Zu Joachim Wittstocks romanhafter Chronik siebenbürgischer Schicksale
Ausgabe Nr. 2879
Joachim Wittstocks neuer Roman hat lange auf sich warten lassen. Immer wieder bot sich seinem Autor Gelegenheit, bei Literaturtreffen beispielsweise kürzere oder längere Auszüge eines angekündigten größeren Werkes vorzulesen, so etwa bei den Deutschen Literaturtagen in Reschitza gut vor Ausbruch der Corona Pandemie und danach. In wenigen persönlichen Gesprächen wurde auch mal die Rede auf das Romanprojekt gelenkt und immer wieder hieß es, es sei noch nicht genug gereift, es sei noch manches zu recherchieren, zu sichten und auszuformen. Man konnte auf jeden Fall gespannt sein. Und das war ich, denn die wenigen Happen, die Kostproben oder Teaser, wie man das neuzeitlich in der Kulturwerbung nennt, die man zu Gehör bekommen hatte, hatten gewisse Erwartungen geweckt, die zum einen mit inhaltlichen Details, wie etwa der Kronstädter Szenerie zu tun hatten, zum andern mit dem Wissen, dass das Erscheinen des jetzt vorletzten Romans von Wittstock, „Die uns angebotene Welt” (Bukarest, 2007) schon viel zu viele Jahre zurücklag.
Der Autor war in der Zwischenzeit zwar mit Schriften an die Öffentlichkeit getreten, diese bewegten sich allerdings mehr im Essayistischen, „Einen Halt suchen” (Hermannstadt, 2009) und Monografischen, „Margarete Depner. Eine Bildhauerin in Siebenbürgen” (vorgestellt zusammen mit Rohtraut Wittsock, Hermannstadt, 2014) und weniger im ausgesprochen Literarischen und schon gar nicht im Romanhaften.
Der schmale Erzählband „Forstbetrieb Feltrinelli” (Hermannstadt, 2018), eine diskret erzählte Liebesgeschichte lyrischer Beschaffenheit sowie eine Sammlung privater Mitteilungen unter dem Titel „Briefe in die Runde”, von Inge Wittstock mitgezeichnet (Hermannstadt, 2021), ließen erahnen, dass der Autor doch nicht untätig zeitweilte, sondern ganz im Gegenteil an etwas Größerem, Gewichtigerem laborierte.
Es liegt nun vor, das Größere, das Gewichtigere, der mehrfach vom Autor auszugsweise angekündigte Roman: Er betitelt ihn „Das erfuhr ich unter Menschen”, zitiert damit den Anfang des Wessobrunner Gebets und nennt ihn „romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale”. Also doch kein ausgesprochener Roman?
Eine Chronik erhebt Anspruch auf Authentizität, weil sie sich auf Geschehenes und Bezeugtes beruft und somit den Fakten vergangener und gegenwärtiger Geschichte entspricht. Die vom Autor gewählte Formulierung „romanhafte Chronik” vermittelt Glaubwürdigkeit und eine gewisse Distanz zur Materie und macht den Balanceakt zwischen Realität und Fiktionalität möglich.
Das im Schiller Verlag Bonn-Hermannstadt erschienene Buch erinnert allein schon durch seinen beeindruckenden Umfang an groß angelegte Romane im Stil von Thomas Mann oder Marcel Proust: ein Konvolut von 604 Seiten! Man kann sich die Zurückhaltung, ja geradezu das Erschrecken der heutigen Literaturkonsumenten beim Gedanken, ein so dickes Buch lesen zu müssen, lebhaft vorstellen. Die Herausforderung sollte man aber getrost annehmen und sich von der auf einen ersten Blick verwirrenden Dichte der Erzählung nicht abschrecken lassen.
Thomas Mann hatte dazumal seinen „Zauberberg” als ein kleines humoristisches Gegenstück zu der Novelle „Der Tod in Venedig” zu schreiben beabsichtigt und später, da die Geschichte sich zunehmend zu verselbstständigen und zu einem Roman auszuweiten begonnen hatte, nannte er das Werk einen Roman über die Zeit.
Im letzten Viertel seines Romans äußert Wittstock seinerseits die Absicht, eine Broschüre zu verfassen, die die Geschichte des ehemaligen Kronstädter Tartler- in Wirklichkeit Depner-Sanatoriums zum Thema haben sollte (S. 457 ff.). Man begegnet übrigens dem Autor immer wieder dort, wo er sich als in der Gegenwart berichtendes Ich verkörpert und agiert, und es sollte einem bald aufgehen, dass das Buch weit mehr als eine chronikale Geschichte sein will und dass es sich unter anderem um ein Buch über das Entstehen eines Buches handelt und darum, wie sich darin eine Welt zusammensetzt, sich konstruieren und zugleich auch dekonstruieren lässt.
