als Bauherr) zum heutigen zweistöckigen Schulgebäude umgebaut, beherbergte nicht nur die äußere Armut und die innere Not zahlreicher hörgeschädigter Kinder. Es ließ zugleich auch erkennen, dass die Schule für hörgeschädigte Kinder als Institutionen jener Zeit (dem damaligen Status entsprechend: Școala cu Internat pentru Deficienți de Auz; von den Hermannstädtern als Taubstummenschule zur Kenntnis genommen) zwar von einer bestimmten staatlichen Autorität und Organisation abhängig war, dass jedoch für Kinder mit Behinderungen die Verfahrensweise dieses Trägers äußerst mangelhaft und nachteilig war. Diese sozialen Zusammenhänge und ein solches abweichendes institutionelles Verhalten, das die Kinder mit Behinderungen nicht förderte, sondern zu widerstreitenden, ja sogar benachteiligenden sozialen Zusammenhängen führte, ließen Frau Antje Schmidt-Classen feststellen, dass die Hermannstädter Taubstummenschule eine deutliche Anerkennung verlange und diese auch erfahren müsse. Und es begann damit, dass die Schulbehörde des Kreises Hermannstadt und das Bürgermeisteramt von Hermannstadt ihr – man staune und wundere sich! – am 18. Juli 1990 vertraglich zusicherten, das Schulgebäude auch künftig ausschließlich als Sonderschule für Gehörbehinderte zu nutzen. Und geschehen ist weiterhin, dass Frau Antje Schmidt-Classen im Januar 1991 in Siegen, mit Liebe und Mühe und zusammen mit sechs Freundinnen, den Verein „Paten des Taubstummenheims Hermannstadt/Rumänien e. V.“ gründete, der damals rund 800, später über 1.200 Mitglieder zählte. Die Maxime allen Handels dieses Patenvereins ist seit seiner Gründung das Motto „Gebt den Kindern eine Chance!“, und dies war auch der Grundsatz, die Richtschnur aller folgenden Zusammenarbeit wie auch der – mit Hilfe des Präfekten – im Jahre 1991 abgeschlossenen Verträge über diese Zusammenarbeit. So mit dem Staatssekretariat für Behinderte (Bukarest) und ebenso mit dem Inspektorat für Behinderte des Kreises Hermannstadt, denen am 24. Mai 1993 auch das Unterrichtsministerium beigetreten ist. Und um die notwendige Versorgung der taubstummen Kinder teilweise zu sichern, wurden mit Landwirtschaftsvereinen aus Neppendorf und Großau Kooperationsverträge abgeschlossen, die – wann wurde je gehört, dass ein solches geschehen sei? – dem Taubstummenheim jahrelang wichtige Grundnahrungsmittel wie Getreide, Kartoffeln und anderes Gemüse lieferten und denen man dafür landwirtschaftliche Maschinen und Saatgut zur Verfügung stellte.
Doch über das gesamte weitere, jahrzehntelange Wirken von Frau Antje Schmidt-Classen am Hermannstädter Schulzentrum für Inklusive Erziehung Nr. 2 zu berichten, sei anderen überlassen. Erwähnt sei hier nur noch, dass Frau Antje Schmidt-Classen in den letzten (auch Pandemie-)Jahren das Schulzentrum mit Spendenmitteln in Euro zur Ausstattung der Unterrichtsräume mit visuellen Arbeitsmitteln zur Verbesserung der Schüler-Lehrer-Interaktion gefördert hat. Weiterhin mit den notwendigen finanziellen Mitteln zur Einrichtung eines Entspannungsraums zur Entwicklung und Steigerung der multisensorischen Wahrnehmung bei Kindern mit Autismus wie auch bei Kindern mit Koordinationsproblemen und lokomotorischen Schwierigkeiten. Und ebenso mit einer beträchtlichen finanziellen Hilfeleistung zur Gestaltung eines Raumes zur Entspannung und Therapie von Kindern mit Autismus, die schon seit einigen Jahren zu den Schützlingen des Hermannstädter Schulzentrums für Inklusive Erziehung gehören. Zuzüglich sind im laufenden Jahr weitere bereitgestellte Mittel in Höhe von 10.000 Euro zur Neugestaltung des Schulhofs zu investieren.
Diese Darstellung der Bestimmung der Schirmherrin des Taubstummenheims Hermannstadt als Lebensaufgabe kann jedoch nicht abgeschlossen werden, ohne dass erwähnt wird, dass sich Frau Antje Schmidt-Classen im Bewusstsein ihrer Verantwortung auch weiterhin zur Größe ihrer Hilfsbereitschaft erhoben hat. Denn sie hat dem Hermannstädter Schulzentrum, wo vom 13. bis 16. April 2022 die Landesphase des Leistungswettbewerbs der Schulen für Inklusive Erziehung stattfinden wird, an dem die 7. und 8. Klassen dieser Schulen teilnehmen werden, 3000 Euro gespendet. Es ist – vor allem in diesen Zeiten des sichtbaren Wahnsinns und der Barbarei – ein weiteres Zeichen der ungebrochenen Zusammengehörigkeit, die seit Jahrzehnten zwischen Frau Antje Schmidt-Classen und den behinderten Kindern und den Lehrerinnen und Betreuerinnen der Schule besteht, die die Heimstätte ihrer Schützlinge zu einer Stätte der Geborgenheit und der Zuversicht erhoben haben.
Wenn ich somit gefragt werde, wer mir in den späteren Jahren meines Lebens zunächst vertraut, darauf mit ihrem Wirken und Schaffen zur Verkörperung von christlicher Nächstenlieben und Opferbereitschaft, von Güte und Herzenswärme, zum Zusammenhang meines Lebens geworden ist, dann gehört zu den schicksalsverbundenen Freunden dieser Zeit unweigerlich Frau Antje Schmidt-Classen. Denn sie ist durch ihre Hochherzigkeit und ihren Großmut, durch ihren Opfersinn und ihren Beistand, insbesondere durch ihre Herzenswärme sowohl für die hörgeschädigten Kinder wie auch für viele Hermannstädter Bedürftige zum Symbol der Hilfsbereitschaft und der Unterstützung und zum Inbegriff der Fürsorge und der Solidarität geworden.
Gerhard KONNERTH