Kurzporträts der Rahel Varnhagen und der Franziska zu Reventlow (Teil II)
Ausgabe Nr. 2724
Während (die in der HZ-Ausgabe Nr. 2722/14. Mai 2021 porträtierte) Rahel, geb. Levin (1771-1833), ihr Leben lang danach strebte, die gesellschaftliche Anerkennung auch durch Heirat mit einem Adligen zu erreichen, bricht die adlig geborene Fanny sehr früh mit der Familie und deren Stand, ohne allerdings auf ihren Adelstitel zu verzichten. Sie wird in die Literaturgeschichte als „Skandalgräfin“ der Münchener Bohèmeszene eingehen. Um 1900 ist der Stadtteil Schwabing das Mekka zahlreicher Literaten, Künstler und Kabarettisten, die eine bayerische Form des „Fin de Siècle“ praktizieren.
Fanny (als Autorin: Franziska) zu Reventlow kam am 18. Mai 1871 auf Schloss Nevershuus bei Husum als fünftes von sechs Kindern des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow und seiner Frau Emilie, geb. Gräfin zu Rantzau, zur Welt. Die Familie gehörte übrigens zum Bekanntenkreis des realistischen Schriftstellers Theodor Storm, welcher in seiner Novelle „Im Schloß“ das Anwesen der Familie als Schauplatz wählt.
Schon als Kind fühlt sich Fanny von der Mutter nicht geliebt und rebelliert gegen deren sehr strenge Erziehungsversuche zur „höheren Tochter“, die eine standesgemäße Ehe eingehen soll. Während die älteste Schwester Agnes der Mutter in der Haushaltung beisteht, wünscht sich Fanny ein Junge zu sein und Hosen tragen zu dürfen. Doch all die harten Maßnahmen der Mutter tragen keine Früchte bei der jugendlichen Rebellin. Selbst die „Abschiebung“ in ein adliges Internat endet nach einem Jahr wegen Aufsässigkeit. Danach wird sie zu Verwandten in Schleswig gebracht, wo ihre Tante Fanny zu Rantzau das Maltalent der Nichte fördert. Die Eltern geben das Schloss auf und ziehen 1989 nach Lübeck. Hier tritt Fanny dem „Ibsenclub“ bei, dessen Mitglieder die damals modernen Autoren Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew sowie Ibsen, Zola und Nietzsche lesen und diskutieren. Da knüpft sie erste Liebesbeziehungen mit Gleichaltrigen. Fanny trotzt den Eltern die Ausbildung im Lehrerinnenseminar ab, das sie 1891-92 besucht und absolviert. Als die Eltern von ihren Männerbekanntschaften erfahren, wird sie zum „Arrest“ in einem Pfarrhaus verdonnert, aus dem sie flieht und bei einer Freundin und früheren Mitschülerin in Wandsbek (Hamburg) untertaucht. – Im nächsten Jahr erkrankt ihr Vater schwer. Die Familie verweigert Fanny einen letzten Besuch am Sterbebett. Der älteste Bruder übernimmt die Vormundschaft und droht ihr mit Entmündigung wegen angeblicher Geisteskrankheit. Um dieser Gefahr zu entgehen, verlobt sie sich mit dem Gerichtsassessor Walter Lübke. Da er Fannys Maltalent ebenfalls erkennt, finanziert er ihr eine Ausbildung an einer privaten Kunstschule in München, in der auch Jawlensky und Kandinsky verkehren. Gleichzeitig erscheinen Fannys erste literarische Versuche in den „Husumer Nachrichten“.
