Die 32. Auflage des Hermannstädter Internationalen Theaterfestivals
Ausgabe Nr. 2917

Auf dem Großen Ring war immer etwas los. Unser Bild: Am ersten Abend lockte zum Sonnenuntergang das atemberaubende Spektakel „Ymirs Traum” von der Straßentheatertruppe Elementz Art aus Italien tausende Zuschauer auf den Großen Ring. Foto: Nicolae GLIGOR
Durch die Heltauergasse marschieren laute Trommler, auf dem Großen Ring schwingen Akrobaten in 50 Metern Höhe von einem Gestell und aus der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche ertönen Gospel-Songs. Schon erraten? Wenn Hermannstadt sich in eine riesengroße Bühne verwandelt, dann kann das nur eines bedeuten: Das Internationale Theaterfestival hat begonnen! Die 32. Auflage, die unter dem Motto „Danke“ noch bis Sonntag, dem 29. Juni stattfindet, hat auch dieses Jahr tausende Touristen in die Stadt gelockt und unzählbare Hermannstädter ins Zentrum verleitet. Täglich gibt es hier zu jeder Stunde etwas zu erleben.
Begonnen hat das diesjährige Internationale Theaterfestival in der gediegenen Atmosphäre der evangelischen Stadtpfarrkirche auf dem Huetplatz. Nach den Eröffnungsreden der geladenen Gäste – allen voran Festivalleiter Constantin Chiriac, Bürgermeisterin Astrid Fodor, der rumänische Außenminister Emil Hurezeanu, die Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer Raluca Turcan und die Leiterin der Europäischen Kommission in Bukarest Roxana Chiriac – folgte ein Ausnahmekonzert des Duos Alexandru Tomescu und Dragoș Ilie. Sie boten drei Rhapsodien: George Gershwins „Rhapsody in Blue“ und George Enescus „Rapsodia română“ (Nr. 1 und Nr. 2). Das besondere an dem Konzert war die Kombination der Instrumente Geige und Gitarre. Der wunderschöne helle Klang der Geige Stradivarius Elder-Voicu 1702 von Alexandru Tomescu wurde vom sanften Klang der klassischen Gitarre Dragoș Ilie vervollständigt. Das Publikum war begeistert und filmte – trotz Verbot – den bekanntesten Teil der rumänischen Rhapsodie Nr. 1, die „Ciorcârlia“ mit den Handykameras.

Das Duo Alexandru Tomescu (Violine) und Dragoș Ilie (klassische Gitarre) begeisterten das Publikum bei der Eröffnungsveranstaltung in der evangelischen Stadtpfarrkirche. Foto: Cynthia PINTER
Das wohl bekannteste rumänische Lied „Ciocârlia“ zog sich übrigens wie ein roter Faden durch fast alle Konzerte, beginnend mit der Hungarian Royal Gypsy Orchestra bis hin zum Harmonica Quintett aus Taiwan, die das Lied auf ihren Mundharmonikas großartig interpretierten.
Überhaupt spielte Musik eine wichtige Rolle beim diesjährigen Theaterfestival. Es gab kaum ein Theaterstück ohne Live-Musik. Auch im Stück „No Yogurt for the Dead“ (Kein Joghurt für die Toten) der Gruppe „Tiago Rodrigues & NTGent“, konstruierte Hélder Gonçalves in einem Krankenhausbett mit elektrischer Gitarre die Atmosphäre. In diesem Theaterstück, das halb autobiografisch ist, geht es um Tiago Rodrigues‘ Vater, der im Krankenhaus im Sterben liegt. Von seinem Krankenbett aus beginnt er, eine Reportage zu schreiben, in der er seine Erfahrungen als unheilbar Kranker im Krankenhaus mit Erinnerungen an sein Leben vermischen will, insbesondere mit einigen Geschichten über seine Arbeit als Journalist. Nach dem Tod seines Vaters öffnet Rodrigues das Notizbuch. Es enthielt nur ein paar Linien und Punkte, ein paar Kritzeleien, wie die abstrakten Zeichnungen eines Kleinkindes. In „No Yogurt for the Dead“ entwirft Rodrigues ein Theaterstück, um sich vorzustellen, was sein Vater in den letzten Tagen seines Lebens hätte schreiben wollen. In einer surrealen Landschaft mit Krankenhausbetten, die über ein eisiges Meer gleiten, wird jede Szene zu einer spielerischen Variation des Themas „Abschied“. Der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues entwirft ein Stück aus Erinnerungen, Liedern und Fragmenten aus den Schriften seines Vaters, mit dem er einen kleinen Sieg über den Tod feiern möchte. Es ist auch eine Hommage an das Theater und seine Kraft, selbst in den traurigsten Momenten Freude zu finden.

