10 Tage Theaterfestival in Hermannstadt vergingen wie im Flug
Ausgabe Nr. 2486
Alles hat ein Ende. Auch das von meisten Hermannstädtern langersehnte Internationale Theaterfestival. 10 Tage lang war die Stadt so lebhaft wie ein Bienenstock. Dazu trugen die insgesamt 2.850 Künstler bei, die aus 70 Ländern der Welt angereist waren und in insgesamt 449 Shows aufgetreten waren. Ein Erlebnis, das nur so enden konnte, wie es begonnen hatte: mit einem riesigen Feuerwerk am Sonntagabend. Sogar fußballerisch gesehen, war das Ende wie der Anfang. Denn wieder verlor Rumänien genau zeitgleich mit dem Feuerwerk, diesmal gegen Albanien und musste die Europameisterschaft in Frankreich verlassen.
Der Höhepunkt der zweiten Hälfte des Festivals war wohl der Auftritt der Hamburger vom Thalia-Theater, in der Regie von Luk Perceval. „Liebe. Trilogie meiner Familie I“ hieß das Theaterstück, das in der ausverkauften Redal Expo-Halle, im Lazarett-Viertel, am letzten Theaterfestivalabend gezeigt wurde. Der belgische Regisseur Luk Perceval bringt eines der gewaltigsten Romanwerke der Literaturgeschichte auf die Bühne: „Die Rougon-Macquart“ von Emile Zola. Aus den insgesamt 20 Romanen, in denen die Gesellschaft des zweiten französischen Kaiserreichs (1852-1870) anhand einer weit verzweigten Familie beschrieben wird, will der Regisseur drei Aufführungen inszenieren. Der erste Teil ist der „Liebe“ gewidmet und darin verarbeitet Perceval die Romane „Der Totschläger“ und „Doktor Pascal“, das Finale der 20-bändigen Reihe.
Eine riesige Holzwelle beherrscht die Bühne. Sie ist glatt und steil, wie das Schicksal der Figuren aus Zolas Romanen. „Ich will glücklich sein, vollkommen, endgültig, für alle Zeit will ich glücklich sein.“ Mit diesem Satz beginnt das Theaterstück und genau das Gegenteil passiert. Die beiden Hauptfiguren, Doktor Pascal und die Wäscherin Gervaise sind alles andere als glücklich. Letztere, hinreißend von Gabriela Maria Schmeide interpretiert, ist eine alleinerziehende, proletarische Mutter, die von ihrem Geliebten und Vater der Kinder sitzengelassen wird. Als ihr ein Arbeiter hofiert, wehrt sie ab, denn „mit den Männern sei sie fertig“. Doch dann wird sie doch schwach und gibt nach. So beginnt ihr Abstieg und wie ihre Mutter geht auch sie am Alkohol zugrunde.
Doktor Pascal, gespielt von Stephan Bissmeier ist der Intellektuelle, der Wissenschaftler, der die Gesetze der Vererbung erforscht. Er geht eine inzestuöse Beziehung mit seiner Nichte Clothilde, gespielt von der Luxemburgerin Marie Jung, ein.
Dieses Theaterstück zeigte, dass es nur wenige Requisiten braucht, um eine Geschichte zu erzählen. Die Schauspieler sind da die wichtigsten. Und während der zwei Stunden kam keine Sekunde Langeweile auf. Nur eine Lüftung oder eine Klimaanlage hätte dem körperlichen Wohl sowohl der Zuschauer als auch der Schauspieler sehr gut getan.
Dieses Problem gab es im „Gong“ Kinder- und Jugendtheater wenig. Die Klimaanlage funktionierte zwar während den Vorstellungen nicht, aber vorher auf Hochtouren und man bekam als Zuschauer gelbe von der Raiffeisen Bank gesponserte Plastikfächer, die vor allem von den Damen sehr gerne genutzt wurden. Oana Pellea war der Star des Freitagnachmittags. „Idolul și Ion Anapoda“ von George Mihail Zamfirescu hieß das Theaterstück, das Oana Pellea und Richard Bovnoczki als Hauptakteure zeigte. Regie führten Mariana Cămărășan und Toma Dănilă. Alles dreht sich um die Liebe und wie alle Figuren in die falsche Person verliebt sind, teilweise ohne es zu wissen. Um es kurz zu fassen: gute Schauspieler, sehr viel Humor, sehr großer Unterhaltungswert, wenig zum Nachdenken.
Kein Theaterfestival ohne Shakespeare, und schon gar nicht im Jahr dessen 400. Todestages. Diesmal hatte man gleich zwei Stücke zur Auswahl: „Was ihr wollt“ aufgeführt vom Metropolis-Jugendtheater aus Bukarest und „Ein Sommernachtstraum“, gezeigt von „The Actor’s Gang/Tim Robbins“ aus den USA. Letzteres war ein voller Erfolg und wurde zwei Mal, am 16. und 17. Juni im Thaliasaal gezeigt. Die Schauspieler übertrieben maßlos und schienen nur dafür da zu sein, um das Publikum zu unterhalten. Und das schafften sie auch ununterbrochen.
