Ausgabe Nr. 2331
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Carl Loewes Balladen und Lieder im Spiegelsaal des Deutschen Forums
Es ist die Sehnsucht nach unbekannten Gefühlswelten, welche die Romantiker im 19. Jahrhundert antrieb und letztlich den Anstoß gab, eine neue Epoche zu begründen, deren Schwerpunkt nunmehr auf einer geheimnisvollen, mythischen Gegenwelt lag. Wer sich auch heute noch gerne ins Reich der Träume, der Fantasie und Geschichten entführen lässt, war am Abend des 7. Mai im Deutschen Forum genau richtig. Im Spiegelsaal konnten Träumer und Geschichtenliebhaber aller Art gemeinsam mit der Organistin Ursula Phillippi (Klavier) und den beiden Sängerinnen Melinda Samson (Sopran) und Elisa Gunesch (Mezzosopran) für etwa eine Stunde in die musikalische Welt der Balladen und Lieder des deutschen Komponisten Carl Loewe (1796-1969) eintauchen und im Geiste der Romantik dem tristen Alltagseinerlei entfliehen.
Wenn auch das Publikum nicht wie Alice, das fantasievolle Mädchen aus Lewis Carrols Kinderbuch „Alice hinter den Spiegeln“ durch die Spiegel des Saals in eine Parallelwelt gelangten, so konnten sie aber die Augen schließen und sich von den musikalischen Klängen, zumindest gedanklich, in fremde Welten tragen lassen.
Und so machte der eine oder andere im Publikum eine Reise in längst vergangene Zeiten und fühlte sich vielleicht sogar an seine eigenen Kindertage erinnert, in denen er den Balladen und Liedern Carl Loewes erstmals andächtig lauschte und wie Alice von einer Welt jenseits der unseren träumte.
Carl Loewe, der schon zu Lebzeiten zu den bedeutendsten Komponisten seiner Epoche zählte und später als „unerreichter Meister der Balladenkomposition“ in die Musikgeschichte einging, hinterließ uns über 500 Balladen, Lieder und Gesänge, die heute aufgrund ihrer Einzigartigkeit eine herausragende Stellung innerhalb der europäischen Musikkultur einnehmen.
Phillippi, Samson und Gunesch präsentierten eine Auswahl einiger seiner bekanntesten Balladen und Lieder und nahmen das Publikum mit auf eine abwechslungsreiche Reise, die über das Ostfrankenreich zu Heinrich I. („Heinrich der Vogler“, Johann Nepomuk Vogl), ins historische England („Archibald Douglas“, Theodor Fontane), direkt ins Reich der Phantasie führte, wo Blumen des Nachts menschliche Gestalt annehmen und ihren süßen, tödlichen Duft verbreiten („Die Rache der Blumen“, Ferdinand Freiligrath), der Erlkönig, dem Vater seinen geliebten Sohn entreißt („Der Erlkönig“, Johann Wolfgang von Goethe) und die Elfenkönigin den Jüngling Thomas für sieben Jahre in ihren Bann zieht („Thomas der Reimer“, Theodor Fontane). Wer nun, angeregt durch die Darbietung der drei Musikerinnen, vor seinem inneren Auge schon die eigenen auf dem Wohnzimmertisch stehenden Gartenblumen zu Leben erwecken sehen sah, bekam von Phillippi zumindest noch einen kleinen Sicherheitshinweis mit auf den Weg: „Wehe dem, der Blumen abreißt.“ Ob die Einsicht, in Zukunft vorsichtiger mit der Pflanzenwelt umzugehen, auch vor der Rache der bereits gepflückten Blumen schützt, bleibt wohl abzuwarten.
Phillippi und den beiden Sängerinnen gelang es musikalisch eine Vielzahl verschiedener Stimmungsbilder zu erzeugen und die von ihnen erzählten Geschichten schließlich auch durch kleine schauspielerische Einlagen, für einen kurzen Moment Realität werden zu lassen.
Ulrike BETGE
Foto: Ursula Philippi, Elisa Gunesch und Melinda Samson (v. l. n. r.) bedanken sich bei dem Publikum für den verdienten Applaus. Foto: Andrey KOLOBOV