Szenenfoto aus „Futur4“ des „Rimini-Protokoll“ mit Ursula Gärtner (rechts) und Xenia Klinge, ein als zwischen Dokumentartheater und Science Fiction gepriesenes Theaterstück. Foto: Cynthia PINTER
Einige Zuschauer hatten ihre Zweifel, ob das noch Theater sei? „Futur4“ des „Rimini-Protokoll“ konnte am Freitag, in der Kulturfabrik fast wie ein Vortrag gesehen werden. Ein Vortrag über die Vergangenheit von Protagonistin Ursula Gärtner, die als Kind mit ihrer Familie Anfang der 1970-er Jahre von der Bundesrepublik Deutschland aus Rumänien herausgekauft wurde und über die Nutzung der künstlichen Intelligenz in Zukunft. Das Hermannstädter Publikum konnte sich gut in die Geschichte von Ursula und die der ausgewanderten Siebenbürger Sachsen hineinversetzen. Sie steht in Jeans und bunter Bluse auf der Bühne und schildert ihre Lebensgeschichte – nicht nur vor Theaterpublikum. Sie hat in Xenia Klinge eine professionelle Computerlinguistin in sterilem Kostüm als Partnerin, die mit Ursulas Berichten einen frisch entworfenen Chatbot, den Ursula-Bot, füttert, damit Ursulas Enkelin in Zukunft von ihrem großmütterlichen Hintergrund erfahren kann. Die Wiedergabe des Erlebten wird vorgeführt auf Leinwänden, auf denen Fotos und Videos aus der Familiengeschichte der Protagonistin zu sehen sind. Zum Schluss forderte sie das Publikum zur Teilnahme am Prozess der Selbstvergewisserung über den „Ursula-Bot“ auf. Fragen über die erste Liebe und ob sie Kronstadt vermisse, beantwortete die KI mit der aufgenommenen Stimme der Protagonistin, samt rollendem R. Das Konzept des als Dokumentar- und Science-Fiction-Theater gepriesenen Stücks von Helgard Haug und Daniel Wetzel war für die Hermannstädter Theaterbesucher neu und etwas gewöhnungsbedürftig, aber trotzdem faszinierend und sehenswert.

Szenenfoto aus „Bazinul de nord“ mit Șerban Pavlu (links) und Vlad Lință. Foto: Cynthia PINTER
Klassisches Theater gab es aber auch massenweise im Programm des FITS. Zum Beispiel „Bazinul de nord“ von Rajiv Joseph des „ARCUB“-Theaters, in der Regie von Alexandru Mâzgăreanu, das am Sonntag, dem 22. Juni, im Gong-Theater gezeigt wurde. In den Hauptrollen Șerban Pavlu und Vlad Lință, spricht das Theaterstück über politische Korrektheit, Moral, das schlimme Vermächtnis von Teenager-Selbstmord und Schuld. Der Text greift Themen wie Ethnie, Religion und Reichtum auf und verwebt sie zu einem dramatischen Geflecht, das die unaussprechliche Korruption aufdeckt. Die Idee der Schuld mit ihren sozialen und psychologischen Auswirkungen wird im Laufe der Handlung dieses psychologischen Dramas intensiv analysiert, in dem der stellvertretende Schulleiter einer staatlichen amerikanischen High School und ein Schüler arabischer Herkunft ein spannendes Katz- und Mausspiel beginnen, das zu einer Konfrontation mit unvorhersehbarem Ausgang und gefährlichen Folgen führen kann. Als Zuschauer hatte man oft den Eindruck, dass Șerban Pavlu oft übertrieben theatralisch spielte und gar nicht natürlich rüberkam. Trotzdem war das Stück ausverkauft und erntete minutenlangen Stehapplaus.
Stehapplaus gab es auch während und nach dem Konzert des „Howard Gospel Chors”, den man übrigens noch täglich bis Sonntag singen hören kann, am Samstag bei der Bodentruppenakademie, um 15 Uhr und am Sonntag, um 19 Uhr in der Ursulinenkirche. Eine Karte kostet 50 Lei und es lohnt sich allemal den kraftvollen Stimmen der Afro-Amerikaner zu lauschen und mit ihnen mitzusingen und mitzutanzen. Bekannte Lieder wie „Oh, Happy Day” oder „When the Saints Go Marching In” sorgten für Gänsehaut bei den Zuschauern.

