Ausgabe Nr. 2452
Selektive Nachlese zum 22. Astra Film Festival in Hermannstadt
1.500 Dokumentarfilme aus 90 Ländern, aufgeteilt auf sieben Tage. Dieses Fazit konnte Dumitru Budrala, der Leiter des Astra Film Festivals, am Samstagabend bei der Preisverleihung im Thaliasaal, in Hermannstadt ziehen. Es war auch in diesem 22. Jahr seit der ersten Ausgabe des Festival keine leichte Angelegenheit für die hochqualifizierte Jury, einen Gewinner für jede Kategorie zu wählen. Das Rennen machte heuer „Spartacus & Cassandra“, in der Regie von Ioannis Nuguet aus Frankreich, der den Großen Preis einheimste.
„Spartacus & Cassandra“ beschreibt das bewegende Schicksal zweier rumänischer Roma-Kinder in Paris. Als das Haus ihrer Familie abbrennt, werden die Geschwister in die Obhut der 21-jährigen Trapezkünstlerin Camille gegeben. Die junge Frau ermöglicht ihnen ein Leben in Sicherheit: Sie erfahren Zuneigung, fassen Vertrauen und sehen einer hoffnungsvolleren Zukunft entgegen. Zugleich stellen diese Erfahrungen die Beziehung der Kinder zu ihren Eltern auf die Probe, denn in der Person der Trapezkünstlerin finden sie Zuneigung und die Hoffnung auf eine behütete Zukunft.
Der Film befasst sich mit der Frage, ob Kinder zugunsten eines besseren Lebens von ihren Eltern getrennt werden dürfen. Auf eindrückliche Weise dokumentiert der Regisseur Ioannis Nuguet diesen Konflikt und lässt den Zuschauern das Schicksal der Geschwister unter die Haut fahren – für die Jury eine beeindruckende Leistung, die durch den Großen Preis des Filmfestivals entsprechende Würdigung fand.
In der Kategorie bester rumänischer Film gewann der Dokumentarfilm „Outside“ (deutsch: „Himmelverbot“) in der Regie von Andrei Schwartz. Es wurde in diesem Film ein weiteres sehr beliebtes Thema gewählt: wie ein Mörder versucht, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und sich ein neues „anständiges Leben“ aufzubauen. Der Regisseur Andrei Schwartz lernte seinen Protagonisten Gabriel vor zehn Jahren während der Dreharbeiten zu „Jailbirds – Geschlossene Gesellschaft“ (2005), einem Dokumentarfilm über das rumänische Hochsicherheitsgefängnis Rahova, kennen. Acht Jahre später wird Gabriel auf Bewährung freigelassen. Eine Maßnahme, die in Rumänien erst seit dem EU-Beitritt angewendet wird und von der bislang nur wenige Lebenslängliche profitieren konnten. „Himmelverbot“ beginnt mit der Entscheidung des Bewährungsausschusses und begleitet Gabriel anschließend die ersten zwei Jahre in Freiheit.
Mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde der holländische Filmemacher John Albert Jansen für den der Literaturnobelpreisträgerin 2009 Herta Müller gewidmeten Film „Het alfabet van de angst" (Das ABC der Angst), der am Samstag im Habitus-Zentrum seine Weltpremiere erlebte. „Ich bin kein intakter Mensch" ruft Herta Müller dem Filmemacher am Ende zu, verlässt fluchtartig den Raum. Der Regisseur aber lässt den Film nicht damit enden, er geht nach Nitzkydorf, nach Temeswar, reiht Bilder aneinander, lässt Ortsansässige zu Wort kommen, Zeitzeugen. Stimmungsvoll trostlos geht Jansen der Angst auf den Grund, die ein ständiger Begleiter der Nobelpreisträgerin ist – buchstabiert letzlich die Angst mit allen ihren Facetten durch, mit Tiefgang, offen, direkt, schonungslos.
Der Film „Freiheit in Kinderschuhen" von Joachim Stall (Deutschland) lässt ebenfalls Zeitzeugen zu Wort kommen. Vor 25 Jahren überschlugen sich die Ereignisse in den Medien. Die Bilder von damals sind gespeichert, werden bleiben. Die Öffnung der Mauer in Berlin, die ausgelassen feiernden Menschen am Brandenburger Tor, die Öffnung der Grenzzäune an den mit Minen bestückten Todesstreifen im gesamten Deutschland von Nord bis Süd, stimmen Zeitzeugen noch heute euphorisch. Der „Eiserne Vorhang“ verschwand, Mittel- und Osteuropa wurde sichtbar.
Kurze Szenen dieser damaligen Ereignisse hat Joachim Stall in seiner 50-minütigen filmischen Dokumentation eingefangen und zusammengeschnitten.. Wer kennt in Deutschland Rumänien, wer kennt Siebenbürgen oder das Banat? Wer weiß, wo diese alten deutsch geprägten Kulturlandschaften liegen? Der kurze Film zeigt uns die Aufstände 1989 in einem Teil Europas inmitten oder am Rande der Karpaten, berichtet von vielen Toten während der Revolution. Unzufriedene Menschen gingen auch in Bukarest, Temeswar und Hermannstadt auf die Straße, wollten der kommunistischen Enge entfliehen, wollten heraus aus der Mangelwirtschaft, wollten einfach frei sein, eine andere und bessere Zukunft haben.
