Astra Film Festival in Hermannstadt war auch heuer ein großer Erfolg
Ausgabe Nr. 2888
„Die rund 300 Filmproduktionen der diesjährigen Ausgabe waren 300 Reisen um die Welt, die uns geholfen haben, verschiedene menschliche Erfahrungen zu verstehen“, sagte Regisseur Dumitru Budrala, Gründungsdirektor des Astra Filmfestivals bei der Preisverleihung für die besten Filme des Astra Film Festivals, die am Samstag, dem 26. Oktober im Thaliasaal stattgefunden hat. Drei rumänische Produktionen wurden besonders gewürdigt: „Alice On & Off“ von Isabela Tent (Bester Film, Kategorie Rumänien), „Maia – Portrait with Hands“ von Alexandra Gulea (Beste Regie, Kategorie Rumänien) und „Tata“ von Lina Vdovîi und Radu Ciorniciuc (Beste Regie, Kategorie Mittel- und Osteuropa). Der junge Regisseur Daniel Țîcu erhielt außerdem eine lobende Erwähnung in der Kategorie „Studenten“. In der Kategorie „Neue Generation der Filmemacher“ gewann der Film „Rising Up at Night“ von Nelson Makengo und in der Kategorie „Zentral- und Osteuropa“ – „The Forest“ von Lidia Duda. Die Dokumentarfilme aus dem Festival kann man online noch bis zum 10. November sehen.
„Ein Film, der uns eine mutige, konkrete und zutiefst verletzliche Erkundung von sozialer und intimer Gewalt bietet“, so hieß die Begründung der Jury für den Film „Tata“, der für die beste Regie in der Kategorie Mittel- und Osteuropa einen Preis gewann. Der Film wurde in Italien, der Republik Moldova und Rumänien gedreht und ist das schonungslose Porträt einer Familie, die in einem unerbittlichen Kampf gegen toxische Männlichkeit gefangen ist, und die Geschichte einer Tochter, die auf ergreifende Weise versucht, den Kreislauf für sich selbst, die nächste Generation und sogar für denjenigen, der sie verletzt hat, zu durchbrechen. „Tata“ wurde im Rahmen der feierlichen Eröffnung des Film Festivals im Thaliasaal gezeigt und ließ für viele Menschen im Saal, die in ihrer Kindheit häusliche Gewalt erlebt haben, schmerzhafte Erinnerungen wach werden. Auch die Filmemacherin Lina Vdovîi war beim Gespräch mit dem Publikum tief betroffen und brach in Tränen aus.
Tränen flossen manchen Zuschauern auch beim Anschauen des Dokus „Alice On & Off“, der zurecht als bester Film ausgewählt wurde. Zehn Jahre lang begleitet die rumänische Filmemacherin Isabela Tent das Leben von Alice, die als Minderjährige Mutter wird. Mit 16 Jahren verliebt sich Alice in Dorian, der 35 Jahre älter ist als sie. Obwohl sie ihn heiratet und den gemeinsamen Sohn, Aristo, zur Welt bringt, taucht das vertraute Echo ihrer eigenen vernachlässigten Kindheit wieder auf. Alice kämpft mit einer Familiendynamik, in der sie die alleinige Ernährerin ist – für das Kind, für Dorian -, indem sie auf Videochats zurückgreift und ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt. Sie wird gezwungen, ihr Studium abzubrechen, verlässt ihre Familie und sieht Aristo im Laufe der Jahre nur noch gelegentlich, da sie mit ihrer Drogensucht zu kämpfen hat. Zehn Jahre lang ist Filmemacherin Tent immer dabei, um den Verlauf der Dinge zu dokumentieren und manchmal auch hinter der Kamera mit den Protagonisten zu interagieren. Aristo wird erwachsen, Alices Frisuren ändern sich und Dorian wird älter. So fällt es dem Publikum sehr leicht, die Entwicklung dieser Geschichte zu verfolgen, die gleichzeitig liebenswert, lustig und herzzerreißend ist.
Herzzerreißend waren auch die zahlreichen Filme, die den Krieg in der Ukraine als Thema hatten. In „Photophobia“ zum Beispiel verstecken sich viele ukrainische Familien vor dem schrecklichen Krieg in einer Kharkiver U-Bahn-Station. Darunter befinden sich auch der 12-jährige Niki und die 11-jährige Vika, denen eingeflößt wird, dass das Tageslicht ein Synonym für tödliche Gefahr ist. Sie dürfen die U-Bahn-Station nicht verlassen und leben unter dem ständigen Schein ihrer Neonröhren, während man im Hintergrund die Bomben fallen hört.