In München geht sie eine Liebesbeziehung zu dem Maler Adolf Herstein ein, der sie schwängert, sie aber nicht heiraten will und ihr rät, zu ihrem Verlobten zurückzukehren. 1894 ehelicht sie Walter Lübke in Hamburg und erleidet kurz darauf eine Fehlgeburt, die sie ihrem Mann verschweigt. Da sie in der Ehe unter den ihr auferlegten gesellschaftlichen Pflichten leidet und seelisch-geistig zu verkümmern droht, erlaubt ihr Mann einen weiteren Aufenthalt in München. – Anfang 1895 beginnt sie Tagebuch zu führen, aus dem hervorgeht, dass sie zeitweise depressiv ist. Eine der Ursachen ist der Scheidungsprozess, den Walter wegen Ehebruchs seiner Frau 1896 gewinnt. Fanny aber erkrankt schwer und muss sich mehreren Operationen unterziehen. Als sie allmählich gesundet, nimmt sie neue Kontakte zu den Literatenkreisen Münchens auf, u. a. zu Rainer M. Rilke, der sie verehrt und ihr einige Gedichte widmet. Sie lernt den Verleger Albert Langen kennen, für den sie in den kommenden Jahren zahlreiche Bücher von Maupassant und Marcel Prévost übersetzt. Sie muss nun eigenes Geld verdienen und ist gezwungen, sich zeitweise zu prostituieren. Am 1.Sept. 1897 kommt ihr Sohn Rolf zur Welt, den sie abgöttisch liebt und allein erziehen wird. Den Namen seines Vaters hält sie für immer geheim. –
Die nächsten Jahre in München sind geprägt von zahlreichen Bekanntschaften in von Männern dominierten Künstlerzirkeln, die Fanny schätzen, da sie geistig und sinnlich emanzipiert, literarisch aktiv ist und freizügig lebt. Ihre Malversuche gibt sie weitgehend auf, weil sie begreift, dass ihr Talent als Malerin ihre Existenz nicht sichern kann. Von nun an ist sie Autorin: Sie übersetzt, veröffentlicht Aufsätze und schreibt Bücher. Es erscheinen 1888/89 die feministischen Essays „Das Männerphantom der Frau“ und „Was Frauen ziemt (Viragines oder Hetären?)“ und der autobiographische Roman „Ellen Olestjerne“ (1903). Sie pflegt Freundschaften oder Beziehungen zum Stefan-George-Kreis (Karl Wolfskehl) und zu den „Kosmikern“ (Ludwig Klages), die sie – gegen ihren Willen – als „heidnische Hetäre“ verehren und zur erotischen Muse stilisieren, worüber sie sich in ihrem Schlüsselroman „Herrn Dames Aufzeichnungen“ (1913) lustig machen wird. Unkonventionell ist weiterhin ihr privates Leben in einer Dreier-WG (=Wohngemeinschaft) mit ihrem polnischen Liebhaber Bohdan von Suchowski und Franz Hessel (1880-1941), dessen spätere Dreiecksbeziehung zwischen seiner Frau und dem Franzosen Henri-Pierre Roché von Francois Truffaut verfilmt wurde („Jules und Jim“, 1953). Das Trio reist mit dem Sohn Rolf 1904 nach Italien, wo Fanny eine Frühgeburt von Zwillingen erleidet. Beide Mädchen überleben nicht, das eine wird tot geboren, das andere stirbt kurz nach der Geburt. Es folgen weitere Schicksalsschläge, der Tod der Mutter und des Bruders Ludwig (1905/06). Nach erneuter Krankheit und Operation versucht sie wieder mit Übersetzungen und Glasmalerei Geld zu verdienen. Ihren notorischen Geldmangel verarbeitet sie in einem ihrer letzten Bücher „Der Geldkomplex“ (1916). – Wie so oft erfindet sich Fanny neu: Von 1910 an ändert sie ihr Leben: Sie zieht mit Rolf nach Ascona (Schweizer Tessin) auf den Monte Verità, aber nicht der Lebensreformer wegen, die hier eine Kolonie gegründet haben (zu der u. a. auch die Siebenbürger Ida Hofmann sowie die Brüder Karl und Gustav Gräser gehörten). Hier verfasst sie ihren Roman „Herrn Dames Aufzeichnungen“ (1913), in dem sie das Treiben der Bohème in Schwabing („Wahnmoching“) verschlüsselt wiedergibt. Ein Jahr zuvor war der Roman „Von Paul zu Pedro. Amouresken“ erschienen, in dem sie ihre zahlreichen erotischen Abenteuer zu einer Männertypologie verarbeitet.