Hat Wittstock das nicht schon früher zu handhaben gewusst, etwa im Roman „Bestätigt und besiegelt” (Bukarest, 2003) oder in „Die uns angebotene Welt”, indem er sich dem Geist der Erzählung, um ein weiteres Mal Thomas Mann zu bemühen, und seinem raunenden Imperfekt verschrieben, Zeit- und Gesellschaftsformen literarisch festgehalten hatte? Dort hatte er sich allerdings als agierendes, sprechendes und schreibendes Ich doch eher aus dem Text zurückgenommen und hinter der einen oder anderen Protagonistenfigur verborgen, wie etwa hinter jener von Georg Härwest. Im neuen Buch agiert das Erzähler-Ich auf der Ebene der Gegenwart, ist als Berichterstatter und Chronist bemüht „mehr feuilletonistischen Schneid an den Tag zu legen”, statt „ständig den um Gleichmaß bemühten Langmut des Geschichtsfreunds hervorkehren” zu müssen (S.14).
Im Mittelpunkt seiner Recherchen und Berichte steht das ehemalige Tartler-Sanatorium in der Kronstädter Innenstadt. Das Gebäude gibt den zahlreichen Akteurinnen und Akteuren ihre Berechtigung und es bestimmt die Struktur des Romans.
Keineswegs chronologisch, rankt sich die Geschichte auf unterschiedlichen Zeitebenen um siebenbürgische Schicksale: Die Tartlers, die Bogners und die Decanis werden in unterschiedlichen Kapiteln und Reihen, in scheinbar mehr oder weniger aleatorischer Abfolge als handelnde Personen vorgestellt.
Auf unaufdringliche und unpathetische Weise schildert Wittstock entscheidende Momente der Geschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Jahre des Aufbaus des Sozialismus in Rumänien und entwirft ein objektives Bild einer ethnisch gemischten Gesellschaft, in der Menschen eine gemeinsame Welt aufzubauen bemüht waren. Ohne Anmaßung rückt dabei das Deutsche in den Vordergrund, beispielsweise anhand der Figur von Frau Dr. Dorothea Tartler-Decani. Leidige Themen wie jenes der Enteignung, der Deportation, der politischen Verhaftungen und der Ausreise kommen unverhohlen und unbeschönigt, ohne jegliche Schuldzuweisung oder Klage zur Sprache. Tragische Vorfälle, der Tod selbst gehören ebenso zu den erzählten Schicksalen wie die pflichtbewusste Arbeit und das private Glück.
Wittstocks Roman rekonstruiert nicht nur menschliche Schicksale, sondern lässt auch die Verkörperung einer Stadt zu, die sich dem Leser als regelrechte Lebensform vorstellt, eine Konstante darstellt und dem Roman, der im Grunde handlungsmäßig lose zusammengefügt ist und sich manchmal sogar ins Nirgendwo zu verzetteln scheint, ein Rückgrat und einen Halt bietet.
Die Szenerie spricht sicher nicht nur Ortskundige an: Die Schützgasse in ihrer dreifachen Verzweigung, der Rossmarkt, die Hirscher- und die Gabelgasse, die Schlossberg-Promenade und nicht zuletzt der Raupenberg, die Graft und die beiden ehemaligen Wachttürme stellen die Pfeiler der Historia und der Stadt dar, die witziger Weise den Namen Corona getragen hat in Anlehnung an die einstige Schutzpatronin, die Heilige Corona (vgl. „Corona neu und alt”, S. 508 ff.) und in Wittstocks Texten schon früher als identitätsbildende Szenerie anzutreffen ist (vgl. „Weißer Turm, schwarzer Turm”). Ähnlich wie Lübeck bei Mann oder Dublin bei Joyce gibt Kronstadt – Corona mehr als nur eine bloße Kulisse ab in diesem Roman.
