Ausgabe Nr. 2416
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Gespräch mit Jean-Baptiste Joly, Leiter der Akademie Schloss Solitude
Das Schloss Solitude bei Stuttgart auf einem Hügel mit Blick auf die ehemalige Residenzstadt Ludwigsburg, das barocke weiße Schloss, empfing mich mit sonnigem Lächeln. Der Württembergische Herzog Carl Eugen ließ es 1769 erbauen. Die Hohe Karlsschule des mächtigen Herzogs zog ein und Friedrich Schiller besuchte sie freudlos. Dichter wollte er werden, nicht Medicus. Die Eltern des Bundespräsidenten Richard von Weiszäcker liegen auf dem kleinen Friedhof begraben und Fritz von Graevenitz, arbeitete hier oben auf der Höhe bis 1952 in seinem Atelier als Bildhauer.
1989 wurde die Akademie Schloss Solitude an diesem historischen Ort gegründet und Jean-Baptiste Joly, der einstige Leiter des Französischen Instituts in Stuttgart, übernahm die Direktion. Die rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu und Nora Iuga waren u. a. hier Stipendiaten. Mit Jean Baptiste Joly sprach die Berliner HZ-Mitarbeiterin Christel W o l l m a n n-F i e d l er.
Ihre „Einsicht“ hat mir sehr gefallen. Sie halten sich in allen Kulturgremien auf, haben Vorsitze hier und dort, unterrichten an verschiedenen Akademien, sind Gründungsmitglied der Akademie Schloss Solitude, usw. usw. Das ist eine ungewöhnliche Karriere für einen französischen Germanisten.
Ich war ja kein Unbekannter, als ich beauftragt wurde, die Akademie zu gründen. In den 1980-er Jahren leitete ich das Französische Institut in Stuttgart und hatte enge Kontakte mit der hiesigen Verwaltung und dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
Wir hatten damals im Französischen Institut eine Reihe interessanter Projekte gemacht, an denen französische Stipendiaten teilnahmen. Die Arbeiten an den Projekten wurden damals schon in „Werkstätten“ zusammengefasst. Das hat dem Land Baden-Württemberg gefallen. Das wiederum veranlasste die hiesige Landesregierung zu fragen, ob ich bereit wäre, eine Akademie zu leiten. Im August 1988 endete meine Zeit im Französischen Institut und am 1. Januar 1989 begann ich in der neuen Akademie.
Warum und weshalb kam Ihnen vor über 25 Jahren die Idee, hier in Baden-Württemberg, dieses Refugium für Künstler zu schaffen?
Nun, die Idee kam ja, wie schon erwähnt, nicht von mir. Sie kam vom damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth und wurde vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst umgesetzt. Die Satzung der Stiftung für die Vergabe von Stipendien war schon vorgegeben. Die Räumlichkeiten wurden umgebaut, das Budget der Akademie über Toto- und Lottomittel gesichert. Mir blieb, wenn Sie so wollen, die Durchführung. Wir konnten bestimmen, wer nach welchen Kriterien ausgesucht werden soll. Den gesamten organisatorischen Aufbau musste man erfinden. Aber der Gedanke, dieses Schloss mit Hilfe eines Kunst- und Kulturprojekts mit neuem Leben zu erfüllen, war schon die Idee des Landes.
Welche künstlerischen Disziplinen sind an dieser Akademie vertreten?
Bildende Kunst, Musik, Literatur, Darstellende Künste, neue Medien und Film, Design und Architektur. Mit dem Programm Science & Business kamen später die Geistes- Rechts- und Wirtschaftswissenschaften hinzu. Inzwischen haben wir den Begriff des Interdisziplinären so ausgeweitet, dass er sich auch auf die exakten Wissenschaften bezieht, die ja auch Teil unserer Kultur sind.
Seit Gründung der Akademie wurden über 1200 Stipendiaten im Haus beherbergt mit Aufenthalten zwischen drei und zwölf Monaten, manche sogar länger. Die Künstler kamen aus 110 Ländern dieser Welt. Wir pflegen zu diesen ehemaligen Stipendiaten einen sehr regen Kontakt, und haben mit ihnen Projekte in Südafrika, in Frankreich, in Kanada, in Buenos Aires und in Osteuropa durchgeführt.
Wie viele Stipendiaten haben Sie im Moment?
Wir sind eines der größten Künstlerhäuser in Europa. Wir haben 45 Studios, in der Regel davon 35 für Langzeitstipendien und 10 für Kurzgäste, die an Projekten beteiligt sind oder für Gäste von Stipendiaten.
Ich las, dass die Stipendiaten nicht über 35 Jahre sein dürfen. Nora Iuga, die Lyrikerin aus Bukarest, ist heute 83 Jahre alt, damals war sie 73, nicht gerade jung. Weshalb kam sie als Stipendiatin trotzdem in Frage und war sechs Monate hier in der Akademie?
