Heute noch im aktiven Liedschatz

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Das siebenbürgisch-sächsische Volkslied ,,Et såß e klie wäld Vijjeltchen“

Ausgabe Nr. 2901

Angelika Meltzer/Rosemarie Chrestels (Hrsg.): E Liedchen hälft ängden. Alte und neue Lieder aus Siebenbürgen. Verlag Haus der Heimat e. V. Nürnberg 2017, 2018, 2020, 371 Seiten, ISBN 978-3-00-058197-7. 21 Euro/99 Lei. In Hermannstadt liegt das Buch in der Schiller-Buchhandlung und im Erasmus-Büchercafé auf.

„Et såß e klie wäld Vijjeltchen“ ist eines der ältesten „echten“ siebenbürgisch-sächsischen Volkslieder, das in ganz Siebenbürgen verbreitet war und auch heute noch im aktiven Liedschatz lebt.

Friedrich Wilhelm Schuster (1824–1914) veröffentlichte Text und Melodie erstmals 1865 in seiner Sammlung „Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Rätsel, Zauberformeln und Kinderdichtungen“ aus mündlichen Mühlbacher und Petersdorfer Überlieferungen sowie eine zweistrophige Fassung aus Weißkirch bei Bistritz. Gottlieb Brandsch (1872–1959) fügte ihnen noch zwei weitere Fassungen aus dem Nösnerland (Schönbirk, Petersorf) bei und veröffentlichte alle in seiner Ausgabe der mundartlichen Volkslieder von 1931.

Schuster zeichnete das Lied schon durch die Spitzenstellung in seiner Sammlung aus. Bereits 1857 hatte er dem vierstrophigen Liede einen Artikel gewidmet „Ausläufer über ein siebenbürgisch-sächsisches Volkslied“, in dem er zeigt, dass es sich um, eine verkürzte Variante des seit dem 16. Jh. nachweisbaren deutschen Balladentyps („Nachtigall als Warnerin“) handelt, der etwa aus Ludwig Uhlands (1787–1862) Sammlung „Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder“, wo es in einer mit 1516 datierten Parallele heißt: 3. Strophe: „So sing, so sing, fraw Nachtigal! / die ander waldvögelein schweigen, / so will ich dir dein gefidere / mit rotem gold beschneiden.“ 4. Str. „Mein gefider beschneidst du freilich nit, ich will dir nümme singen …“ 2. Beispiel: 3. Strophe von 10: „Frouw Nachtigall, klein waltvögelein, / lat du din helle singent!“, „ick bin des woldes ein vöglein klein / unde mi kun nemant dwingen.“ Einzelne Zeilen unseres Volksliedes kommen auch in der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805/1808, Achim von Arnim 1781–1831 und Clemens Brentano 1778–1842) vor, ebenso in Karl Simrocks (1802–1876) „Deutsche Volkslieder“ (1851) „Frau Nachtigall, klein Vögelein, / Willst du mich lehren singen? / Ich will dir den Fuß mit Gold beschla’n / die Hand mit goldnen Ringen. / 3. Was frag ich nach dem rothen Gold, / was frag ich nach goldnen Ringen? / Ich bin des Waldes klein Vögelein, / niemand kann mich bezwingen …“.

Für die Liedersammlung „E Liedchen hälft ängden“ (Nürnberg 2017, 2018, 2020 haben sich die beiden Herausgeberinnen Angelika Meltzer und Rosemarie Chrestels für diesen schlichten, zum Minnelied passenden zweistimmigen Satz von Prof. Hans Peter Türk entschlossen.

Schon Schuster schloss daraus, es sei „nicht ursprünglich auf unserem Boden gewachsen, sondern – wie überhaupt der größere Teil unserer Volkslieder aus Deutschland hierher verpflanzt worden.“ Die von Schuster und auch von anderen geäußerte Annahme, unsere Vorfahren hätten dieses Lied in seiner jetzigen Form schon im 12. Jahrhundert aus der Urheimat mitgebracht, gilt heute als unhaltbar.

Als einziges siebenbürgisches Volkslied wurde es in seiner mundartlichen Fassung in den deutschen Kulturraum rückverpflanzt und hat in Übersetzungen Karriere gemacht. Bereits 1893 veröffentlichte Franz Magnus Böhme es in seiner Sammlung „Deutscher Liederhort“. 1906 fand das Lied Eingang in das „Volksliederbuch für Männer“, allerdings ohne die 4. Strophe. 1913 ist es ebenfalls mit nur drei Strophen in „Der Zupfgeigenhansl“ (ab 10. Auflage), dem erfolgreichsten Liederbuch des Wandervogels und der Jugendbewegung, erschienen. Fritz Jöde (1887–1970) nahm das Lied 1930 in das Schulbuch „Der Musikant“ auf, 1932 brachte der Verlag Walter de Gruyter & Co (Berlin und Leipzig) eine aufwendig gestaltete Liedersammlung „Siebenbürgische Volkslieder aus den Sammlungen von Gottlieb Brandsch und Adolf Schullerus mit Bildern von Trude Schullerus“ heraus, wo diesmal unter dem Titel „Waldvögelein“ unser Lied einstimmig, mit vier Strophen und Übertragung zu finden ist.

