Ausgabe Nr. 2401
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200 Jahre seit der Geburt des siebenbürgischen Botanikers Michael Fuss / Von Erika SCHNEIDER
Die „Sage vom Bienenmädchen“, der Burghüterstochter aus Holzmengen, die der Belagerung durch die Kurutzen ein Ende setzte, indem sie volle Bienenkörbe von der Burgmauer auf die heranstürmenden Feinde warf und diese dadurch in die Flucht trieb, ist heute im unteren Harbachtal noch bekannt. Doch dass ihre Niederschrift und literarische Fassung aus der Feder eines als Botaniker bekannten Mannes stammt, weiß wohl kaum jemand. Der offene, freundliche und wissbegierige Michael Fuss hatte sie während eines seiner zahlreichen botanischen Streifzüge durch das untere Harbachtal aufgeschrieben und 1841 veröffentlicht. Denn neben der Erforschung der siebenbürgischen Pflanzenwelt, war er auch volkskundlich interessiert, sammelte volkstümliche Pflanzennamen, sowohl sächsische als auch rumänische, schrieb die Flurnamen als Fundorte seiner Pflanzen auf, sammelte Legenden aus dem Volke und hatte ein offenes Ohr für das Leben der Landbevölkerung mit ihrem Alltag und ihrer Gedankenwelt.
Viele Generationen von Schülern des Evangelischen Gymnasiums (heute Brukenthal-Gymnasium) in Hermannstadt verdankten ihm humanistisches und naturwissenschaftliches Wissen und nicht zuletzt verdankt ihm die Nachwelt eine umfassende Dokumentation der siebenbürgischen Pflanzenwelt in Form zahlreicher, grundlegender Veröffentlichungen sowie einer reichhaltigen und wissenschaftlich wertvollen Pflanzensammlung, die auch heute über die Landesgrenzen hinaus von Bedeutung ist.
Als in Europa insgesamt die Wogen der napoleonischen Kriege abzuebben begannen und etwas mehr Ruhe eingekehrt war, die Schrecken der 1813 wütenden Pestepidemie und außergewöhnlicher Überschwemmungen in Hermannstadt überstanden waren, stand das Jahr 1814 unter ruhigeren Vorzeichen. In dieses friedlichere Jahr geprägt durch eine Atmosphäre der Erleichterung, der Hoffnung und des Aufbaus wurde Michael Fuss hineingeboren. Er erblickte das Licht der Welt als ältestes von sechs Kindern am 5. Oktober 1814 in Hermannstadt im Hause des Gymnasiallektors und Predigers Christian Fuss und seiner Ehefrau Anna Maria geb.Haas, Tochter einer Handwerkerfamilie.
Seine Schulausbildung erhielt Michael Fuss in Hermannstadt, wo er nach dem Besuch der unteren Gymnasialklassen 1827 in die höheren Klassen des Evangelischen Gymnasiums A.B. befördert wurde. Nach dem Abschluss seiner Schuljahre, in denen er sich in allen Klassen als „hervorragenden Lobes wert“ auszeichnete, ging er 1832 an die k.k. Protestantisch-Theologische Lehranstalt in Wien, wo er sich für den Lehrer- und Pfarrerberuf an den siebenbürgischen Schulen vorbereitete. Neben theologischen, philologischen und philosophischen Studien „fand auch seine Liebe zu den Naturwissenschaften reichliche Nahrung“, wie E. A. Bielz 1884 schrieb. Diese veranlasste Michael Fuss auch während seiner Studienzeit die Alpen und ihre Pflanzenwelt kennenzulernen, wofür gut erhaltene, 1834 in der Steiermark gesammelte Belege in seinem Herbar den Beweis liefern.