Zu unterschiedlichen Momenten ereignen sich märchenhaft rätselhafte Dinge in diesem Roman, wie etwa im Kapitel „Schlüsselpunkt” (S. 34ff) der Borgneriana Reihe, das den Leser etwas verwirren und ihn eher an absurde Literatur Kafkascher Prägung erinnern mag, zumal der Erzähler darauf hinweist, einen frühen Erzählungsentwurf benutzt zu haben, den er als junger Autor im Rahmen des Kronstädter Literaturkreises vorgelesen habe. Selbstreferenziell und selbstironisch mutet einen Wittstocks Kommentar an: Das „Schlüsselpunkt benannte Prosa-
fragment sei im Anschluss wiedergegeben. Es geschieht nicht ohne Vorbehalt, weil wir damit Schilderungen eines Anfängers reproduzieren, der sich in einem Wust von Aufzeichnungen zu verlieren drohte. Und der dann angestrengt darum bemüht war, aus vielen Entwürfen einigermaßen abgerundete Episoden zusammenzufügen.” (S. 33) Man muss in der Tat die Geduld aufbringen und den Roman bis zu seinem Ende lesen, um herauszufinden, worauf das verschlüsselte Gespräch in diesem einführenden Kapitel anspielt.
Auch manch andere Episode lässt sich erst am Ende des Buches enträtseln, wie etwa der bis zum Schluss ungeklärte Mord an der jungen Frau Ella Maria Friedwagner (vgl. Kapitel „Rätselhaft wie der Schnee”), ehemalige Angestellte des Deutschen Konsulats in Kronstadt und gelegentliche Geliebte von Volkmar Decani, dem unsteten Abenteurer und Pseudo-Bogner, der wiederholt im Mittelpunkt der Schilderungen steht.
Solches ist neu bei Wittstock. Das Unerwartete, das Absurde, das Erotische. Letzteres – wie hätte es auch anders sein können? – eher euphemistisch verhalten, aber anrührend vor allem in den letzten Abschnitten der Bogneriana etwa im „Privatim” betitelten Kapitel (vg. S. 516 ff).
Was ist sonst noch neu in diesem Buch oder sagen wir doch, was ist anders in diesem Buch? Die Konstruktion des Romans mit ihrer weniger verschachtelten, umständlichen Sprache, wie man sie in den früheren Texten Wittstocks anzutreffen gewohnt war, das unbefangene Verwenden rumänischer und ungarischer Wendungen als Spezifika der einheimischen deutschen Sprache nicht nur der Jetztzeit, nicht zuletzt das Aufarbeiten persönlicher Geschichte im Kontext sozial politischer Gegebenheiten im von Wittstock erlebten Siebenbürgen. Es wäre müßig – und entspräche keineswegs der Absicht dieses Buches – herausfinden zu wollen, wer sich aus dem Kreis von Wittstocks Umgang hinter den einzelnen Figuren verbergen mag und in wie fern „Das erfuhr ich unter Menschen” ein Schlüsselroman sei. Wittstock gehört, wie Thomas Mann, wie Marcel Proust und wie andere große Romanciers, zu den Findern von Geschichten. Er erfindet nicht, er verwandelt. Das reicht aus.
In diesem Sinne verkörpert der neue Roman von Joachim Wittstock eine Welt und indem er das tut, wandelt sich die Welt zum Roman, zum Kunst- und Lebenswerk zugleich. Am Ende muss alles in der Luft stehen. So oder ähnlich beendet Thomas Mann seine skurrile Geschichte „Der Kleiderschrank”, und was auf seine Geschichte zutrifft, trifft auch auf Wittstocks Roman zu. „Das materielle Erbe, davor nicht gefeit, einem zwischen den Fingern zu zerrinnen,”…„(wandelt sich) nach und nach”… „in ein ungreifbares Erbe”, …„in schriftlich fixierte Kunde oder in gesprochene Überlieferung von helfenden Bemühungen” (S.603-604).
Das Sanatoriumsgebäude findet einen neuen Besitzer und vielleicht zu einer neuen Bestimmung: „In der Hirschergasse, in der Unteren Gabelgasse ist mit baulichen Veränderungen zu rechnen, und eines Tages öffnet die Pension Drachenhaus 2 ihre Pforten. Sollte es mir vergönnt sein, das zu erleben, will ich bei einem künftigen Kronstadt-Aufenthalt dort vorstellig werden und fragen: ‚Können Sie mich unterbringen, kann ich bei Ihnen einkehren?’” (S.604).
Und die geplante Broschüre?… Man lese statt ihrer Wittstocks Roman und wünsche seinem Autor, diesem bodenständig weltoffenen Erzähler und feinsinnigen Ironiker der Extraklasse noch viele gesunde Jahre zur Vollendung weiterer Schreibprojekte.
Dr. Carmen Elisabeth PUCHIANU
Anmerkung der Redaktion: Die Redaktion der Hermannstädter Zeitung schließt sich den Gratulanten an und wünscht Joachim Wittstock, der am 28. August d. J. seinen 85. Geburtstag gefeiert hat, weiterin eine kreative Zeit und gute Gesundheit dazu.