In den folgenden zahlreichen Publikationen bis heute (Chorbücher, Volksliedersammlungen, Gebrauchslieder-, Schul-, Kinderliederbücher …) im deutschsprachigen Raum wird es explizit als „Siebenbürgisches Volkslied“ oder „Aus Siebenbürgen“, jedoch meist nur mit den ersten drei Strophen abgedruckt. In den 1970er Jahren bemächtigte sich die Folk-Bewegung das Liedes und verbreitete es dies- und jenseits der Mauer in zeitgenössischen Bearbeitungen wie die Folkband Fiedel Michel oder Elster Silberflug (1976) sowie der Liedermacher Reinhold Andert (1980). Zahlreiche Musiker bearbeiten Text und Melodie für die unterschiedlichsten Sing- und Instrumentalformationen.

Michael Markel (Hg.): Es sang ein klein Waldvögelein. Siebenbürgische Volkslieder sächsisch und deutsch. Dt. Übertrragungen von Wolf Aichelburg, Georg Scherg, Joachim Wittstock; weitere dt. Fassungen von Hermann Roth, Friedrich Wilhelm Schuster, Michael Markel. Umschlag und Holzschnitte Helfried Weiss. Dacia Verlag Klausenburg 1973, 133 Seiten. ISBN 978-606-9685-53-2.

Unter allen alten volkstümlichen Parallelen ist der siebenbürgische Text der kürzeste. Schuster notierte fünf jeweils vierzeilige Strophen, von denen die beiden letzten in zahlreichen Veröffentlichungen als eine Art Zusatz fehlen. Die Verknappung ist künstlerisch von Vorteil. Der Text weist es als sehr geschlossenes Dialoggedicht aus, das thematisch um die Liebe kreist, speziell um die Frage von Bindung und Freiheit. Dialogpartner sind Mann und Frau. Wen aber stellt da das Vöglein dar? Die heute gängige Darstellung identifiziert damit die Frau/das Mädchen und legt ihm heute gängige Sozialgedanken unter: Der Mann, ein vorausgesetzt Reicher der Oberschicht, wirbt mit Verheißungen von Reichtum und Prunk (mät giëlem Guld uch gräner Segd) um ein als arm aufgefasstes Mädchen. Diese durchschaut seine Absichten und besteht auf ihre Freiheit und Selbstbestimmung (ich wäll dir nemmi sänjen; nemest kå mich zwänjen). Dass diese Entscheidung Gefahr bringen könnte (der Reif wird dech uch dräcken) wird durch symbolische Hoffnung (Frä Sann wird mich erquäcken) weggewischt. Es ist dieses tatsächlich ein Zusatz zum Hauptthema.

Nimmt man jedoch den Text beim Wort, dann ist diese Konstellation nicht ausgemacht: Schreiwen af denje Flijel / mät giëlem Guld uch gräner Segd kann ein Sticken mit Gold- und Seidenfäden andeuten, und das wird man nicht dem Mann zuschreiben. Man könnte also, von heutigen Sozialballast absehend, auch verstehen: Das Mädchen möchte den Werbegesang des „wilden“ Vögleins (z. B. Minnesänger) durch Gefiederschmuck zu Beständigkeit und Dauer hinkehren, doch dieses lässt sich nicht binden.

Die heute gesungene Melodie ist jedoch bei keiner anderen deutschen Ballade vorfindbar. Sie klingt in mittelalterlicher Tradition (äolische a-Moll Tonart) und erinnert an Minnesang. Der Volksliedersammler Gottlieb Brandsch (1872–1959) stuft die Weise sogar in die vorsiebenbürgische Zeit ein (s. „Siebenbürgisch-deutsche Volkslieder, 1. Band, Vorwort XII–XIII).

„Et såß e klie wäld Vijjeltchen“ war in nahezu allen einschlägigen Liedersammlungen, die in Siebenbürgen publiziert wurden, vertreten, obwohl dieses Lied der kommunistischen Zensur ein Dorn im Auge war. Viele namhafte Musiker haben das Lied als Vorlage benützt, Chorsätze und instrumentale Begleitungen komponiert. Die nun folgende Aufzählung ist sicher nicht vollständig und könnte noch ergänzt werden

1927 erschien in Siebenbürgen unter dem Namen „Minnelied“ in „Aus der siebenbürgisch sächsischen Volksdichtung – Lieder mit Notensatz, mundartlichem Text und Übertragungen ins Hochdeutsche“ zusammengestellt von Adolf Schullerus (1864–1928) eine Komposition von Franz Xaver Dressler (1898–1981) für vierstimmigen Chor und Klavierbegleitung.

