Mit dem Evangelischen Gesangbuch durchs Jahr 2024
Ausgabe Nr. 2876
Manchmal gehe ich Freitagabend 20 Uhr zur Komplet in die Hermannstädter evangelische Stadtpfarrkirche. Die Kirche ist dunkel, die Touristen sind weg, es ist ganz ruhig. Die Kompletbesucher setzen sich in den Chorraum, jemand zündet eine Kerze an.
Der oder die „Kantorin“ fängt an zu singen, die oder der „Lektor“ antwortet, die Gemeinde hängt ein „Gott sei ewig Dank“ oder „Amen“ hinten dran. Wenn die Einzelnen vorsingen, hört man in der Kirche nur den klaren Klang der Stimmen. Wenn ich diesem Gesang lausche, kriege ich Gänsehaut. Diese unausgeschmückte Musik ist wie eine Meditation, die mir hilft, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Irgendwann erklingt das „Nunc dimittis“, der Lobgesang Simeons, im Gesangbuch unter der Nummer 488. „Nunc dimittis servum tuum Domine“ also „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.“ Diesen Lobgesang stimmt der Prophet Simeon an, als er und die Prophetin Hanna den kleinen Jesus im Tempel von Jerusalem sehen. In der Komplet beginnt dieser Gesang mit der Antiphon, einem Leitvers: „Bewahre uns Herr, wenn wir wachen und behüte uns, wenn wir schlafen; auf dass wir wachen mit Christus und ruhen in Frieden.“ Daraufhin singen Frauen und Männer im Wechsel:
„Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“ – wohin fahren? Zum Lebensende? Zum Nachbarn? In den Urlaub? „Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ – Wie sieht der Heiland aus? Habe ich ihn vielleicht auch schon mal gesehen? „deinen Heiland (…) welchen du bereitet hast (…) ein Licht zur Erleuchtung der Heiden“.
Danach wird die Antiphon wiederholt. Dann wird eine Art Abschlussformel erneut im Wechsel gesungen. Die Worte aus dieser Antiphon beruhigen mich, wenn ich manchmal Angst habe, jetzt gerade vor dem Neuanfang in einer fremden Stadt. Bewahre mich, o Herr, wenn ich wache. Das gibt mir Zuversicht und Ruhe.
Nach dem Segen verklingt der Gesang der Komplet, es wird ganz still. Jemand pustet die Kerze aus. Es ist dunkel in der Kirche. Wir stehen auf und verlassen den Chorraum.
Paula DÖRR