Nach der Rückkehr in seine Heimat war Michael Fuss zuerst als Lehrer und Schulleiter (damals „Rektor“ genannt) in Großscheuern, der Heimatgemeinde seines Vaters tätig, wo er sich neben beruflichen Pflichten eingehender mit dem Studium der Pflanzen beschäftigte und für seine Pflanzensammlung bereits feste Grundbausteine legte. Aus der „Rektorenstelle“ in Großscheuern folgte er im Januar 1838 einem Ruf an das Evangelische Gymnasium in Hermannstadt. Mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Karl, der 1837 von der Berliner Universität zurückgekehrt war, unternahm er Streifzüge in die nähere und weitere Umgebung. Dabei vertiefte Michael Fuss seine botanischen Kenntnisse, während sich Karl Fuss insbesondere dem Fachgebiet der Insektenkunde zuwandte. Wenige der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Hermannstadt und Umgebung tätigen Naturwissenschaftler waren durch ihre Forschungen besser bekannt als die „beiden Füchse“, die naturforschenden Brüder Michael und Karl Fuss, deren Familiennamen tatsächlich bis ins 18. Jahrhundert in der Großscheuerner Matrikel hochdeutsch als Fuchs auftaucht und später in die siebenbürgisch-sächsische Mundartform „Fuss“ übertragen verwendet wurde. Die botanische und insektenkundliche Erforschung Siebenbürgens, so wie ihre Tätigkeit als Mitbegründer des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde (1841) und des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften (1849) ist eng auch mit dem Namen der Brüder Fuss verknüpft. In beiden Vereinen hat Michael Fuss, meist in leitenden Stellungen aktiv mitgewirkt. Michael Fuss war auch Mitglied anderer europäischer wissenschaftlicher Vereine, so der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien, des zoologisch-mineralogischen Vereins in Regensburg (später Naturwissenschaftlicher Verein Regensburg) und Ehrenmitglied der „Pollichia“ (Rheinland-Pfalz).
Am Gymnasium unterrichtete Michael Fuss zuerst Griechisch und Latein, bald aber vorwiegend naturwissenschaftliche Fächer, für deren Förderung er sich tatkräftig einsetzte. So führte er das von seinem Vorgänger Johann Ludwig Neugeboren mit dem ersten Heft „Geologie-Mineralogie“ begonnene „Lehrbuch für Naturgeschichte als Leitfaden für Vorlesungen an Gymnasien“ mit dem zweiten Heft „Botanik“ (1840) und dem dritten Heft „Zoologie“ (1845) fort. Ihm lag daran, dem naturwissenschaftlichen Unterricht zu besonderer Anschaulichkeit zu verhelfen, was durch die österreichische Schulreform möglich wurde und sich auch in der Zusammenstellung naturwissenschaftlicher Schulsammlungen zeigte, um deren Ausbau sich Michael Fuss verdient gemacht hat. 1854 wurde er zum Konrektor des Gymnasiums ernannt, eine Stelle, die er bis 1861 versah, als er zum Pfarrer der Gemeinde Gierelsau berufen wurde. Ein Jahr später heiratete er Charlotte Bergleiter, die Tochter seines Freundes Stephan Adolph Bergleiter. In Gierelsau ging er neben seinem Dienst als Gemeindeseelsorger weiter seiner botanischen Forschungstätigkeit nach, wobei er neben den Exkursionen ins Hügelland vor allem seine Forschungen im Hochgebirge fortsetzte, was sich von Gierelsau ausgehend durch die Nähe zu den „Transsylvanischen Alpen“ (Fogarascher-Gebirge) bestens verwirklichen ließ. Die zahlreichen Belege seiner Forschungen finden sich in der Sammlung Michael Fuss und des Vereinsherbars im Naturiwssenschaftlichen Museum in Hermannstadt.