Da scheint die Rettung aus der finanziellen Misere zu nahen: Ihr wird eine Zweckheirat bzw. Scheinehe mit dem baltischen Baron Alexander von Rechenberg-Linten nahegelegt, den sein alter Vater zu enterben droht, wenn der hoch verschuldete Sohn keine standesgemäße Ehe eingeht. Die Trauung wird 1911 vollzogen, doch der Baron kann erst erben, wenn sein Vater stirbt. Als es soweit ist, stellt sich heraus, dass die Bank pleite gegangen ist, in der das Geld angelegt wurde. Sie muss weiter übersetzen und Bücher schreiben.
Nach Ausbruch des Weltkriegs erscheinen ihre letzten Bücher: „Der Geldkomplex“ (Motto des Romans: Meinen Gläubigern zugeeignet) und die Novellensammlung „Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel“ (1916) – Ihr nun 19jähriger Sohn wird Soldat und wird – anfangs begeistert – an die französische Front eingezogen, während Fanny von Ascona nach Muralto umzieht. Im nächsten Jahr desertiert ihr Sohn bei einem Fronturlaub, indem er über den Bodensee vom deutschen zum schweizerischen Ufer rudert, wo seine Mutter ihn erwartet. Ihr letztes Manuskript („Der Selbstmordverein“) bleibt Fragment …
Am 26.Juli 1918 stürzt sie bei einer Talfahrt mit dem Fahrrad und stirbt am folgenden Tag an inneren Verletzungen. Sie wurde nur 47 Jahre alt. Ihre Lebensdaten decken sich mit der Dauer des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918). – Ihr früherer Freund Franz Hessel würdigte sie 1926 mit den Worten: „Die Gräfin hat, wie wohl niemand sonst, den Reiz, den Wert und das Lächerliche dieser jetzt versunkenen Welt gekannt, geliebt und verspottet … Und wie in dieses Wahnmoching (Schwabing), hat die Gräfin … in die Münchener Bohème die Schönheit und den Adel ihres Wesens getragen … sie brachte das beste Teil der Gesellschaft, der sie entflohen war, mit und schuf aus kahlen und überfüllten Ateliers und Mansarden einen Salon, in dem sie vornehmer empfing und bessere Konversation machte als ihre Vettern und Basen auf Schlössern und in politischen Salons.“
Wenn man abschließend Fanny zu Reventlow mit ihrer „Vorläuferin“ Rahel Varnhagen vergleichen will, kann man Parallelen und Gegensätze erkennen. Beide Frauen sprühen vor Geist und Witz, sind neugierig auf das Leben und die Gesellschaft. Während Rahel unter ihrer Herkunft und ihrer mangelnden Schönheit leidet, ihr aber durch Heirat der gesellschaftliche Aufstieg gelingt, bricht die schöne Fanny mit den adeligen Kreisen und muss dafür einen lebenslangen Preis zahlen, immer am Existenzminimum lebend. Beide erleben mehrere enttäuschende Liebesbeziehungen, erkämpfen und bewahren sich aber ihr Leben lang Freiheit und intellektuelle Selbstständigkeit. Beide führen über Jahrzehnte ausführliche Tagebücher und schrieben Briefe, die uns heute viel über die Zustände ihrer Epochen zu sagen haben.
Fazit: Zwei bewundernswerte Vorläuferinnen der weiblichen Emanzipation!
Konrad WELLMANN
Literaturhinweise
Franziska Sperr: Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich. Das Leben der Franziska zu Reventlow, btb-Verlag, München 1995
Ulla Ebringhoff: Franziska zu Reventlow, Rowohlt Taschenbuch, 2020
Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin. Biographie. Aufbau-Verlag Berlin 2008