Der Roman ,,Zitronen“ von Valerie Frisch
Ausgabe Nr. 2925

Valerie Fritsch (stehend) bei ihrer Lesung in der Stadtbibliothek in Werschetz/Vrsac in Serbien im Rahmen der Reschitzaer Deutschen Literaturtage. Foto: Beatrice UNGAR
Die österreichische Autorin Valerie Fritsch, bekannt für ihre poetische und bildgewaltige Prosa, hat mit „Zitronen“ ihren bisher wohl radikalsten Roman veröffentlicht. Im April stellte sie das Buch auf einer Lesereise in Temeswar, Reschitza und Bukarest vor. Die Präsentation in Reschitza fand im Rahmen der 35. Deutschen Literaturtage statt, über die die HZ bereits berichtete. Damit unterstrich Fritsch, dass ihre Literatur weit über Landesgrenzen hinaus Resonanz findet.
Valerie Fritsch gelingt mit Zitronen ein Roman, der anmutet wie ein geflüsterter Schrei: bildmächtig, beklemmend und doch getragen von einem zutiefst menschlichen Mitgefühl. In der Erzählung verschmelzen Gewalt und Zärtlichkeit zu einem kaum fassbaren Gefühl, das uns dazu bringt, selbst den abgründigsten Entscheidungen der Figuren mit Verständnis zu begegnen.
Die Handlung führt uns in eine idyllische Dorfszenerie: Ein windschiefes Haus am Rande, in dem die Grenzen zwischen Geborgenheit und Bedrohung schwer zu unterscheiden sind. Der Vater misshandelt den heranwachsenden August brutal, während seine Mutter ihn gleichermaßen nährend wie gefährlich umsorgt. Dieses Wechselspiel wird zum Kern einer Liebe, die grotesk schöne Facetten annimmt. Man erkennt, dass in jeder grausamen Aktion eine verzweifelte Sehnsucht stecken kann. Sei es Sehnsucht nach Nähe, Anerkennung oder Kontrolle.
Fritsch zeigt uns, wie die vermeintliche Fürsorge der Mutter ins Absurde kippt. In einem Akt, der zugleich zärtlich wie zerstörerisch erscheint, vergiftet sie ihren Sohn mit Medikamenten. Nicht aus Bosheit, sondern aus dem Wunsch heraus, umsorgt zu werden. Sie benötigt die Krankheit des Kindes für ihre selbst geschaffene Identität. Und obwohl diese Handlung unvorstellbar ist, schafft es die Autorin, Lesende in die Psyche der Mutter hineinzuziehen. Es gelingt ihr mit Empathie, nicht mit Rechtfertigung: „Dass er wieder gesund war, wollte sie nicht hören, dass ihm nichts mehr fehlte, wie er ihr versicherte, schob sie beiseite, wie man einen Gegenstand verrückt. Ich seh doch, dass es dir nicht gutgeht, rief sie und legte ihm die Hand auf die Stirn und zwang August, der so laut widersprach, wie er nur konnte, sich auch tagsüber für ein paar Stunden ins Bett zu legen. Dort starrte er an die Decke und aus dem Fenster, während sich die Stunden so sehr glichen, dass er keinen Anfang und kein Ende fand in ihnen, bloß dem Weg von Licht und Schatten an den Wänden mit den Augen folgte.”

Valerie Fritsch: Zitronen, Roman, Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024, 186 Seiten, ISBN 978-3-518-43172-6, 24 Euro.
Die Arbeit an dem Roman wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. und vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) der Republik Österreich gefördert.
Den Jungen entlässt das Schicksal schließlich in ein eigenständiges Leben. Doch auch hier bleibt er gefangen. Nicht von körperlichen Fesseln, sondern von den unsichtbaren Narben, die die zerstörerische Fürsorge der Mutter hinterlassen hat. Besonders nachhaltig ist, wie Fritsch erzählt, dass August trotz allem offen für Liebe bleibt und dass diese Liebe zu seinem größten Kampf wird.
Die Sprache des Romans malt Sinnbilder aus Geruch, Klang und Licht. Sie ist zugleich zart und scharf und brennt sich unweigerlich ein. Fritsch webt ein poetisches Labyrinth, in dem wir uns verlieren, nur um uns selbst im Spiegel dieses Textes wiederzufinden. Mit „Zitronen” schreibt Valerie Fritsch Literatur, die wehtut und heilend zugleich ist. Sie lädt uns ein, im Abgrund nach Verständnis zu suchen und dort, wo Brutalität regiert, die zarte Spur der Fürsorge zu entdecken.
Die 1989 in Graz geborene Autorin lebt in Graz und Wien. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur.
Tobias JARITZ