Ab 1862 war Michael Fuss Mitglied der Kommission zur Prüfung der Kandidaten der Theologie und des Lehramtes, wozu er durch seine vielseitige wissenschaftliche Bildung vorzüglich geeignet war. 1870 wurde er zum Superintendentialvikar (Bischofsvikar) der evangelischen Landeskirche gewählt. In dieser Eigenschaft hat er in der Kommission zur Reifeprüfung an siebenbürgischen Gymnasien mitgewirkt. 17 Jahre später, 1878 wurde er als Pfarrer nach Großscheuern, in die Stammgemeinde seiner Vorfahren berufen, wo er am 17. April 1883 noch in voller Schaffenskraft von einer Lungenentzündung dahingerafft wurde. Mit ihm verstarb ein bedeutender siebenbürgischer Botaniker, ein Förderer von Schule, Kirche und Gemeinschaft, der auch außerhalb der Grenzen seiner Heimat bekannt und geschätzt war.
Fast fünf Jahrzehnte lang hatte Michael Fuss seine Kräfte und sein Können in den Dienst der Erforschung der heimischen Flora gestellt. Michael Fuss' Interesse für Naturwissenschaften, die Freude am Beobachten der Pflanzen an ihrem natürlichen Standort, am Sammeln, Bestimmen und Einordnen, wurzelt in seiner Kindheit und Jugend, während der er oft auf dem Lande weilte. Dafür sprechen auch die in seinem Herbar mit genauer Bestimmung und Beschriftung versehenen Belege von Pflanzen, die er bereits als 15-jähriger Gymnasialschüler auf seinen Streifzügen durch die Umgebung Hermannstadts und das untere Harbachtal sammelte, wohin sein Vater 1830 in die Pfarrstelle von Holzmengen berufen worden war.
Erste Ergebnisse seiner botanischen Forschungen, einschließlich der volkstümlichen Namen veröffentlichte Michael Fuss 1846 im Archiv des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde unter dem Titel „Verzeichnis derjenigen Pflanzen, welche entweder ausschließlich oder doch hauptsächlich in Siebenbürgen wildwachsend angetroffen werden nebst Angabe des Fundortes und der wichtigsten Synonime“. Eine andere Arbeit (1848) enthält die „sächsischen, deutschen, rumänischen und ungarischen Trivialnamen“ (volkstümliche Namen) in Siebenbürgen wild wachsender Pflanzen. Hinzu kommen weitere, umfassendere oder kleinere botanische Notizen und Arbeiten. Eine davon enthält die gültige Beschreibung des Siebenbürgischen Leberblümchens (Hepatica transsilvanica Fuss). Ein umfangreicherer „Bericht über den Stand der Phanerogamenflora [Blütenpflanzen] Siebenbürgens mit dem Schluss des Jahres 1853“, erschienen im Hermannstädter Gymnasialprogramm, fasst die Fortschritte der Botanik seit dem Erscheinen der ersten drei Bände von J. Ch. G. Baumgartens Flora (erschienen 1816 als erste gedruckte Flora von Siebenbürgen) zusammen. Im Auftrag des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde betreute Michael Fuss die Herausgabe des handschriftlich hinterlassenen vierten Bandes dieser Flora. In einem Anhang „Mantissa ad floram Transsilvaniae“ ergänzt Fuss diesen Band mit den nach Baumgartens Tod neu entdeckten Arten bzw. neuen Fundorten und fügt auch die nötigen Verzeichnisse zu Baumgartens Gesamtwerk bei.
Michael Fuss’ Anliegen war es, an Baumgartens Forschungen anknüpfend, die Flora Siebenbürgens gründlich zu erforschen und viele Fundorte einer Pflanze kennenzulernen, um ein möglichst vollständiges Bild über deren Verbreitung zu gewinnen. Gleichzeitig wies er, wie G. D. Teutsch 1884 in seinem Nachruf auf Michael Fuss erwähnt, auf die Bedeutung der Bekanntmachung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse hin, „denn nur was durch Veröffentlichung Gemeingut Aller geworden, vermehrt den Schatz der Wissenschaft und wird ihr Eigentum; die Kenntnis des Einzelnen stirbt mit dem Individuum und geht spurlos verloren“.
