Besuch bei Pfarrer i. R. Walther Gottfried Seidner in der Kempelgasse
Ausgabe Nr. 2555
Am 12. Oktober, kurz vor elf Uhr, trete ich aus dem Haus, um meiner Anmeldung bei Pfarrfamilie Walther Gottfried und Margot Seidner Folge zu leisten. Ein eifriges Glockengeläut tönt über meinem Kopf und ich frage mich, welchen Heiligen-Gedenktag unserer orthodoxen Mehrheitsbevölkerung ich wohl vergessen haben mag. Meine sakralen Kenntnisse reichen weit, aber man kann nie eingeweiht genug sein.
Nach einigem Suchen finde ich das Haus in der Kempelgasse und trete in die Stube in dem guten Hause unter den Stadtmauern von Hermannstadt ein, ins heimelige, noch im Morgenschatten ruhende Zimmer der Familie Seidner. Frau Seidner hantiert bereits in der Küche, um uns den versprochenen Früchtetee zu bereiten, gut gegen die herbstliche Kälte dieses Vormittags.
Herr Pfarrer Seidner, Sie schrieben viel in der siebenbürgisch-sächsischen Mundart. Wie kam das?
Viele Eltern haben heute die Unart, das Sächsische aus der Kinderstube zu verbannen. Meine Eltern bestanden darauf, dass wir auch das Sächsische lernen. Meine Mutter sprach zwar mit uns vier Kindern Hochdeutsch, denn sie wurde in Hamborn/Duisburg in Nordrhein-Westfahlen geboren, aber mein Vater redete mit uns in der Mediascher Mundart. Als Kind sprach ich das Konrad-Wieserisch, dann als ich im Stadtkern eingeschult wurde, begannen die Kinder mich mehr und mehr zu hänseln, denn ich eignete mir das Oberstädterische an.
Aber geschrieben habe ich auch viel auf Deutsch. Dennoch weißt Du das Herz, die Seele…
Kann man denn sein Seelengeschehen nicht auch in der Deutschen Muttersprache wiedergeben? Bei Ihnen ist ja die Muttersprache wirklich Hochdeutsch.
Doch! Aber die Herzenssprache bleibt immer noch die Mundart. Ich habe einmal mit einem Freund eine ganze Nacht lang auf Sächsisch Philosophie diskutiert, und zwar nur auf sächsisch. Es ist auch die Sprache des Humors. Das Erzählen habe ich ja von meiner väterlichen Linie geerbt, mein Großvater…
…in der Geschichte „Das Kriegs-archiv“?
Ja, und auch der „Holzwurm“ handelt von ihm, er stammte aus Mediasch konnte herrlich erzählen. Er war ein „spaßiger“ Mensch, würde man auf Sächsisch sagen.
Sie meinen „lustig“?
Nein, nicht nur, er war immer verschmitzt und wie er, benutze ich gerne diesen unfreiwilligen, sprachlichen Humor. Das Sächsische ist nuancierter als das Deutsche, beispielsweise. Das merkt man auch in meinem älteren Gedicht „Die eheliche Feuerwehr“.
Ihre Novelle „Die entschärfte Gewehrkugel“…
Ist es eine Novelle? Ich dachte an den „Niedrigen Zaun“, aber, ja, auch „Die entschärfte Gewehrkugel“ ist eine.
… spielt in der Kriegszeit. Es geht um die Deportation, die sie als Kind miterlebt haben. Sie gestalten das Geschehen allerdings, im Gegensatz zu Erwin Wittstock oder Herta Müller, neueren Datums, aus einer sehr distanten Perspektive.
Es ging mir darum, diese Konsequenz der deutschen Initiative im Zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines Kindes zu beschreiben, das den Verrat an der deutschen Sache miterlebt, aber auch die Pufferzone der Menschlichkeit, die es immer gab, mit erscheinen zu lassen, und das im besten Licht, das ich ihr geben konnte. Diese Soldaten in Hermannstadt, das waren ja hauptsächlich Ukrainer. Sie waren Teile, es ist wahr, Akteure, aber immer noch in der Position eines Zahnrads eines großen Systems. Aber dem setzten sie immer wieder auch die Menschlichkeit entgegen.