Eugenio Barba ist ein Name, den Theaterliebhaber aus aller Welt kennen. In Hermannstadt hat der 79-jährige italienische Regisseur vor drei Jahren einen Stern auf der „Ruhmesmeile“ an der Oberen Promenade bekommen. Am Samstag, den 18. Juni, wurde das Stück „The Chronic Life“ gezeigt, das von Schauspielern des Odin Teatret aus Dänemark interpretiert wurde. „The Chronic Life“ von Ursula Andkjær Olsen und Thomas Bredsdorff spielt im Jahr 2031 nach dem Dritten Weltkrieg. Im Hintergrund der schmalen Bretterbühne, derer entlang sich nur wenige Sitzreihen links und rechts ziehen, baumeln überdimensionierte Fleischerhaken. Flüchtlinge, Witwen, Rockmusiker und Söldner treffen aufeinander und jeder spricht eine andere Sprache, jeder erzählt seine eigene Geschichte. Sehr aussagekräftige, starke Bilder prägen sich einem als Zuschauer ein: tropfendes Eis, zugeklebte Augen, ein Spielkarten- und dann ein Münzenregen. Es ist nur wenigen im Publikum klar, was auf der Bühne vor sich geht. Es ist ein Stück, über das man sich vorher dokumentieren muss, um etwas zu verstehen. Wer mit Barbas Stil vertraut war, hat das Schauspiel genossen.
Das Theaterfestival bot nicht nur großartige Theateraufführungen, sondern neben Konzerten, Workshops, Film- und Tanzvorführungen auch Buchvorstellungen. Am letzten Festivaltag durften die Hermannstädter einer ganz besonderen Buchvorstellung beiwohnen: Christel Ungar stellte ihren dritten und neuesten Gedichtband „Rot/roșu“ im schmucken Festsaal der Astra-Bibliothek vor. Rot war die Blume, die man am Eingang an die Brust angesteckt bekommen hat, rot die Kerzen, die die Treppen schmückten, rot die Briefumschläge, die brav auf den Stühlen im Saal auf ihre neuen Besitzer warteten und rot war auch der Umschlag des Bandes, der von Stefan Orth gestaltet wurde. Die beiden Schauspieler Mariana Mihu und Daniel Plier boten einen sehr lebendigen zweisprachigen Vortrag der Gedichte, während Jürg Leutert am Klavier und Brita Falch-Leutert an der keltischen Harfe die Musik dazu improvisierten. Die Lesung hatte mehr Theatrales als vorher erahnt, so als steckte ein Regisseur dahinter.
Die bekannte Autorin und Übersetzerin Nora Iuga übernahm die Vorstellung des Gedichtbandes und schrieb auch das Vorwort. 31 Gedichte sind in dem roten Band enthalten für deren Übersetzungen Beatrice Ungar, Chefredakteurin der Hermannstädter Zeitung und Schwester der Autorin zuständig ist. In ihrem Vorwort schreibt Nora Iuga: „Ja, stellen Sie sich vor, Christel Ungar sagt sich in diesem Band nicht los von dem primären Instinkt des Dichters, ausschließlich Liebesgedichte zu schreiben, da ihr von dem kombinatorischen Eifer des Erfinders, der Homunkuli schaffen möchte, ungetrübter Instinkt etwas weiß, was jeder wahrhaftige Dichter wissen müsste, nämlich, dass die Poesie gleichzeitig mit diesem ungewissen Zustand des Verliebens auf die Welt gekommen ist.“ Liebe und Leidenschaft sind „ein Feuer, das mitten im Eis brennt/ und verbrennt“, wie es so schön in dem titelgebenden Gedicht „Rot“ heißt.
„Rot/roșu“ ist im Honterus Verlag Hermannstadt, mit der finanziellen Unterstützung des Departements für Interethnische Beziehungen durch das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien und Hermannstadt gedruckt worden.
Die Straßenshows, seit Jahren ein wichtiger Bestandteil des Festivals, haben auch dieses Jahr das Publikum magisch angezogen: Wie die Kinder aus Hameln dem berüchtigten Rattenfänger folgten die Zuschauer den verschiedenen Truppen durch die Heltauergasse bis zum Großen Ring, wo meistens ein weiteres Stück aufgeführt wurde oder ein Konzert stattfand.
