Birgit Reiner und ihre ,,Cushioned Clouds“ möbeln Wien auf / Von Ingrid WEISS
Ausgabe Nr. 2756

Birgit Reiner (links) im Gespräch mit Ingrid Weiss. Foto: Heinz WEISS
Ob im März 2020 anlässlich der Eröffnung der Wiener Privatgalerie ART 9TEEN in der pandemiebedingten „Watch Party“, oder als eigene Ausstellung in der Kunstgalerie 7B in Michelsberg (Herbst 2021) und jetzt hier in Wien mit den „Cushioned Clouds“ – die Bilder und Kunstinstallationen von Birgit Reiner sind hochkarätige Eyecatcher! Aber alles der Reihe nach… Bereits im Oktober 2021 stach mir bei der Durchsicht der Hermannstädter Zeitung ein kurzer Bildbericht besonders ins Auge: Thomas Emmerling präsentierte in seiner Galerie Kunsthaus 7B in Michelsberg Bilder der in Hermannstadt geborenen und jetzt in Bonn lebenden Künstlerin Birgit Reiner. Die Vernissage sei gut besucht gewesen, hieß es da, und der kurze Beitrag schloss mit dem Ausblick, dass die faszinierende Ausstellung nach dem 5. Dezember 2021 in Wien gezeigt würde. Die Location dafür wäre ebenfalls bereits fixiert: der Private Art Club ART 9TEEN im noblen Wiener Bezirk Döbling!
Irgendwie weckte das Foto in der HZ meine Neugier – eine samtige Luftmatratze in tosender Meeresgischt oder grazile türkisfarbene Fauteuils mit Wasservögel ähnelnden Seitenteilen schwebend mitten in einer durchaus bedrohlichen Wolkenformation – ich war sehr gespannt! Doch aufgrund turbulenter Weihnachtsfeiertage und der allesbeherrschenden Pandemie vergaß ich letztlich auf Birgit Reiners unheilschwangere Wolkengebilde und die ozeanblaue Luftmatratze aus Samt in der rollenden Brandung. Doch weder der Galerist und deutsche Kunstsammler Thomas Emmerling noch sein österreichisches Pendant, der Wiener Unternehmer und ebenfalls leidenschaftlicher Kunstsammler Alexander Varvaressos hatten auf mich vergessen. Die Einladung zur Vernissage kam pünktlich – die „Cushioned Clouds“ waren tatsächlich in Wien gelandet. Als Highlight wäre die Künstlerin ebenfalls anwesend und man könne somit die Chance nützen den Untertitel der Ausstellung „Als wenn Sigmund Freud und Franz West miteinander sprächen“ hautnah zu diskutieren.

Birgit Reiner: Last Hope (Letzte Hoffnung).
Für mich als geborene Wienerin eine durchaus reizvolle Ansage – sind wir doch bereits Ende der 1960er Jahre als pubertierende Teenager im Psychologieunterricht mit den Freud’schen psychoanalytischen Theorien konfrontiert worden; ja und Franz West ist spätestens seit 2001 jedem Wiener ein Begriff geworden, nämlich als seine vier überdimensionalen Lemuren-Köpfe die Stubenbrücke (sie ist eine Verkehrsverbindung über den Wienfluss und verbindet den dritten Bezirk mit der Innenstadt) 20 Jahre lang prägten. Diesen aus Aluminium gefertigten und mehr als vier Meter hohen Larven stellte der österreichische Künstler West (1947-2012) in einer an der Brücke angebrachten Tafel folgende Sentenz zur Seite: „Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen immer neue Wasser zu, und immer neue Seelen entsteigen dem Nass.“ Er bezieht sich somit auf die römische Mythologie, in der Lemuren die nächtlich umherschweifenden Seelen der Verstorbenen, also die Gespenster der Vergangenheit versinnbildlichen. Nur nebenbei: Die Wiener Umgangssprache bedient sich dieses Ausdrucks aber auch bei fragwürdigen Zeitgenossen. West formulierte lapidar scharfzüngig, dass den Verblichenen oder Vergessenen immer wieder neue Talente gegenüberstünden. Vielleicht werden sich jetzt manche Leser fragen, warum exakt die Stubenbrücke für diese Kunstinstallation im öffentlichen Raum gewählt wurde: es handelt sich dabei um den unmittelbaren Nahbereich zum Museum für angewandte Kunst, das neben seiner traditionellen Ausrichtung auf Kunstgewerbe und Design einen besonderen Fokus auf Gegenwartskunst und Architektur hat.