Für Gänsehaut sorgten die Sängerinnen und Sänger des Howard Gospel Chors aus Washington D. C. Foto: Andrei VĂLEANU
Besonders anzuhören waren auch die verschiedenen Mundharmonikas der aus Taiwan angereisten „Harmonica Quintett” indem sie reiche Harmonien mit dynamischen Solopassagen verbanden, erschlossen sie die enorme Ausdruckspalette des Instruments – vom zarten Flüstern bis zu feurigen Ausbrüchen. Ihr innovatives Programm war nicht an ein bestimmtes Genre gebunden, sondern verband Klassik, Pop und Folk und verzauberte das Publikum in verschiedenen Gotteshäusern Hermannstadts.
„My Onliness“ war beim FITS 2025 ein Erlebnis, das man schwer in Worte fassen kann – irgendwo zwischen absurdem Theater, Kabarett und sinnlicher Grenzerfahrung: ein groteskes Spiel über Macht, Obsession und menschliche Abgründe. Regisseur und Hauptdarsteller Daniel Irizarry schlüpft in die Rolle eines verrückten Königs – des kindlich-exzentrischen Mad Kings, der verzweifelt versucht, einen geheimnisvollen Gast zu beeindrucken. Doch statt einer klassischen Geschichte erwartet das Publikum ein wilder Mix aus Musik, skurrilen Figuren, absurden Szenen und direkter Interaktion – inklusive der Möglichkeit, vom König persönlich einen Schluck Rum angeboten zu bekommen. Und trotz aller Abgründe und existenziellen Fragen: Es gibt viel zu lachen in diesem Stück – über die Groteske, die Übertreibung, die absurde Logik des Wahnsinns.

Die Vorstellung „My Onliness“ (USA) war ein Erlebnis, das man schwer in Worte fassen kann – irgendwo zwischen absurdem Theater, Kabarett und sinnlicher Grenzerfahrung: ein groteskes Spiel über Macht, Obsession und menschliche Abgründe. Foto: Cynthia PINTER
Die Inszenierung, inspiriert von den Schriften des polnischen Künstlers Witkacy, fühlt sich eher an wie ein Fiebertraum als wie ein Theaterstück im herkömmlichen Sinn. Alles ist überzeichnet, laut, berührend – und manchmal überraschend zärtlich. Songs über Wahrheit und Schmerz, Gebärdensprache als eigenständige Ausdrucksform und eine Bühne, die sich in einen ganzen Kosmos verwandelt: „My Onliness“ ist kein Theater zum Zurücklehnen, sondern eines, das alle Sinne anspricht – schräg, mutig und definitiv unvergesslich.
Mit „Neandertal“ („O istorie a omenirii”) bringt die Compagnie Lieux-Dits beim FITS 2025 ein Stück auf die Bühne, das Wissenschaft persönlich macht. Es zeigt, wie Forschung unser Weltbild verändert – und dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm entsteht, sondern dort, wo Leben und Erkenntnis aufeinandertreffen.
Inspiriert von der Arbeit des Medizin-Nobelpreisträgers Svante Pääbo – der in den 1990er-Jahren die Entschlüsselung des Neandertaler-Erbguts wagte – erzählt das Stück von der Suche nach unseren Ursprüngen. Doch es geht nicht nur um Genetik, sondern um die Frage, wie sich Geschichte, Identität und persönliche Lebenswege gegenseitig beeinflussen. Pääbos Erkenntnisse, dass moderne Menschen Spuren des Neandertalers in sich tragen, stellen alte Vorstellungen von Abstammung und „reiner Herkunft” radikal in Frage.
Zwischen Laboralltag und biografischen Rückblicken entsteht ein vielschichtiges Bild: Forscherinnen und Forscher wie Rosalind Franklin, Gregor Mendel oder Craig Venter werden nicht als Genies, sondern als Menschen mit Zweifeln, Verlusten und Sehnsüchten gezeigt. Es wird von wissenschaftlichem Ehrgeiz, aber auch von Liebe, Einsamkeit und der Suche nach Sinn erzählt, aber immer mit der Frage im Hintergrund, wie viel Vergangenheit eigentlich in uns steckt.

