Stille Zeugen erzählen

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Ausgabe Nr. 2332
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Erzählband von Joachim Wittstock im hora Verlag

 

Eine Zeitreise in die Hermannstädter Vergangenheit – klingt spannend, aber nach Science-Fiction-Literatur!? Sicherlich – was aber, wenn der Weg zurück nicht nur Fiktion wäre. Was würden wir die Menschen, welche die Häuser, die heute noch das Stadtbild prägen, einst mit Leben füllten nicht alles fragen? Leider ist uns der direkte Weg in frühere Zeiten versperrt. Was uns aber bleibt, sind die Gebäude, die stillen Zeugen der Vergangenheit, die uns sicherlich auch so einiges über die Schicksale ihrer Bewohner zu berichten hätten, wenn sie es denn könnten.

 Der Hermannstädter Autor und Literaturhistoriker Joachim Wittstock hat sich nun der anspruchsvollen Aufgabe gestellt und einen Erzählband veröffentlicht, der die Gebäude seiner Heimatstadt zu Wort kommen lässt und die in ihren Wänden verborgenen Geschichten verschiedener menschlicher Schicksale literarisch aufarbeitet.

„Die blaue Kugel. Erzählungen über Hermannstädter Gebäude und ihre Bewohner“, im letzten Jahr im hora Verlag erschienen, umfasst insgesamt vier Erzählungen, die nicht nur einen Einblick in das Leben früherer Stadtbewohner gewähren, sondern darüber hinaus, dem historisch Interessierten, Hermannstädter Stadtgeschichte anhand der Lebensumstände einzelner Bürger näherbringen.

Die erste Erzählung, welche ebenso wie der Erzählband selbst, den Titel „Die blaue Kugel“ trägt, führt in eine Zeit, als Hermannstadt noch zum Großreich Österreich-Ungarn gehörte und Freimaurerei sich bei gut betuchten, einflussreichen Städtern, großer Beliebtheit erfreute. Wittstock erzählt in diesem Kontext vom Aufstieg und Niedergang der Familie Hochmeister, die in einer Zeit, als Siebenbürgen enge Beziehungen zum Österreichischen Kaiserhof pflegte, zu Vermögen kam und sich zu einer der wichtigsten Familien Hermannstadts entwickelte.

Von der Familie Hochmeister geht es weiter in die „Zaungasse“, wo das städtische Idyll durch einen Mordfall aus den Fugen gerät. Wie lange diese Bluttat die Anwohner in ihrem Alltag noch beschäftigt haben mag, ist nicht bekannt. Zumindest machte sich der Stadtschreiber Stromer, der schon seit Jahren in der Zaunholzgasse wohnhaft ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Familiengeschichten aus seiner Nachbarschaft zu sammeln und niederzuschreiben, ernsthafte Gedanken, ob dieses tragische Ereignis seine Arbeit verändern wird, als er sein Manuskript aus der Schreibtischschublade hervorholt und sich daraufhin der über Jahre zusammengetragenen menschlichen Schicksale vergegenwärtigt.

Dass der gegenwärtige Blickwinkel mitunter auch die Sichtweise auf die Vergangenheit beeinflussen kann und die Vergangenheit nicht immer das ist, was sie zu sein scheint, wird dem Leser in der Erzählung „Bußwinkel“ nur zu deutlich vor Augen geführt. Mit der Akribie eines Historikers macht sich der Protagonist Schneidhofer auf die Suche nach Fakten, die die Existenz eines Galgens, der sich in der Nähe des Stadtpfarrgebäudes befände, beweisen sollen.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewegt sich auch Rike, das „bekümmerte Mädchen“, welches in Wittstocks letzter Erzählung „Der kleine Frosch“ schließlich in einer Verzweiflungstat versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Wittstocks Erzählungen bieten eine reichhaltige Stoffdichte und allerhand historische Fakten, die dem Leser Stadtgeschichte in erzählerischer Form näher bringt. Die Idee, dem Leser historische Themen und Räume, die für nicht Wenige nur schwer zugänglich sind,  über den fiktiv-erzählerischen Zugang zu veranschaulichen, wird auch gerne in der Geschichtsdidaktik verwendet, wenn es darum geht „Geschichte lebendig zu machen“.

Wittstock setzt allerdings in seinen Erzählungen oftmals historische Vorkenntnisse voraus und lässt den Leser nicht selten etwas ratlos zurück, wenn er im Stil eines frühneuzeitlichen Stadtchronisten von einem Thema zum anderen springt und der rote Faden an manchen Stellen doch etwas dünn wird.  An der einen oder anderen Stelle wäre vielleicht etwas weniger Stoffbreite, dafür etwas mehr thematische Kohärenz  wünschenswert gewesen.

Eins ist  klar – als Gute-Nacht-Lektüre ist Wittstocks Erzählband nicht zu empfehlen, da der geneigte Leser sich mit viel Konzentration durch Wittstocks sprachlich zwar sehr präzise formulierten, aber thematisch eher sprunghaften Erzählstil kämpfen muss. Nichtsdestotrotz, hat der Leser die Chance, sofern er nicht zwischendurch das Handtuch wirft, allerlei Wissenswertes über Hermannstadt und menschliche Schicksale zu erfahren, die den Leser nachdenklich zurücklassen.

Ulrike BETGE

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kultur.