Im selben Jahr findet sich das Lied ohne Titel einstimmig in Mundart in „Siebenbürgisches Spielfahrten-Liederblatt“, herausgegeben vom Arbeitsamt der Hermannstädter Jugendgruppen (nach 1919 aus der Wandervogelbewegung hervorgegangen).

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Siebenbürgen vor allem Norbert Petri (1912–1978), der das Lied in seinen Musikpublikationen im Bewusstsein hielt: 1967 zusammen mit Viorel Ganea einstimmig, 1973 in einem vierstimmigen Chorsatz von Karl Fisi (1926–1990). Andreas Porfetye veröffentlichte 1971 in „Deutsches Liedgut“ einen vierstimmigen Chorsatz von Franz Xaver Dressler.

In der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich verbreitete es Dr. Erich Phleps durch sein Liederbüchlein „Siebenbürgen, Land des Segens“ (ab 1951 in mehreren Auflagen) u. a. in dreistimmigem Satz von Anneliese Barthmes (1915–1989). Karl Teutsch (1924–2021) veröffentlichte in „Siebenbürgisches Chorbuch“ einen vierstimmigen Satz von Ernst Irtel (1917–2003) und eine Textübertragung ins Deutsche von Antje Rohling. Hans Peter Türk (*1940) bearbeitete acht alte siebenbürgische Lieder für vierstimmigen Chor und Orff-Instrumentarium (1980, 2012), die vom Kleinen Chor des Honterusgymnasiums unter der Leitung von Kurt Philippi auch als Platte und CD eingespielt wurde.

Prof. Heinz Acker (Jahrgang 1942) hat in sein Werk „Carmina selecta – Südöstlicher Divan“, das im Rahmen der Löwensteiner Musikwoche 2013 (www.suedost-musik.de) in Heilbronn uraufgeführt wurde, „Et såß e klie wäld Vijjeltchen“ für Chor, Soli und Orchester eingefügt. In seinen Bearbeitungen für Klavier und Solostimme verzichtet er auf den Leitton (z. B. in a-Moll kein gis), um so den ursprünglichen modal-äolischen Charakter dieses Liedes zu bewahren. Für die Liedersammlung „E Liedchen hälft ängden“ (Nürnberg 2017, 2018, 2020, Hgg. Angelika Meltzer und Rosemarie Chrestels) haben wir uns für einen schlichten, zum Minnelied passenden zweistimmigen Satz von Prof. Hans Peter Türk entschlossen, der den mittelalterlichen Charakter des Liedes sehr gut einfängt.

Eine ungarische Übersetzung ist in der Sammlung „Es sang ein klein Waldvögelein – siebenbürgisch-sächsische Volkslieder übertragen von Sándor Kányádi“ (Kriterion Verlag 1977) zu finden (Egy kis Madárka ül vala). Der Liedermacher Holger Saarmann übersetzte unser Volkslied ins Englische (A tiny little bird, untamed); Wilfred singt eine holländische Variante (Ik zag een klein wild vogeltje) zu der er im Internet bemerkt: „meine niederländische Übersetzung eines Jahrhundert alten deutschen Liedes über Freiheit“.

Wenn man heute „Es saß ein klein wild Vögelein“ in eine Suchmaschine eingibt, erscheinen im Bruchteil von Sekunden unzählige Sänger, Chöre und Folk-Gruppen, zum Teil auch mit mittelalterlichen Instrumenten und Kostümen ausgestattet – in Mundart fand ich es nur zweimal – die unser Volkslied auf sehr unterschiedliche und individuelle Weise vortragen. Ich kann mir vorstellen, dass dieses kleine Lied die siebenbürgisch-sächsische Mundart und unser Völkchen überleben wird.

Auf der Website www. siebenbuerger.de/go/2L149 finden Sie unter den acht Beispielen unseres Volksliedes auch die Aufnahme der Mezzosopranistin Hildegard Bergel-Boettcher, die von Andrea Gatzke mit einer klassischen Gitarrenbearbeitung wunderbar begleitet wird. Es ist besonders bereichernd, ein traditionelles Volkslied von einer Sängerin zu hören, die eine fundierte Ausbildung in klassischer Musik genossen hat und deren musikalische Wurzeln im siebenbürgisch-sächsischen Volkslied verankert sind.

Angelika MELTZER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte, Musik.