Ausgabe Nr. 2335
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Rückblick auf die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes
Nach anfänglich sintflutartigem Regen hatte das Festival in der zweiten Hälfte zwar Sonne, aber es war ungewöhnlich kühl für Cannes. Für den Glamour ist die Sonne besser, denn Stars unter dem Regenschirm sind nun mal weniger fotogen. Und jeden Abend andere auf dem roten Teppich, von Leonardo DiCaprio bis Michael Douglas, von Uma Thurman bis zur Prinzessin Clothilde Coureau, Dolores Chaplin, Alain Delon, Marion Cotillard. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr war das Programm durchweg bemerkenswert, wenn auch große Meisterwerke ausblieben.
Rumänien war zwar mit keinem Spielfilm vertreten, aber Cristian Mungiu gehörte der internationalen Jury unter Vorsitz von Steven Spielberg an. Außerdem erhielt Tudor Cristian Giurgiu, dessen von der Bukarester Filmakademie produzierter „Ȋn Acvariu“ in der Selektion Cinefondation lief, dafür in der Jury von Jane Campion den dritten Preis. Der immerhin im 35mm-Kinoformat gedrehte „Ȋn Acvariu“ erzählt von einem jungen Paar, das sich nicht entscheiden kann, ob es zusammenbleiben will oder nicht. Giurgiu hofft, dass der Preis ihm in Rumänien helfen wird, Förderung für seinen ersten Spielfilm zu finden, an dessen Drehbuch mit ähnlichem Thema er gerade schreibt. Der einzige deutsche Beitrag, „Tore tanzt“ von Katrin Gebbe (in der offiziellen Reihe außer Wettbewerb), über einen jungen Mann, (Mitglied der Jesus-Freaks, die gegen die etablierte Religion rebellieren), der in einer Familie erniedrigt und fast zur Weißglut getrieben wird, wurde allgemein als zu amateurhaft angesehen, obwohl das Thema interessant erschien.
Gegen Ende kursierte in Cannes eine verhältnismäßig lange Liste von preisverdächtigen Filmen, da keiner wirklich herausragte. Sehr hoch in der Gunst des Publikums und bei einem Teil der Presse stand „La vie d’Adèle“ von dem Franco-Tunesier Abdellatif Kechiche, der zunächst den Kritikerpreis bekam und dann auch noch die Goldene Palme, die die Jury Kechiche und den beiden Darstellerinnen, Adèle Exarchopoulos & Léa Seydoux zu gleichen Teilen zusprach, da der für das französische Kino ungewöhnlich freie Ton nur so zustande kommen konnte. Im Film geht es um die Beziehung einer 15-jährigen Schülerin zu einer lesbischen Künstlerin, um die Suche nach der eigenen Sexualität. Eigentlich handelt es sich um eine TV-Produktion, die zu einer Serie ausgebaut werden soll und man zeigte in Cannes die beiden ersten Folgen.
Einen ähnlichen Ansatzpunkt hatte der Film von François Ozon, „Jeune & Jolie“, wo ein 17-jähriges Mädchen nach seinen Präferenzen sucht, und sich sogar prostituiert.
Gut gefiel auch Roman Polanski mit „Venus im Pelz“ frei nach dem Buch von Sacher Masoch. Da präsentiert sich zur Audition in einem Theater verspätet eine Schauspielerin (Emmanuelle Seigner), drängt sich dem Regisseur (Mathieu Amalric) förmlich auf, und es beginnt ein Katz- und Mausspiel, das immer mehr ausufert. Dieses Zweipersonenstück gehörte zum dichtesten, was das Festival bot und Polanski, der da seine Frau spielen ließ, beweist, dass er mit 80 Jahren nach wie vor ein Meister sowohl der Theater- wie der Filmregie ist.
Psychologisch dicht war übrigens auch der französische Film „Le Passé“ von dem Iraner Asghar Farhadi. Ein Mann kehrt zu seiner Scheidung von Teheran nach Paris zurück und wird da mit ungelösten (multikulturell bedingten) Problemen aus der Vergangenheit konfrontiert. (Ökumenischer Preis und Bérénice Béjo bekam den Preis als beste Darstellerin). Zu den Spitzenreitern zählte auch „A touch of sin“ von Jia Zhangke, der den Preis für das beste Drehbuch bekam. Er zeigt am Beispiel von vier Personen ein neokapitalistisches China, in dem brutale Gewalt vorherrscht, Amat Escalante zeigt in „Heli“ die latente Gewalt in Mexico (bester Regisseur).
„Behind the Candelabra“ von Steven Soderbergh über den Pianisten Liberace, gehörte zu den Filmen, die etwas enttäuschten, wenn auch das Spiel von Michael Douglas und Matt Damon äußerst treffend ist. Sehr unterhaltsam, aber als zu leicht befunden, der Vampirfilm „Only Lovers Left Alive“ über ein Jahrhunderte altes Liebespaar, das getrennt zwischen Tanger und Detroit lebt.
Schwächer auch das Melodram „The Immigrant“ von James Gray mit Marion Cotillard und die im Wettbewerb vollkommen deplazierte Michael Kohlhaas-Verfilmung mit Mads Mikkelsen von dem Franzosen Arnaud des Pallières (schön aber zu elitär).
„Inside Llewyn Davis“ von Ethan Coen und Joel Coen besticht dagegen durch seine exakte Rekonstruktion der Atmosphäre von Greenwich Village in den sechziger Jahren, die fiktive Geschichte eines erfolglosen Folksängers allerdings hat man schnell vergessen (Grand Prix).
„Nebraska“ von Alexander Payne, die Reise eines alten Mannes durch Orte seiner Vergangenheit, der glaubt bei einem Sweepstake eine Million gewonnen zu haben, gehörte zu den großen Augenblicken des Festivals. Bruce Dern (Bester Darsteller), geradezu faszinierend in seiner Naivität und ein fast unkenntlicher Stacy Keach, machen diesen Schwarzweißfilm in Cinemascope in der tiefen amerikanischen Provinz zu einem bleibenden Erlebnis.
Und „La Grande Belleza“ des Italieners Paolo Sorrentino war mit seinen Lebensweisheiten eines alternden Mannes (Toni Servillo spielt wunderbar) trotz seiner zweieinhalb Stunden einer der Höhepunkte in diesem Jahr.
Das indische Kino feiert seinen 100. Geburtstag und war damit vor allem in einigen Nebensektionen vetreten. „Ugly“ von Anurag Kashyap, rasant wie ein Videospiel, kidnapping, häusliche Gewalt, zeigt eine Mittelklasse, die vollkommen überfordert ist, und in „The Lunchbox“ von Ritesh Batra sieht man das indische Leben in seiner ganzen Vielfalt, den Verkehr, die vollen Züge. Eine wirklich unabhängige Filmproduktion, die sich neben Bollywood entwickelt hat.
Gegen Ende des Festivals gab es noch Hommagen für den Komiker Jerry Lewis, dem man seine 87 Jahre kaum ansieht und Alain Delon präsentierte die restaurierte Fassung von „Plein Soleil“ von René Clément, der ihm die erste große Chance seines Lebens gab.
Claus REHNIG
Sie freuten sich über die Goldene Palme (v. l. n. r.): Adèle Exarchopoulos, Abdellatif Kechiche, Léa Seydoux.
Foto: AFP