Endzeit ohne Schlussstrich

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Ausgabe Nr. 2349
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Der siebenbürgische Schriftsteller Eginald Schlattner wird heute 80

Vor Jahren hat er in seinem Rechenschaftsbericht als Gefängnispfarrer der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien einen Schlussstrich gezogen: „Mit der Großschriftstellerei ist es vorbei.“ Der am 13. September 1933 in Arad geborene und in Fogarasch aufgewachsene Eginald Norbert Felix Schlattner ist inkonsequent geblieben. 2009 beteiligt er sich mit einer Erzählung an einem kulturgeschichtlichen Band (Gerda Ziegler, Geschichtliches und Kunstgeschichtliches zu Birthälm", Hermannstadt 2009). 2012 gab die Berliner Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick in zwei Bänden lange Zeit verschollene Manuskripte Schlattners heraus, die größtenteils vor seiner Verhaftung 1957 entstanden waren. Zu Pfingsten 2013 teilte der in Rothberg bei Hermannstadt lebende  Romancier inoffiziell mit, er habe seinem Verlag Zsolnay in Wien  20 Kapitel auf 699 Schreibmaschinenseiten angeboten, und zwar in einer bereits gekürzten Zweitfassung: „Die 7 Sommer meiner Mutter. Ersonnene Chronik“ (2010-2013).

Dabei handelt es sich nach der Lektüre von drei Kapiteln um eine Art „Maximen und Reflexionen“, die Hintergründe seines Lebens und Schreibens erhellen sollen. Was für eine Kraft zur  literarischen Vergegenwärtigung! Zum Glück für seine europäische Leserschaft hat Schlattner also seine Absage an die „Großschriftstellerei“ gebrochen, und hoffentlich ergreift der Verlag die Gelegenheit, die Siebenbürgen-Saga aus Rothberg weiterzuentwickeln. Denn es ist so viel geschehen, was einer Transparenz bedarf, seitdem dieser literarische Komet unerwartet am europäischen Firmament der Dichtung erschien: Ein  Dorfpfarrer aus einer ethnischen Minderheit in Südosteuropa, der als Rentner seinen ersten Roman vorlegte, dem zwei weitere  folgten  („Der geköpfte Hahn“, 1998, „Rote Handschuhe“ 2000, „Das Klavier im Nebel“ 2005).

Vieles ist also geschehen: Er selbst reiste zu Lesungen durch ganz Europa. Daneben bringt der literarische Tourismus  heute Busse und PKW aus Deutschland und Österreich in das Dorf, das gar nicht so abgelegen ist, jedenfalls nicht, wenn man es endlich erreicht hat und es womöglich nicht bei dem einen Mal bewenden lässt. Seine Romane wurden bislang in acht Sprachen übersetzt. Das erste Buch erreichte neun Auflagen und wurde 2006/07 verfilmt, die „Roten Handschuhe“ 2009.Er hätte auch mit Herta Müller gemeinsam den Nobelpreis bekommen können. Aber die Verhältnisse waren nicht so.

Valentin Aldea jedenfalls, der clevere rumänische Bürgermeister, hat dem bekanntesten Einwohner auf dem Internetportal des Rothberger Bürgermeisteramtes eine ganze Seite gewidmet, und die Ortsschilder von ehemals  siebenbürgisch-sächsisch dominierten Dörfern dieser Gemeinde sollen auf Weisung von Aldea zweisprachig sein, wurde mir einmal von einem Kenner der Gegend erzählt. In Rothberg jedenfalls hat mir das mein Augenschein bestätigt. Und das bei nicht mehr ganz einer Handvoll Siebenbürger Sachsen. In einem Kapitel der genannten noch ungedruckten „Ersonnenen Chronik“ berichtet Schlattner auch, dass seine Frau und er sich 2007 getrennt haben. Dabei spiele keine dritte Person eine Rolle, wohl aber die Belastung der Jahrzehnte im Einvernehmen. Schon 1967/68 hatte er kenntnisreich von Kommunikationsproblemen in einer Pfarrehe erzählt – weniger fiktiv als intuitiv. Jedenfalls lebt er allein auf seiner Pfarre nahe der Kirche von 1225 – „älter als Berlin!“ – und verbringt kirchliche Hochfeste gelegentlich in einem orthodoxen Kloster. Die andere Seite der biografischen Medaille gehört der Gefangenenseelsorge.

Außerdem hat sich im Laufe der Jahre einiges geklärt, was den Vorwurf betrifft, im Schriftstellerprozess von 1959 mit der Securitate gegen befreundete Angeklagte zusammengearbeitet zu haben. Sorgfältige Analysen der Prozessakten haben u.a. gezeigt, dass nicht nur der Rothberger sich z. B. sprachlich in die damalige Ideologie hineinbegeben hat, sondern auch andere haben sich vor dem Staatsanwalt als ordentliche Staatsbürger geriert, um ihre Haut zu retten. (Vgl. M. Nowotnick: „95 Jahre Haft. Kronstädter Schriftstellerprozess 1959: Darstellungsformen und Deutungsmuster der Aufarbeitung", in: Halbjahresschrift für südosteuropäische  Geschichte, Literatur und Politik 2012/1-2, S. 173-181; William Totok, „Empathie für alle Opfer. Eginald  Schlattner, ein Leben in Zeiten diktatorischer Herrschaft", in: ebd., S. 181-198).