Szenenfoto aus „Medeea Material”. Foto: Dragoș DUMITRU
Mit „Medea Material“ präsentierten die Türkischen Staatstheater aus Ankara und Istanbul beim FITS 2025 eine eindrucksvolle Neuinterpretation des antiken Mythos – modern, radikal reduziert und psychologisch hoch aufgeladen. Im Zentrum steht eine Schauspielerin, die sowohl Medea als auch Jason verkörpert – eine One-Woman-Show, die keine klassische ist, denn Tänzerinnen und Tänzer ergänzen das Geschehen als stumme Begleiter*innen, Figuren wie das Kindermädchen oder innere Stimmen der Protagonistin. Dennoch bleibt die ganze Wucht dieser Inszenierung auf der Darstellerin, die in den inneren Abgrund beider Figuren taucht – Täterin und Opfer zugleich.
Wie viele Produktionen dieses Festivals setzt auch „Medea Material“ auf Reduktion, doch gerade das macht die Aufführung so intensiv. Die Bühne ist karg, fast leer, aber durch Licht, Klang und Bewegung entsteht eine beklemmende Atmosphäre, in der das Geschehen körperlich spürbar wird. Die Aufteilung der Rollen auf verschiedene Performer – als Chor, Schatten oder Spiegel – verleiht Medeas innerem Aufruhr Form und Vielstimmigkeit. Es geht hier nicht um antike Tragödiengesten, sondern um das, was zwischen den Worten liegt: Verletzung, Begehren, Kontrollverlust. Ein Stück, das verstört und zugleich berührt – und lange nachwirkt.
Am vierten Tag des FITS 2025 zeigte das Scapino Ballet Rotterdam im Rahmen der „Întâlnirile JTI“-Reihe mit „Origin“ einen eindrucksvollen Doppelabend zeitgenössischen Tanzes. Den Auftakt bildete „The Breakable Us“ von Olivia Court Mesa – eine feinfühlige, beinahe traumartige Choreografie über Verletzlichkeit, Trauma und den Weg zur Heilung. Inmitten einer schiefen, poetisch aufgeladenen Bühnenlandschaft aus schwebenden Objekten und gebrochenen Möbeln bewegten sich fünf Tänzerinnen und Tänzer in komplexen, körperlich anspruchsvollen Sequenzen. Der Tanz wurde hier zur Sprache einer Menschlichkeit, die ihre Brüche nicht versteckt, sondern in Kraft verwandelt.

Szenenfoto aus der Macbeth-Inszenierung am Bochumer Theater.
Foto: Ovidiu MATIU
Kontrastreich und voller Energie folgte „GOATS“ von Sarah Baltzinger und Isaiah Wilson. Auf einem künstlichen Rasenfeld entfaltete sich eine absurde, satirische Choreografie über das Spannungsfeld zwischen Gruppenzwang und Individualität. Mit viel Witz, grotesken Bewegungen und einem scharfen Blick auf gesellschaftliche Dynamiken wurde das Publikum in eine tänzerische Welt geworfen, die ebenso unterhaltsam wie gedanklich fordernd war. Der Humor war bissig, die Bilder stark, die Körpersprache bewusst überzeichnet – ein körperlich intensives Spiel mit Konventionen und Erwartungen.
„Origin“ überzeugte nicht nur durch zwei inhaltlich und stilistisch starke Stücke, sondern auch durch die beeindruckende Leistung der Tänzerinnen und Tänzer, die mit großer Präsenz, Ausdruckskraft und Präzision auftraten. Es war ein Abend, der berührte, zum Nachdenken anregte und die künstlerische Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes auf höchstem Niveau erfahrbar machte.