Auf der anderen Seite des Kriegs, in Russland, müssen Journalisten um die Pressefreiheit kämpfen. „Of Caravan And The Dogs“ (Câinii latră, caravana trece; Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter), Regie Askold Kurov und Anonymous1 zeigt die Situation der freien russischen Presse vor und nach Kriegsbeginn.
Binnen weniger Tage nach Kriegsbeginn stellt die russische Regierung eine totale Zensur ein und die russischen Journalisten und Aktivisten werden mit hohen Geldstrafen, Haft und Verbannung bedroht und müssen schwierige moralische Entscheidungen treffen. Im Mittelpunkt des Dokumentarstreifens stehen ein TV-Sender, ein Radio-Sender und eine Zeitung aus Moskau: Wie lange schaffen sie es, zu überleben, ohne dass die Mitarbeiter zu Volksfeinden erklärt werden. Viele von ihnen flüchten ins Ausland, um sich und ihre Familien zu schützen; manche bleiben in Russland und versuchen, trotzdem ihren Job zu tun. Übrigens, nicht nur einer der Regisseure, sondern auch mehrere andere Mitarbeiter des Dokus werden als „Anonym“ präsentiert.
Unbekannt war vielen Festivalbesuchern das Phänomen der „Burrneshas“ in Albanien. In Teilen des Balkans gibt es diese bemerkenswerte Tradition: Frauen, die als Burrneshas bekannt sind, übernehmen gesellschaftliche Rollen, die normalerweise Männern vorbehalten sind. Sie nehmen das Aussehen von Männern an, nehmen Männernamen oder Spitznamen an und agieren mit einer Freiheit und Macht, die Frauen in patriarchalischen Kulturen verwehrt bleibt. Meistens kam diese Besonderheit in Familien vor, wo es keine männlichen Nachkommen gab. So wurde das jüngste Mädchen als Junge erzogen, um später auf die Eltern zu sorgen und sich um die Hausarbeit zu kümmern. Im Film „House With a Voice“ von Kristine Nrecaj und Birthe Templin wird das Leben von sechs Burrneshas aus Albanien porträtiert, die gesellschaftlich als Männer voll akzeptiert werden.
Über den Kampf, in der rumänischen Gesellschaft als gleichgeschlechtliches Paar akzeptiert zu werden, geht es im Dokustreifen von Anelise Sălan „Interzis“ (Verboten). Der Film feierte seine Weltpremiere beim Astra Film Festival und zeigt, was zwei Frauen in Rumänien alles durchstehen müssen, die einander heiraten wollen. Der Dokumentarfilm ist eine Geschichte über Liebe und Akzeptanz, aber auch eine Auseinandersetzung mit den staatlichen Behörden, einschließlich einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die gewonnen wurde, aber vom rumänischen Staat nicht umgesetzt wurde. Eingetragene zivilrechtliche Partnerschaften zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren sind immer noch nicht zugelassen.
Tragikomisch geht es im Streifen „Georgia zâmbitoare“ (Lächelndes Georgien), Regie Luka Beradze zu, in der eine Begebenheit vorgestellt wird, die hoffentlich nicht in Rumänien wiederholt wird, denn möglich ist ja Vieles… Im Wahlkampf 2012 verspricht der georgische Präsident Micheil Saakaschwili allen Bürgern eine staatlich subventionierte zahnärztliche Versorgung. Zahnärzte ziehen vielen Wählern die Zähne raus (auch über zehn Zähne auf einmal), lassen viele Georgier komplett zahnlos oder mit einem oder zwei Zähnen zurück, mit dem Versprechen, sie in den kommenden Monaten zu ersetzen. Doch die Partei des Präsidenten verliert die Wahlen, und die unglücklichen Wähler bekommen nie das versprochene Gebiss, sind auch viel zu arm, um zum Zahnarzt zu gehen. Manche haben Glück mit ihren Kindern und TV-Sendungen, die meisten bleiben aber zahnlos. Übrigens: Der Titel eines Volksmärchens aus Georgien lautet „Der König, der nicht lachen konnte”. Möglicherweise hatte er keine Zähne…
Absurd klang der Titel des Films „Cum să fiu mort, dacă-s viu?” (Wie kann ich tot sein, wenn ich lebe?) in der Regie von Ilinca Călugăreanu. Er erzählt die Geschichte von Constantin Reliu aus Bârlad, der von der Familie – nachdem er 13 Jahre kein Lebenszeichen gab – als tot erklärt wird und einige Jahre später, praktisch 19 Jahre seit seinem Verschwinden, vor einer gerichtlichen Instanz dafür kämpft, wieder als lebendig anerkannt zu werden.