Unter den Preisaufgaben des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde stand bereits seit 1847 eine siebenbürgische Exkursionsflora. Michael Fuss hatte bis 1862 öfter an einer solchen Flora gearbeitet, dann aber verschiedener Schwierigkeiten wegen die Arbeit immer wieder unterbrochen. Nach deren Wiederaufnahme konnte seine „Flora Transsilvaniae Excursoria“ mit finanzieller Unterstützung des Landeskundevereins und des Erzbischofs von Kalocsa, Ludwig Haynald, ebenfalls Botaniker und Mitglied des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften, 1866 erscheinen. Im selben Jahr erschien fast zeitgleich in Wien auch Ferdinand Schurs Aufzählung der Pflanzen Siebenbürgens „Enumeratio plantarum Transsilvaniae“, zu welcher er das reichhaltige Material während seines neunjährigen Aufenthaltes in Siebenbürgen (1845-1854) gesammelt hatte.
Mit seinem „Herbarium Normale Florae Transsilvaniae“ hat Michael Fuss das erste öffentlich zugängliche Belegherbar, der Flora Siebenbürgens gegründet, das seinerzeit nach Georg Daniel Teutsch „einem botanischen Urkundenbuch Siebenbürgens“ verglichen werden konnte. Diese Sammlung sollte in Faszikeln von je hundert Arten (Centurien) „aufgestellt in öffentlichen wissenschaftlichen Instituten (…) jedem zur Benützung zugänglich sein, der Eifer und Lust und wissenschaftlichen Beruf in sich fühlt“. Leider kamen nur sechs Centurien zur Verteilung, da ein großer Teil der vorbereiteten 7.-11. Centurie 1877 einem Brand in Michael Fuss' Arbeitszimmer in Großscheuern zum Opfer fiel.
Das durch Tauschbeziehungen entstandene „Herbarium universale“ (rund 29.000 Bögen), welches europäische und außereuropäische Arten umfasst, ist ein Spiegel für die Geschichte der weltweiten botanischen Erforschung und belegt die weitverzweigten fachlichen Verbindungen von Michael Fuss. Pflanzen aus allen Erdteilen von Norwegen bis Sizilien und bis zum Cap der Guten Hoffnung, vom Altai-Gebirge zum Kaukasus und bis zu den Pyrenäen, von Mangalor (Indien) bis Melbourne/Australien sind in Fuss’ Herbarium vertreten.
Ein großer Verdienst von Michael Fuss liegt in seinen Forschungen auf dem Gebiet der Kryptogamenkunde, d.h. der blütenlosen Pflanzen (Algen, Pilze, Flechten, Moose), „diesen trotz ihrer Unscheinbarkeit so interessanten und im Haushalt der Natur so wichtigen Gewächsen“. Den Beginn machte er mit seinen Beiträgen „Zur Cryptogamenflora Siebenbürgens“ (1853, 1857, 1865) und setzte diese mit der Aufzählung der in Siebenbürgen angegebenen Cryptogamen“ (1878) fort. Beispielhaft sind auch auf diesem Gebiet seine Bemühungen um ein möglichst vollständiges Herbar der niederen Pflanzen, das er sowohl durch eigene Aufsammlungen, als auch durch Tauschbeziehungen verwirklichen konnte. Unter den mikroskopischen Pilzen, die in Form befallener Pflanzenteile in die Sammlung eingelegt wurden, finden sich 18 Typen-Exemplare, auf Grund deren 18 für die Wissenschaft neue Kleinpilzarten beschrieben wurden. Seine Leistungen auf dem Gebiet der blütenlosen Pflanzen sind grundlegend für alle späteren Forschungen über die Kryptogamenflora Siebenbürgens und liefern für Wissenschaftler ein auch heute unschätzbares Dokumentationsmaterial.
Michael Fuss (1814-1883)
Foto: Bildarchiv von Konrad Klein/Gauting