Erstmals dabei: Insgesamt 112 Urzeln aus Agnetheln liefen am Sonntagabend bei Affenhitze durch die Heltauergasse. Unser Bild: Das Kind auf dem Riemenmacher-Rösschen. Foto: Nicolae GLIGOR
Mit Flamenco Fusion brachte das Spanish Flamenco Ballet unter der Leitung von Iván Gómez eine elektrisierende Tanzproduktion auf die Bühne des FITS 2025. Die Vorstellung war eine kraftvolle Hommage an den spanischen Tanz – von klassischem Flamenco bis hin zu modernen, jazzinspirierten Bewegungsformen. Acht Tänzerinnen und Tänzer ließen den Saal vibrieren, begleitet von fünf Live-Musikern, deren Kompositionen von Roberto Pacheco, Ara Malikian, José Luis Montón und Fernando Egozcue die Brücke zwischen Tradition und Avantgarde schlugen. Bereits mit dem ersten Stück, einer temperamentvollen Version von Ciocârlia, eroberten sie das Publikum in Hermannstadt im Sturm.
Flamenco Fusion ist keine Erzählung im klassischen Sinn, es hat keine durchgehende Handlung, um Raum für Emotion, Bewegung und Klang zu schaffen. In einer sorgfältig gestalteten Bühnenlandschaft mit ausdrucksstarkem Licht, dynamischen Kostümen und eindrucksvoller Choreografie entfaltet sich eine hypnotische Mischung aus Tanzkunst und musikalischer Vielfalt. Diese Produktion macht spürbar, wie lebendig, wandelbar und offen Flamenco heute sein kann – und öffnet mit frischer Energie die Tür zu neuen Generationen. Ein Highlight des Festivals, das Tradition und Innovation auf faszinierende Weise vereint.
Die Kamera blickt unbewegt auf eine staubige, trostlose Landschaft; kaum etwas erinnert an die alten Metropolen Mossul oder Ninive. In der Kulturfabrik/Fabrica de Cultură wird dieses Ödland zur Kulisse, auf einem ausrangierten Reifen sitzt eine blonde Frau und ritzt sich mit einem Skalpell in die Wade: eine Kriegsfotografin, gespielt von Ursina Lardi. So eröffnet „Die Seherin” – Milo Raus radikale Neuverhandlung von Sophokles’ Philoktet. In einem eindringlichen Monolog tastet Lardi die Grenze zwischen distanzierter Beobachtung und persönlicher Verstrickung ab, stets auf der Suche nach dem nächsten Bild des Schreckens, bis die Gewalt sie selbst erreicht. Auf einer großen Leinwand treten Videoaufnahmen des irakischen Lehrers und Kriegsüberlebenden Azad Hassan in einen Dialog mit der Bühnenfigur; Realität und Fiktion verflechten sich, unterstützt von musikalischen Kontrasten zwischen Bachs Agnus Dei und arabischem Techno.
Wie in vielen Inszenierungen dieses Festivals war auch „Die Seherin” zweisprachig angelegt – Deutsch und Arabisch verschränken sich in Text und Ton. Rau kombiniert Dokument und Mythos, um Fragen nach kollektiver Verantwortung und der verführerischen Macht von Gewaltbildern zu stellen. „Die Seherin” ist kein traditionelles Drama, sondern ein vielschichtiger Reflexionsraum – unbequem, fragmentarisch, aber kraftvoll in seiner Forderung, hinzusehen.