Haben Sie mit Ihrer Mutter noch über den Tag gesprochen, oder ist allein diese Geschichte Ihre innere Verarbeitung des politischen Geschehens?
Ich habe ihre Perspektive der Novelle mit einverleibt, und auch mit meinen jüngeren Geschwistern, Ilse, Erna und Ernst Seidner, die eine andere Perspektive über den plötzlichen Abgang und das Wiedererscheinen der Mutter in Begleitung des Soldaten hatten, darüber gesprochen. Sie haben dieses Geschehen natürlich völlig anders mitbekommen und verarbeitet. Aber wahre Fiktion finden wir in einer anderen Novelle oder Kurzprosa, im „Holzwurm“. Ich habe mich bemüht, ein realistisches Bild des Geschehens darzustellen.
Dieses Geschehen haben Sie somit von seiner sozialen Phänomenologie zu beleuchten versucht, weniger der politischen, wie bei Erwin Wittstock.
Welche Paralellen finden Sie?
(Als Walther G. Seidner mir diese unerwartete Gegenfrage stellt, beginne ich unbewusst am Bleistift zu kauen. Eine so tiefgreifende, wichtige Frage mit dem Autor selbst zu beleuchten, hatte ich nicht erhofft, und dachte dieses werde er seiner Leserschaft alleine zu beurteilen überlassen. Aber er ist ja nicht der post-moderne Fetzentechniker, sondern wir begegnen in seiner Prosa durchaus klassischen Merkmalen.)
Ich kann keine Paralelle beispielsweise zu Eginald Schlattner finden, wiewohl Sie auf so engem ‚kreativen Raum‘ gelebt haben, wenn man Hermannstadt so bezeichnen will. Ich finde allein Paralellen zu dem bürgerlichen, sog. klassischen Realismus von Theodor Storm oder Ihrem Namensvetter Gottfried Keller. Aus der Prosa der neueren Zeit kann man Sie mit der Kurzprosa Heinrich Bölls in Verbindung setzen, v. a. wenn ich an die „Ansichten eines Clowns“ denke.
(Walther Seidner lächelt nostalgisch. Er fällt sinnierend ein:)
Als ich das Buch gelesen habe, konnte ich mir nicht helfen zu denken: Du wärst glücklich, wenn du das selbst geschrieben hättest.
Die Position des Kindes als Zeitzeuge lässt sie in kreativer Verwandtschaft zu dem „Haus ohne Hüter“ erscheinen, wiewohl die Problematik des Romans die Nachkriegszeit in Deutschland zeigt.
Nun wohl eher zu „Billiard um halb zehn“. „Billiard um halb zehn“ reflektiert mehr noch die Kriegsjahre und die Zeit davor, die Ursachen und Komplikationen, auch in einer sehr kompakten Form, wenn auch von dem Gebiete des Rheins, um Köln herum, wo die Realitäten oft inkriminierender gewesen sind für Opponenten des nationalsozialistischen Systems.
Schreiben Sie noch?
Ich bin nicht ein sehr produktiver Autor und greife oft und gerne zu reellen Bezügen, verarbeite Stoffe, die mir unter die Finger kommen. Auch bin ich durch die Krankheit gezeichnet. Mit dem Honterusverlag, mit Herrn Matthes, habe ich noch eine neue Auflage meiner „guten Nacht-Geschichten“ überlegt. Nach einiger Überlegung wird sich wahrscheinlich ein um einige weitere Erzählungen erweiterter Band herauskristallisieren, oder ein zweiter Band.
Wir sind sehr gespannt, womit Sie unseren Lesehunger und die literarische Landschaft Siebenbürgens noch bereichern werden! Vielen Dank für das Gespräch und beste Wünsche für das weitere Schaffen!
Anne TÜRK-KÖNIG