Dann haben Sie nicht genau gelesen. Da steht, dass die Akademie durchaus Möglichkeiten hat, Ausnahmen zu treffen. Nora Iuga war eine dieser Ausnahmen. Sie wurde von der damaligen Jurorin der Akademie für Literatur, Herta Müller, ausgesucht.
Um das zu verstehen, muss man wissen, wie wir diese Stipendiaten aussuchen. In jeder Sparte haben wir nur eine Person, die alleine entscheidet und die Auswahl trifft. Diese Personen wechseln alle zwei Jahre.
Unter den Juroren befanden sich, da wir gerade über Literatur sprechen, unter anderem Ilma Rakusa aus der Schweiz, John Coetzee aus Südafrika. Herta Müller aus Deutschland wurde gerade erwähnt.
Nora Iuga war vom Geiste her jünger als viele Stipendiaten, mit ihren Erfahrungen war sie aber auch für viele Stipendiaten eine ganz wichtige Autorität. Wir finden es sehr wichtig, dass unter den Stipendiaten immer wieder einige ältere sind. Im Moment ist der amerikanische Schriftsteller Doug Rice bei uns, der für die anderen Stipendiaten eine Art Mentorfunktion innehat, natürlich nicht offiziell.
Was gefällt Ihnen an Nora Iugas Literatur?
Ja, nehmen wir ganz einfach das Buch, das wir seinerzeit publiziert haben, „Der Autobus mit den Buckligen“, nehmen wir andere Bücher „Die Sechzigjährige und der junge Mann“. Wie kann ich das darstellen?
Die Literatur spiegelt ja immer wieder den Geist der Zeit, was auch ganz wichtig ist. Sie spielt mit der Sprache ihrer Zeit und nimmt ihre Vorurteile und Gemeinplätze auf, entblößt sie aber auch.
Plötzlich kommt jemand, für den Literatur eine amoralische Gattung ist, d. h. weder unmoralisch noch moralisch, sondern amoralisch. Sie beleuchtet sozusagen den chaotischen Teil des menschlichen Daseins, der sich einer moralischen Klassifizierung entzieht. Dieses Außerhalb-der-Moral zu sein und es uns so unmittelbar zu zeigen, schätze ich an Nora Iuga ganz besonders.
Die „Solitude“ und Friedrich Schiller sind für mich eine Symbiose. Nun muss ich umdenken und die 25 Jahre alte Akademie Schloss Solitude, das Künstlerrefugium, mit einbeziehen. Haben Sie bei der Gründung hier auf dem Hügel auch an die „Schillergeschichte“ gedacht?
Ich habe mich zu Beginn meiner Zeit auf Schloss Solitude mit verschiedenen Fragen befasst. Warum ist dieser historische Ort geeignet für eine Akademie, wie sie das Land Baden-Württemberg haben möchte? Die Antwort ist in der Geschichte des Schlosses zu finden.
Es ist ein Schloss, das in der Barockzeit errichtet wurde. Das Barock ist als Kunst-, als Gesamtkunstwerk, ein europäisches Projekt. Wir wollten eine europäische bzw. eine internationale Eichrichtung sein, die alle Kunstsparten einbezieht. Sie finden hier immer noch Architektur aus der damaligen Zeit, Skulptur und Malerei, z. B von Nicolas Guibal. Aber auch Musik mit Nicollo Jomelli und Tanz mit Georges Noverre fanden hier statt. Ebenso sieht sich die Akademie Schloss Solitude in der Tradition der Hohen Karlsschule, die 1775 auf Schloss Solitude gegründet wurde. Es ist ein Ort, an dem der Geist von heute wehen kann. Damals war es trotz militärischer Disziplin der Geist der Aufklärung. Ich hatte immer diese Hohe Karlsschule im Blick, die nach 24 Jahren im April 1794 ihre Tore schloss. Und heute darf ich sagen: Wir haben es geschafft, denn die Akademie Schloss Solitude besteht länger als die Hohe Karlsschule, ein Moment großer Freude! Die Frage wird sein, ob wir unter unseren Stipendiaten so famose haben werden, wie damals Friedrich Schiller, Johann Heinrich Dannecker oder den Französischen Biologen und Zoologen Georges Cuvier aus Mömpelgard? Ich sehe unter unseren bisherigen Stipendiaten zahlreiche, die durchaus dieses Format haben. Sie müssen aber heute mit dem vergleichen, was weltweit geschieht. Zu Zeiten der Hohen Karlsschule fand es auf der Ebene des Herzogtums von Württemberg statt. Das ist natürlich ein großer Unterschied.
Ist die Solitude, ist Stuttgart ihr Zuhause geworden oder schielen Sie manchmal nach Frankreich?
Stuttgart ist die Stadt, in der ich am längsten lebe, jetzt 31 Jahre, fühle mich genauso zuhause, wie in Frankreich und meine Zukunft ist auf der einen, wie auf der anderen Seite des Rheins. Dieses entweder oder ist bei solchen bi-nationalen Schicksalen überhaupt nicht mehr zeitgemäß.