Wie denn auch anders! Noch 2011 wurden die Folterungen Schlattners gegenüber denjenigen des verurteilten Schriftstellers Hans Bergel als „einfach läppisch“ zitiert und reduziert. (Markus Fischer, „Der Denunziant als Opfer und der Täter als pathologischer Fall. Radu Gabreas Verfilmung des Romans 'Rote Handschuhe' von Eginald Schlattner", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 27. Mai 2011).

In einem Offenen Brief  hat sich der  alte Mann nach all den Verunglimpfungen schließlich  öffentlich gewehrt und die Hand zur Versöhnung  ausgestreckt. Er hat  auch seine Technik offenbart, mit der er  die Familie gegen Kontakte mit der Securitate immunisiert hat. Sein Fazit: „Man kann alle Dossiers der rumänischen Gauck-Behörde öffnen. Von uns, von mir liegt nichts über andere vor.“

Gegen die hysterische Massenflucht seiner Landesleute in den Westen findet er deftige Worte: „Wenn einer sagt: 'Gott wollte, dass ich nach Deutschland auswandere und mein alter Vater bleibt hier, die Rumänen füttern ihn und die Zigeuner wischen ihm den Arsch ab, und, bitte, lieber Herr Pfarrer, sehen Sie doch ab und zu nach ihm', dann weiß ich: Das ist nicht, was  Gott wollte.“

An den Rumänen hat er immer mehr ihre Nachbarschaftshilfe auch für ihn zu würdigen gelernt. Auf die Frage, was er an den Roma schätze, antwortet er: „Ihre Lebensfreude und ihr Gottvertrauen.“ Den Häftlingen in den von ihm aufzusuchenden Gefängnissen fühlt er sich nahe durch die eigene Biografie.

Seine Treue zur siebenbürgisch-sächsischen Ethnie überwiegt noch seine scharfe Kritik an ihrer inneren Unbeweglichkeit und zerstörerischen Mobilität 1989/90. Bei aller Distanz steht er zu seiner Herkunft.

Was bringt das neue Lebensjahrzehnt? Schlattner wird sich wahrscheinlich auch heute, am 13. September, wie immer und täglich zum Gebet in seine Kirche begeben, vielleicht am Altar einen Zettel mit ungelenken Buchstaben finden: „Lasst uns beten für Petru. Krank.“ Er wird das tun. Vielleicht ist er aber auch vor dem eigenen Jubelfest in ein rumänisch-orthodoxes Kloster geflohen.

Das Kirchengebäude hat er bereits vor Jahren im Advent nach einer inneren Befreiung  mit einer öffentlichen Geste des Segens an die neuen Bewohner und alten Sorgenkinder übergeben, an  die Waldorfschule „Hans Spalinger“ und die sie besuchenden Kinder der dunklen Geschwister unten vom Bach. Das konnte kein kirchenrechtlicher Akt sein; denn er ist seit Jahren als Ortspfarrer pensioniert und hat Befugnis allein noch für die Gefängnisseelsorge. Diese Übergabe vom Herzen her bedeutet, dass er, der barocke Typ, ein hart geprüfter stolzer Sachse, die kulturelle Transformation verstanden hat und bejaht. Gott ist größer als unser Herz, so dass die Rothberger Kirche erlebt, wie die Geburt Jesu im Krippenspiel in der Sprache der Mehrheit von der gebeutelten Ethnie der Roma veranschaulicht wird. Der Mann des Wortes hört im fremden, gleichwohl vertrauten Laut die eigene Sehnsucht und Hoffnung und erwirbt so Bürgerrecht im Zukunftsland.

Was soll denn noch mehr passieren im neuen Lebensjahrzehnt! Es ist Endzeit für die Sachsen in Rothberg. Dazu gehört nach menschlichem Ermessen kein Paradies wie sonst so oft in Mythologien. Aber es kann auch kein Schlussstrich gezogen werden. Es gibt ja neue Kräfte im Dorf wie die Schweizer Direktorin Annette Wiecken mit ihrer integrativen Schule als Sozialprojekt und den Bürgermeister mit seiner Wertschätzung für den rumäniendeutschen Romancier. Für alle gibt es reichlich zu tun. Nach den großen Verlusten mag Schlattner die sachten Schritte der leibhaftigen Hoffnung spüren und ebnet ihnen den Weg, den er selber mitgehen will, so weit ihn die Füße in seinem Alter tragen.

Jens LANGER

Eginald Schlattner in dem Rothberger Pfarrhaus, wie ihn Frank Gaudlitz für seinen Bildband "Casa Mare" (das große Haus, 2011) porträtiert hat.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kultur.