Ausschnitte aus Wochenschauen ziehen über die Leinwand, Tote liegen auf den Straßen, die Miliz schoss scharf, die blutige Revolution ist in vollem Gange.
Die Menschen in der DDR sind regelmäßig auf die Straße gegangen, beobachtet von der Stasi, demonstrierten sie von Woche zu Woche für eine Veränderung in ihrem Staat, für Reise- und Meinungsfreiheit. Die campierenden Menschen aus der DDR im Garten der Prager Botschaft sind präsent, die Worte von Außenminister Hans-Dietrich Genscher klingen noch immer im Ohr. Der Beginn einer Wandlung waren diese Worte allemal. Unblutig verlief das weitere Geschehen.
Politiker, Künstler und andere Bürger erzählen von ihren persönlichen Fluchtmotiven vor und nach dem Mauerbau aus der DDR und aus Siebenbürgen. Riskant waren die Fluchten aus beiden kommunistischen Lagern und gefährlich, tödlich konnten sie enden, das wussten sie alle.
Auch nicht Weggegangene, Dagebliebene in einem Dorf am Fuße der Karpaten, berichten mit einer bezaubernden Selbstverständlichkeit, warum sie ihrem Kulturkreis treu geblieben sind. Bereits vor der Wende ausgewanderte oder geflohene Siebenbürger Sachsen kommen nach Jahrzehnten zurück in die Heimat, suchen ihre Wurzeln und Freunde, versuchen Netzwerke in einem freien Europa ohne Grenzen zwischen Ost und West aufzubauen.
Der Film, der kurz und knapp die damalige Historie aufrollt, nicht immer mit dem Focus auf das Brandenburger Tor, zeigt auch: Die Menschen in Siebenbürgen wollten ebenfalls Veränderungen. Vergleiche zwischen DDR und Siebenbürgen, Rumänien, gibt es kaum, doch sicherlich Parallelen. Der Film sollte überall in Deutschland gezeigt werden und ein interessiertes Publikum finden. Wie schon zu Beginn erwähnt: Wer kennt denn Siebenbürgen, wer weiß, wo diese schöne Landschaft in Rumänien liegt, wer weiß, was es hier für Nöte gab?
Mit welchen Nöten der ungarische Ort Érpatak, im Osten des Landes, zu leben hat, nachdem er zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat, zeigte der Film „The Érpatak Modell“. Die Dokumentation von Benny Brunner und Keno Verseck, befasst sich mit dem Bestreben des kleinstädtischen Bürgermeisters Mihály Zoltán Orosz, eine an dem Prinzip der Ordnung orientierte Gesellschaft zu entwickeln. Dieses sogenannte „Érpatak Modell“ bedeutet: ein starker Staat mit klaren Regeln, Konditionierung bei Regelverstoß und antagonistische Einteilung der Bürger in „Erbauer“ und „Vernichter“. Bürgermeister Orosz fordert – weil von „Seiner Gnaden" beschlossen – die uneingeschränkte Hingabe für dieses Konzept. Der Film portraitiert neben den Vorstellungen des Bürgermeisters auch deren Auswirkungen auf das Leben einzelner Bürger: Arbeitslose, denen die Sozialhilfe nur ausgezahlt wird, wenn sie archaische und häufig sinnlose Arbeit verrichten, Mütter, deren Kinder aus fraglichen Gründen an Gastfamilien übermittelt wurden und alte Damen, die den Bürgermeister um die Bereitstellung einer neuen Wohnung bitten.
Den Zuschauer bewegt in „The Érpatak Modell“ zugleich vor allem die kontroverse Figur des Bürgermeisters Orosz. Über der umfassenden Regelung des Alltags der Bürger durch die öffentliche Administration steht letztlich allein sein Wort: Er erteilt Amnestie, spricht im Streitfall Recht, nennt im gleichen Atemzug staatliche Gerichtsverfahren gegen ihn jedoch unrecht.
„The Érpatak Modell“ entfaltet vor dem Hintergrund jüngerer politischer Entwicklungen in Ungarn besondere Brisanz: Während Bürgermeister Orosz sein Vorgehen als Ablehnung des liberalen Gedankens firmiert, hat Ministerpräsident Viktor Orban dieses Muster in einer Rede im Juli 2014 aufgegriffen. Das „Érpatak Modell“, so ist der Eindruck, wird Vorbild für Teile der nationalen politischen Elite Ungarns. Der Zuschauer bleibt derweil zwischen Ungläubigkeit und Zweifel; Bürgermeister Orosz regiert den Ort nunmehr bereits seit zehn Jahren.
Jonas BORNEMANN
Cynthia PINTER
Beatrice UNGAR
Christel WOLLMANN-FIEDLER
Foto 1: Der Große Preis ging an den Film „Spartacus & Cassandra“, in der Regie von Ioannis Nuguet aus Frankreich. Unser Bild: Cassandra, eine der Protagonistinnen, nahm den Preis am Samstag entgegen, der Regisseur war nicht in Hermannstadt dabei.
Foto: Fred NUSS
Foto 2: Herta Müller, die Protagonistin des Films „Das ABC der Angst“.