Besonders an den letzten Nachmittagen und Abenden des Festivals spielte das Wetter auch mit, so dass die Konzerte und riesigen Puppen großen Applaus erhielten. So erfreute die italienische Truppe „Triuggio Marching Band“ mit Blasmusik und einer passenden Show genauso wie die spanische Tanztruppe „Torrevieja Carnival Group & Batucada Timbaloe“, mit lateinischen Karnevalrhythmen und -tänze das Publikum und ließ auch manchen Mutigen mittanzen. Eine Zuschauerin aus Bukarest stellte begeistert fest: „Die wecken sogar die Toten auf mit ihrer Musik!“
Die „Ruhmesmeile“ an der Oberen Promenade wird auch von Jahr zu Jahr immer länger, heuer kamen sieben Sterne zu den 18 bereits existierenden hinzu. Geehrt wurden Victor Rebengiuc, Tim Robbins, Luk Perceval, Christoph Marthaler, Thomas Ostermeier, Yevgeny Mironov und Alvis Hermanis. Die Ehrendiplome überreichte ihnen die frisch gewählte Bürgermeisterin Astrid Fodor, den größten Applaus erhielt der rumänische Schauspieler Victor Regenciuc, der sich bei dieser Gelegenheit verstohlen eine Träne vom Gesicht abwischte. Diese Anerkennung sei eine große Ehre für ihn, sagte der Schauspieler und versprach, sich nicht gleich morgen von der Bühne zurückzuziehen, denn noch sei er nicht bereit, Bilanz zu ziehen.
Über diese Ehre freute sich auch der US-Schauspieler Tim Robbins, der zwar dem Publikum als Filmschauspieler besser bekannt ist, allerdings auch als Theaterschauspieler und -regisseur gefeiert wird. Er sei sehr glücklich über den Stern und sei beeindruckt über die Zuwendung und Unterstützung, die dieses Festival erhält, sowohl seitens des Publikums, als auch seitens der Behörden. Der Schauspieler, der seinen Aufenthalt extra einen Tag verlängerte, um „Faust” in der Regie von Silviu Purcărete zu sehen, versprach auch, in Zukunft wieder eine seiner Produktionen in Hermannstadt zu präsentieren.
Inwieweit das in den nächsten Jahren möglich sein wird – falls es wieder im Rahmen des Internationalen Theaterfestivals stattfinden sollte – bleibt offen, denn der Festivalsdirektor Constantin Chiriac erklärte, dass man bereits Verträge mit berühmten Theatergesellschaften für das Jahr 2023 unterschrieben habe und dass bereits jetzt das Programm für die Auflage von 2017 (9. -18. Juni) zu 80 Prozent feststehe.
Die 23. Auflage des Internationalen Theaterfestivals endete am Sonntagabend mit einem spektakulären Feuerwerk auf dem Großen Ring, bei dem erstaunlich viele Zuschauer dabei waren, obwohl zeitgleich das EM-Vorrundenspiel Rumänien – Albanien lief. Doch die meisten Theaterfans freuen sich schon auf die nächste Auflage, wenn es wieder heißt: Vorhang auf und Bühne frei!
Cynthia PINTER
Ruxandra STĂNESCU
Foto 1: Das 23. Hermannstädter Internationale Theaterfestival ehrte am Samstag weitere sieben Persönlichkeiten. Unser Bild: Gruppenbild auf der Ruhmesmeile an der Oberen Promenade (v. l. n. r.): Luk Perceval, George Banu, Victor Rebengiuc, Bürgermeisterin Astrid Fodor, Tim Robbins, Konsulin Judith Urban (die für Thomas Ostermeier die Ehrenurkunde entgegennahm), Yevgeny Mironov, Alvis Hermanis und Festivalsdirektor Constantin Chiriac.
Foto: Sebastian MARCOVICI
Foto 2: Szenenfoto aus Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ mit der „Schauspielerbande“ außer Rand und Band…
Foto 3: Szenenfoto aus „Idolul și Ion Anapoda“ von George Zamfirescu mit Florina Gleznea, Oana Pellea und Richard Bovnoczki (v. l. n. r.).
Fotos: Adrian BULBOACĂ
Foto 4: Christel Ungar bei der Vorstellung ihres neuesten Gedichtbandes in dem Festsaal im alten Gebäude der Astra-Bibliothek.
Foto: Fred NUSS
Foto 5: Die Kantate „Käpt’n Noahs schwimmender Zoo“ von Michael Flanders und Joseph Horovitz führte am Donnerstag der Jugendchor der evangelischen Kirchengemeinde Hermannstadt unter der Leitung von Brita Falch-Leutert in der Ferula der evangelischen Stadtpfarrkirche auf, am Klavier begleitete Jürg Leutert das Geschehen. Eigens dafür hatten Ilse Philippi, Helga Pitters und Dagmar Misachevici einen Regenbogen genäht.
Foto: Beatrice UNGAR