Welchen Sinn wollten Sie der Akademie geben und wie sollen Wille und Konzept in der Zukunft sein? Ich las, dass Sie noch vier Jahre als Direktor bleiben…
Wir sind eine der wenigen Kulturinstitutionen in Europa, die sich dezidiert dem Horizont der Globalisierung geöffnet hat.
Zu Beginn der Akademie, in den vier, fünf ersten Jahren, konnten viele Kritiker kein Profil erkennen. Damals waren wir gerade dabei, das Haus so weit zu öffnen, wie kein anderes Kulturinstitut in Deutschland, schrieben bereits die Stipendien weltweit aus, berücksichtigten alle Kunstsparten und holten Stipendiaten aus Südamerika, Nordamerika, Asien oder Europa. Afrika kam etwas später hinzu.
Für mich muss sich die Akademie an der Globalisierung der Kunstwelt und an Interdisziplinarität zwischen den Künsten und den Wissenschaften orientieren. Wir merken, dass es in der Kommunikation mit unserer Zielgruppe, vor allem mit unseren Stipendiaten, ein positives Echo findet. Die Kommunikation nach außen bleibt jedoch weiterhin eine schwierige Aufgabe. Unser Output ist vergleichbar mit einer klassischen Kulturinstitution und wird von der lokalen Öffentlichkeit auch so gesehen, aber im Grunde möchten wir die Menschen weltweit erreichen.
Bewerben sich Künstler bei Ihnen oder werden sie vorgeschlagen?
Nein, nein, wir bestehen darauf, dass das Bewerbungsverfahren offen ist. Die Bewerbungsrunde beginnt jeweils am 1. Juli und läuft bis zum 31. Oktober. Es darf sich jeder bewerben, der Künstler ist. Wir haben die Priorität Künstler bis 35 und einige Plätze darüber hinaus. Die Künstler werden nicht vorgeschlagen, wie bei einem DAAD-Stipendium. Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet für das Land Baden-Württemberg, wenn alle zwei Jahre über 4.000 Künstler Bewerbungsunterlagen herunterladen aus 140 Ländern dieser Welt? Letztes Mal bewarben sich 1.800 Kandidaten aus 110 Ländern für das Stipendium. Wir sind eine Institution mit zehneinhalb Mitarbeiterstellen. Es ist kein Ministerium, wir haben kein Netzwerk wie das Goethe-Institut. Es ist ein kleines Haus in Stuttgart, und wir erreichen die ganze Welt! Wer sind unsere Vermittler? In erster Linie unsere ehemaligen Stipendiaten, die diese Information weitergeben. Nach der ersten Bewerbungsrunde begann dieser Schneeballeffekt. 400 Bewerbungen hatten wir damals, dann stetig mehr und nun sind wir bei 1.800 bis 2.000.
Nora Iuga war begeistert, dass so viele junge Künstler aus aller Herren Länder ihre Nachbarn waren. Sie lebte in einem Land aus dem man nicht heraus konnte…
Ich kenne Rumänien auch ein wenig. Es ist ein Land, das relativ wenig Menschen anzieht und einlädt. Schade eigentlich. Wie können wir unseren Partnern in Rumänien, Bulgarien, in Serbien, in Kroatien und einigen anderen Ländern zu verstehen geben, dass sie junge Leute einladen müssen aus anderen Ländern dieser Welt. Es würde ihnen die Szene öffnen, es würde auch Prozesse der Demokratie unterstützen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch führte Christel Wollmann-Fiedler 2014. Am 31. Januar d. J. ist Altbundespräsident Richard von Weizsäcker gestorben.
Foto 1: Jean-Baptiste Joly.
Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER
Foto 2: Das barocke Schloss Solitude bei Stuttgart: Von der Hohen Karlsschule zur weltoffenen Akademie.
Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER
Foto 3: Den ersten Band seiner Orbitor-Trilogie hat Mircea Cărtărescu auf Schloss Solitude geschrieben. Für diese Romantrilogie erhält Cărtărescu den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2015. Der letzte Band „Die Flügel" ist 2014 im Zsolnay Verlag in der Übersetzung von Ferdinand Leopold erschienen. Die Preisverleihung findet bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 11. März 2015 im Gewandhaus in Leipzig statt. Die Laudatio hält der Schriftsteller Uwe Tellkamp. Für die deutsche Fassung des ersten Bandes der Trilogie („Die Wissenden", Zsolnay Verlag Wien, 2007) hatte übrigens Gerhardt Csejka 2008 den Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW erhalten, den diese Stiftung in Kooperation mit dem Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen vergibt. Den zweiten Band („Der Körper", Zsolnay Verlag Wien, 2011) hatten Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold gemeinsam übersetzt. Unser Bild: Mircea Cărtărescu bei einer Buchvorstellung 2007 in der Humanitas-Buchhandlung in Hermannstadt.
Foto: HZ-Archiv