,,Das Tagebuch der 66“ über den Brand im Bukarester Club ,,Colectiv“
Ausgabe Nr. 2901

Alexandra Furnea: Das Tagebuch der 66 – Die Nacht, in der ich brannte, Aus dem Rumänischen von Peter Groth, Dittrich Verlag 2024, 340 Seiten. ISBN 978-3-910732-31-5.
Dieses Jahr jährt sich der Brand vom Club „Colectiv“ in Bukarest, bei dem 65 junge Menschen ihr Leben verloren haben, zum zehnten Mal. Die Tragödie ereignete sich am Abend des 30. Oktober 2015, als 27 Menschen an Ort und Stelle und die übrigen später in Krankenhäusern an Verbrennungen und Komplikationen starben. Weitere 150 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen blieben für ihr Leben gezeichnet. Alexandra Furnea, eine der Überlebenden, hat im Jahr 2022 das Buch „Jurnalul lui 66: Noaptea în care am ars“ (Humanitas-Verlag Bukarest) veröffentlicht. Ihr Buch, ein offenes Zeugnis der Trauer und des Kampfes mit dem Trauma, wurde letztes Jahr ins Deutsche von Peter Groth übersetzt und auf der Frankfurter Buchmesse unter dem Titel „Das Tagebuch der 66.- Die Nacht, in der ich brannte“ (Dittrich Verlag) vorgestellt.
„Das Tagebuch der 66“ lässt sich – ob man will oder nicht – in einem Atemzug lesen. Manche Kapitel sind lang, sie beschweren einen, man bekommt beim Umblättern keine Luft, aber man kann nicht damit aufhören, man kann nicht innehalten. Teilweise spürt man den Schmerz selber, den die 27-Jährige fühlt. Alexandra nimmt einen mit in ihre Gedankenwelt, in die Wohnung und die Träume einer ganz normalen jungen Frau in Bukarest, in die Redaktion eines Rockmusikmagazins, in die kleinen Freuden junger Menschen, die sich bloß „ein Land wie draußen“ wünschen.
Doch Alexandras Leben verändert sich am 30. Oktober 2015 beim Konzert von „Goodbye to Gravity“. Feuerwerkskörper der Bühnenshow stecken eine Säule in Brand. Von da aus breitet sich in Sekundenschnelle das Feuer auf die Decke und die Wände aus. Der einzige Ausgang geht durch einen Metall-Container, wo sich alle Konzertbesucher hinauszudrängen versuchen: „Ich versuche, meinen Kopf mit der rechten Hand zu schützen, doch angesengte Holz- und Schaumstücke fallen immer wieder auf mich und verbrennen mich. Eine nie zuvor empfundene Angst überwältigt mich und verwandelt sich in Hilflosigkeit. Der Rauch wird immer dichter um uns herum und raubt uns die Sicht. Ich spüre, wie die anderen gegen mich drängen, und als ich schließlich etwas sehen kann, merke ich, dass ich an die Rückseite des Containers gedrückt werde, wo ich plötzlich zum Stehen komme. Wir kommen nicht weiter, denn wir stecken in dem kleinen Raum fest. Verzweifelte Schreie von hinten. Ohne zu wissen, dass es nicht weiter geht, schieben jene, die nicht im Hauptraum feststecken. Wir sind gefangen in dem Inferno.“
Alexandra entkommt dem Inferno, aber gelangt mit schweren Verbrennungen im „Krankenhaus des Nichtheilens“. Hier führt uns die Autorin in eine Welt der unhygienischen Matratzen und der grünen Gummiwanne für das „Baden“, dem modernen grauenhaften Folterinstrument, wo ihre Wunden ohne Schmerzmittel mit Wasser und Seife ausgewaschen werden.
Der Leser begleitet Alexandra durch das Lexikon ihres Leidens und das ihrer Krankenhauskollegen, durch die unglaublichen Geschichten von der Inkompetenz, Arroganz und Korruption des Systems, aber auch von den Ausnahmen, den wenigen Engeln, die noch den Schmerz ertragbar machen, die Seelen trösten und die Würde derer schützen, die nicht wissen, ob sie morgen Überlebende sein werden, oder die schreckliche Nummer 66, der letzte Tod auf der bereits endlosen Liste der Toten.
In dem Buch sind unzählige Abschnitte, die von der mörderischen Bösartigkeit und der Korruption in den Krankenhäusern sprechen, von Dilettantismus, von Opferbeschuldigung, von der Arroganz der Ärzte, die es nervt, dass man Erklärungen will, dass man Fragen stellt, dass man leidet. Es sind Dinge, denen man oft begegnet, wenn man die Schwelle eines Krankenhauses in Rumänien überschritten hat. Es sind schreckliche Dinge, die Alexandra aus erster Hand schildert, direkt aus ihrem defekten Krankenhausbett. Erst in einer Klinik in Deutschland begegnet sie Ärzten, die Einfühlungsvermögen, Respekt und Mitgefühl für den Patienten zeigen.
Zum Schluss fragt sich Alexandra: „Ich werde nicht begreifen, warum sie Gott mit uns gespielt haben. Warum sie gelogen haben. Warum sie mich während des Badens gequält haben. Warum sie sich geweigert haben, mir Schmerzmittel zu geben. Warum sie mich mit dem kontaminierten Venenkatheter infiziert haben. Warum sie nicht zugelassen haben, dass Cristina für mich einen Platz in einem ausländischen Krankenhaus sucht. Warum sie sehr wahrscheinlich die deutschen Ärzte angelogen haben, die gekommen waren, um uns zu helfen, indem sie ihnen sagten, dass wir die bestmögliche Behandlung bekommen. Warum sie mein Leben riskiert haben, um die Vernachlässigung zu verbergen, die sie davon abhält, echte Ärzte und gute Menschen zu sein. Warum war es wichtiger, ihre Position zu behalten, als das Leben junger Menschen zu retten? Wen schützen sie, indem sie uns und all die anderen, die ihre Hilfe suchen, zum Tode verdammen?“.
Das Lesen des Buches ist ein Wechselbad der Gefühle. Man geht vom Entsetzen über zu Wut und Hass, Angst und Verzweiflung und vielem mehr, wenn man wieder einmal sieht, wie tief die Korruption und Nachlässigkeit des Systems geht und wie leicht die Menschen, die das System bilden, sich entschuldigen, dass es nicht ihre Schuld ist. Wie so oft im Leben, wenn man schon einmal Patient in Rumänien war, ist der Patient in diesem Buch bestenfalls Zeuge der Diskussionen, die über ihn geführt werden – aber selten wird er als Mensch angesprochen, werden ihm die Probleme und Lösungsvorschläge schonend erklärt. „Das Tagebuch der 66“ von Alexandra Furnea sollte zur Pflichtlektüre für alle rumänischen medizinischen Fachkräfte werden, um sich und das System zum Guten zu ändern.
Cynthia PINTER