Die Geschichte ist nicht neu in Rumänien, war in jeder der Etappen in den Nachrichten und beginnt hier, in dem Dokumentarstreifen, nachdem Reliu bereits den ersten Prozess verloren hat, obwohl er persönlich im Gerichtssaal anwesend war und mit dem Richter gesprochen hat.
Die Regisseurin wird in ihrem Dokumentarfilm zu einer der Hauptgestalten und der Film konzentriert sich auf ihre Beziehung zu Reliu. Sicherlich ist dies eine anerkannte Dokumentarfilmtechnik, hier beweist Călugareanu allerdings recht wenig Fingerspitzengefühl, denn man kann zwischen den Zeilen verstehen, dass Reliu psychische Probleme hat. Der Schuss geht nach hinten los: Die Regisseurin schafft es leider durch diesen Film, Constantin Reliu eine neue Ungerechtigkeit zu bescheren, diesmal eine moralische und ethische Ungerechtigkeit.
Eine zweite Chance, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden hatten fünf Obdachlose in Tschechien. Der Filmemacher Jaroslav Beran begleitete sie und es entstand der Dokumentarfilm „Return to Life“ (Zurück zum Leben). Drei Männer und ein Paar unterschiedlichen Alters erhalten vom Staat im Rahmen eines Programms zur sozialen Reintegration jeweils ein Heim. Der Regisseur begleitet sie drei Jahre lang, um zu sehen, wie ein Zuhause und ein Gefühl der Stabilität ihre Schicksale verändern werden. Die schönsten Momente des Films werden größtenteils in den neuen Häusern gefilmt, die die Bewohner nach und nach gestalten, indem sie Pflanzen, Fische, Aquarien und Haustiere mitbringen, von denen einige eher bizarr sind, wie z. B. Insekten, während sie versuchen, sich zurechtzufinden (oder auch nicht). Der Film bietet einen vollständigen Zugang zu den Menschen und zeigt fünf Porträts voller Tiefe und Menschlichkeit.
Ebenfalls aus Tschechien kam der Film „Limits of Europe“, in dem eine tschechische Journalistin verdeckt auf dem europäischen Markt für billige Arbeitskräfte ermittelt. Eine Spargelfarm in Deutschland, ein Hotel in Irland und ein Altersheim in Frankreich stehen im Mittelpunkt der Recherche. Die bekannte tschechische Journalistin Saša Uhlová hat sich zwei Jahre Zeit genommen, um mit versteckter Kamera auf dem europäischen Billiglohnmarkt zu ermitteln, wo osteuropäische Niedriglohnarbeiter in Stockbetten leben und von morgens bis abends in westlichen Unternehmen schuften. Und es ist kein Teilzeitprojekt, das Saša in Angriff genommen hat. Mit Leib und Seele, mit Hingabe und Empathie für ihre neuen Kollegen arbeitet sie sich buchstäblich in die soziale Ungleichheit hinein, um deren Folgen zu dokumentieren.
Ein Magnet für Leseratten war der Film „Umberto Eco und seine riesige Bibliothek“ (Umberto Eco – Library of the World), Regie Davide Ferrario, wirklich ein Leckerbissen für die Zuschauer, denn Interviewteile und persönliche Reflexionen des berühmten italienischen Schriftstellers und Gelehrten Umberto Eco zeigen nicht nur seine umfangreiche persönliche Bibliothek, sondern auch seine innere Welt mit all seinem Humor, seiner Ironie und seiner Tiefgründigkeit. Ein Dokumentarfilm der Lust macht, auch weitere Interviews mit Umberto Eco online zu suchen, damit man zum Beispiel ganz genau erfährt, warum der Hass doch wärmer und weniger egoistisch ist als die Liebe.
Auch heuer gab es viele spannende Filme für Kinder und Jugendliche, zu denen ganze Schulklassen jeden Morgen pilgerten. Im runden New Media Dom auf dem Großen Ring konnte man einmalige Erfahrungen sammeln. Auf bequemen Säcken liegend sah man zum Beispiel Ausschnitte aus den Musikvideos der Bands „Queen“ oder „Pink Floyd“. Für viele waren die Filme, die eine 360-Grad-Ausdehnung im Horizont sowie mindestens 180 Grad über den Zenit hatten, das Highlight des Festivals.
Das Astra Film Festival hat es auch heuer geschafft, im erstaunlich schönen und trockenen Monat Oktober die kulturliebenden Hermannstädter und nicht nur sie aus ihren Häusern zu locken.
Cynthia PINTER
Ruxandra STĂNESCU