50 Lieder für 50 Jahre

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Mit dem Evangelischen Gesangbuch durchs Jahr 2024

Ausgabe Nr. 2893

Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt, / bereitet doch als Sünder den Weg dem starken Held! / Macht eben jeden Pfad, die Täler rings erhöhet, / macht niedrig, was hoch stehet, was krumm ist, macht gerad. (Lied Nr. 10, Strophen 1+2 kompiliert)

Menschen sind veränderlich. Dafür haben sie ein Herz – das sich erweichen und auch mal hart sein kann, ein Herz – mal hohen Mutes, mal voller Demut. Jeder kennt all diese Zustände. Jeder ist unstet, ist formbar.

Liedern geht es nicht anders: Melodien sind ebensolch unzuverlässige Wendehälse.

Jene von Nr. 10 war jahrhundertelang europaweit ein Schlager mit unzähligen kontrastierenden Textvarianten: selbstbewusster Hymnus, traurige Ballade, aufmüpfiges Liebeslied, frivole Wandergesänge… und schließlich die fünf frommen Dichtungen, die unser Gesangbuch dazu kennt (älteste: 1563).

Schon um 1400 kursierte sie als tragisches Flehlied der jungen Monika oder monaca (der ‚Mönchin‘, die keine werden wollte) an ihre Mutter. Durch Variationen, die Philipp Friedrich Böddecker (1607-1683) darüber schrieb – obzwar er als Stuttgarter Stiftskantor die kirchlichen Fassungen gewiss kannte –, erschließen sich mir Empfindungen des armen Fräuleins: anfangs Schmerz, Resignation; dann etwas freche, im Keim erstickte Hoffnungen; Depression; letzter Lebenswille, wilder Ausbruch. Das Mädchen entgleist völlig und doch überschlägt sich seine Extase abschließend scheinbar überraschend in einen Freudentanz!

Übergeschnappt der Wirklichkeit entronnen oder ausweglos dem Schicksal entgegengehüpft? Vielleicht sinnierte Böddecker ja mit dieser Wendung am Ende seiner Fagottsonate (1651) über die Allmacht Gottes – allmächtig im Guten wie im Unguten…

Der wankelmütige Mensch – wie soll er bloß gerade machen können, was krumm ist?

Hat da nicht vor allem die einzelne in Lüneburg verzeichnete Strophe, zu finden im Hannoverschen Gesangbuch von 1657, Recht?

Sie lautet: Ach, mache DU mich Armen / zu dieser heilgen Zeit / aus Güte und Erbarmen, / Herr Jesu, selbst bereit. Komm in mein Herz herein, / vom Stall und von der Krippe, / so werden Herz und Lippe / dir allzeit dankbar sein. (Lied Nr. 10, Strophe 4)

Gerwald M. BRAISCH

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kirche.