Birgit Reiner: Floating.
Aber zurück zu den „Gepolsterten Wolken“: Wie in der Einladung salopp formuliert „gut gelaunt, geimpft oder genesen“ plus meinem grünen Impfzertifikat treffe ich mit FFP2-Maske verhüllt im elitären Döblinger Art Club ein. Nach einer herzlichen Begrüßung durch die beiden Kunstsammler habe ich die Möglichkeit bei einem ungezwungenen Kaffeetratsch die äußerst sympathische Künstlerin näher kennenzulernen. Ich erfahre interessante Details aus ihren Schaffensperioden, aber auch einige Geheimnisse ihrer Technik, dem Material sowie der Stofflichkeit werden gelüftet. Reiner verwendet u.a. Kreidegrund versiegelt mit Hasenleim, der schon im Venedig des ausgehenden 15. Jahrhunderts zum Einsatz kam. „Er erinnert zugleich an die noch ältere Freskentechnik. Hochwertige Pigmente werden mit Dammarharz zum Leuchten gebracht“, erklärt mir Frau Reiner. Wir gehen anschließend durch die Ausstellungsräume und die Künstlerin analysiert anhand der eigenen Exponate ihre Position zwischen den zwei anerkannten, aber extrem unterschiedlichen Wiener Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Akribisch und wissenschaftlich fundiert gepaart mit persönlichem Schaffensdrang hat sie die Gemeinsamkeiten der Konzepte von Freud und West herausgearbeitet, um sie dann in den eigenen Werken zu interpretieren. „Wir finden uns in einer Zeit, in der viele Künstler der jüngsten Generation sich von computergenerierter Kunst, Video und digitalen Welten wegbewegen und wieder mit Material und Materialhaftigkeit auseinandersetzen.“ Reiner sieht ihre Arbeiten nicht in der gleichen Tradition der Gesellschaftskritik wie sie Franz West in seiner Kunst äußert. Vielmehr bevorzugt sie die ästhetische Auseinandersetzung, da dadurch Materialaspekte wie bei ihr die Stofflichkeit erfasst werden können. Somit kann sie als Künstlerin der nicht greifbaren und digitalen Computerwelt eine haptische Entgegnung bieten. Ich staune und bewundere die Vielfalt der dargestellten Fauteuils, samtig, plüschig, teilweise ramponiert, aber perfekt in Szene gesetzt – Bilder, die einerseits in jede Wohnung passen, aber andererseits das bewusste Verweilen und den Dialog erzwingen. Freud hätte derartige Möbel für seine Patienten verwendet – als Basis für seine psychoanalytischen Sitzungen. Trotz seiner aufklärerischen Auffassung von Mythos – «Ich glaube in der Tat, dass ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernste Religionen hinein reicht nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie» – gaben ihm die Anregungen durch Kunst und Literatur – speziell auch der Erfahrungsschatz der Antike -den stärksten Rückhalt bei der Ausarbeitung seiner aus der psychoanalytischen Praxis gewonnenen Erkenntnisse. Im Gegensatz zu Freud hat sich Franz West den menschlichen Neurosen humoristisch angenähert. Bereits in den 1980er Jahren beschäftigte er sich mit der Skulptur an sich und kreierte seine „Passstücke“: freie, undefinierbare und transportable Formen aus diversen Materialien wie Gips, Metall, Papiermaché, die als Gewächse, Stützen oder Prothesen an den Körper gelegt werden konnten. Damit wollte er Neurosen sichtbar werden lassen. „Ich behaupte, wenn man Neurosen sehen könnte, sähen sie so aus“. Später setzte West seinen künstlerisch-ironischen Fokus auf Sitzmöbel aller Art, verfremdete sie und/oder bespannte sie mit Stoff. Er schuf „Parodien“, die seine bohrende Gesellschaftskritik implizierten. Für Reiner ist „eine solche Couch die unterbewusste Vermittlung bestimmter Werte – das Laute, Schrille, Angst Unterdrückende – es soll soziale Kommunikation generieren, die letztlich nicht möglich ist. Deshalb sind die Sofas leer.“ Parallel dazu ist die stoffliche Greifbarkeit der Möbel für die Künstlerin relevant, denn dies sei das letzte „Reale“ in einer Welt, die so vieles vortäuscht. Die Symbole um aus eigenen Ängsten und Neurosen herauszukommen sind somit greifbare, reell existierende Dinge, wie zum Beispiel das Portrait eines New Yorker Hotel-Armchairs versehen mit Schimmelflecken – hier mit deutlicher Anlehnung an die Darstellungen von West. Birgit Reiner kritisiert mit ihrem samtigen Symbolismus, vom Sessel, über Couch und Chaiselongue bis zur Luftmatratze auch unsere chillende, adrenalingesteuerte Wohlfühlgesellschaft wie folgt:

Birgit Reiner: Regal Visit (Königlicher Besuch).
„Unsere gemütliche, heimelige Welt kommt im erstickenden heile Weltdesign daher, mal in Brokat und Plüsch, neoklassizistisch, und im Stil der venezianischen Renaissance, mal wieder auflösend abstrakt, auf das eigene Chaos zurück geworfen. So sind wir mit uns und unserer Nabelschau beschäftigt und um uns herum brennt die Welt. Wir unterwerfen uns der Diktatur der Freizeitgestaltung, chillen mit der Luftmatratze auf unsicherer Balance, Adrenalin entspannt.“ Reiner mahnt zusätzlich mit einigen Arbeiten vor der drohenden Umweltkatastrophe in Form von weltweiter Wasserknappheit.
Abschließend wäre noch zu erwähnen, dass Birgit Reiner nicht nur perfektes handwerkliches Geschick und eine deutliche Sicherheit in ihrer Linienführung besitzt, sondern sie strebt ständig danach, die eigene Arbeit der Weiterentwicklung zu unterwerfen. Für Thomas Emmerling ist sie „eine der großen Entdeckungen der letzten Jahre.“ Dem kann ich als staunender Laie nur beipflichten.
Mittlerweile ist die Zeit fortgeschritten und es heißt, sich dankend zu verabschieden von der quirligen Künstlerin, den beiden Veranstaltern und last but not least von den samtigen Möbelstücken. Ich hatte es ja einfach – ich konnte mich mit Lust auf die „Cushioned Clouds“ einlassen, denn ich liebe Samt und kuschelige Fauteuils, mit und ohne Wolken!
Die Ausstellung „Cushioned Clouds“ von Birgit Reiner ist noch bis zum 9. April 2022 exklusiv im Wiener Private Art Club ART 9TEEN, 1190 Wien zu sehen.