Klassisches Revuetheater: Szenenfoto aus „Moarte la Teatrul de Revistă” des Stela-Popescu-Theaters Bukarest. Foto: Andrei VĂLEANU
Die schillernde Welt des Varietés wurde vom Stela-Popescu-Theater aus Bukarest mit „Moarte la Teatrul de Revistă” (Tod im Revuetheater) auf die Bühne gebracht. Die reiche Palette des Varietés – Musik, Comedy, Tanz – wurde hier durch Drama und sogar ein bisschen Krimi ergänzt. Das Stück in der Regie von Gabriel Sandu zeigt den Kampf eines kleinen Revuetheaters, das kurz vor der Schließung steht. Die Direktorin des Theaters macht einen letzten verzweifelten Versuch, das Theater zu retten: Sie holt einen jungen Regisseur, der für seine moderne Vision bekannt ist, um eine Show auf die Bühne zu bringen, die das Publikum wieder ins Theater locken soll. Als eine Reihe anonymer Drohungen und unerwarteter Ereignisse die Produktion gefährden, ist das Team gezwungen, seine Grenzen auszutesten – sowohl menschlich als auch künstlerisch. Die Show, die als Rettungsversuch gedacht war, wird zu einem Überlebenskampf, nicht nur für das Theater, sondern auch für alle beteiligten Künstler. Bei dem Stück hatten die Schauspieler die Chance ihre facettenreiche Vorbereitung zur Show zu stellen: Sie waren nicht nur Schauspieler, sondern auch talentierte Musiker – die meisten bewiesen, dass sie auch singen und tanzen konnten, ja sogar ein Saxophon kam öfters zum Einsatz. Das Stück hatte Ende Dezember 2024 Vorpremiere, genau an Stela Popescus Geburtstag – die Namensgeberin des Theaters – der übrigens im Stück auch eine Hommage gebracht wurde: Eine der Darstellerinnen im Stück ist so stark von der Persönlichkeit der berühmten Schauspielerin besessen, dass sie ihre ganze Karriere nur auf deren Nachahmung aufbaut und somit den erwünschten Erfolg kennenlernt. Das Stück „Moarte la Teatrul de Revistă” kann man in Bukarest bestimmt noch in den nächsten Jahren sehen.

Der Kriegsveteran Zahar Antonovici, gespielt von Anatol Durbală (Bildmitte) hat immer Bonbons für die Kinder in den Taschen. Foto: Ovidiu MATIU
Tosenden, minutenlangen Applaus, viel kräftiger (und offensichtlich aus Überzeugung und nicht aus Höflichkeit) gab es nach dem zweieinhalbstündigen Stück „Grădina de sticlă” (Der Glasgarten), in der Regie von Petru Hadârcă des Nationaltheaters „Mihai Eminescu” aus Chișinău, nach dem gleichnamigen Roman von Tatiana Țîbuleac. Der zweite Roman der Autorin, der 2018 im Verlag Cartier erschienen ist, wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union (2019) ausgezeichnet. Ein schwieriges Thema – Lastocikaya (Schwalbe im Russischen), ein Waisenmädchen aus Chișinău, wird von Tamara Pavlovna, einer strengen Russin, adoptiert. Ihre Geschichte kann zum Teil als die Geschichte der Republik Moldova interpretiert werden: das Leben zwischen zwei Sprachen – rumänisch und russisch -, in einem sowjetischen Wohnblock mit Menschen aller Religionen und aus allen Schichten, in dem alle versuchen, mehr schlecht als recht zu überleben, in einer Welt, die sich verändert und in dem der Regimewechsel Spannungen mitbringt. Lastocikaya in zwei ihrer Varianten auf der Bühne, erwachsen gespielt von Diana Decuseară-Onică und als Kind und später als junges Mädchen, gespielt von Corina Rotaru, sammelt zusammen mit ihrer Ziehmutter Flaschen aller Farben und Formen und träumt manchmal in ihrem bunten Glasgarten. Ein komplexer Roman, der sicherlich durch die Dramatisierung von Mariana Onceanu nur zu gewinnen hat.
Cynthia PINTER
Mirona STĂNESCU
Ruxandra STĂNESCU

Das Buch „Cultură și credință” ist ein Dialog zwischen Constantin Chiriac und Constantin Necula.