Joachim Wittstock widmet sich in seinem neuen Buch siebenbürgischen Schicksalen
Ausgabe Nr. 2873
„Das erfuhr ich unter Menschen”. Mit diesem Zitat aus dem Wessobrunner Gebet, einer der ersten mittelalterlichen Schriften und über 800 Jahre alt, betitelt der Schriftsteller Joachim Wittstock sein neues Buch. Gleich danach folgt der nicht weniger verwirrende Untertitel: „Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale”. Beides (das „Ich“ und die „romanhafte Chronik“) weisen auf den Autor als Forscher hin, ein Forscher, der Quellen durchwühlt, um zu erfahren, wie sich dies oder jenes in der Vergangenheit zugetragen hat. Wie ein Forscher führt Wittstock den interessierten Leser zunächst durch ein Vorwort, in dem ein Überblick über die Anordnung der unterschiedlichen Erzählungen gegeben wird und auf die vermeintlichen Widersprüche zwischen „Chronik“ und „Roman“ eingegangen und eine Verknüpfung zwischen beidem versucht wird.
Das 600 Seiten starke Buch benötigt denn auch eine Ordnung. Dafür stellt uns Wittstock anhand einer Liste die Protagonisten vor und setzt sie in ihre familiären Zusammenhänge, so dass man sich erst einmal einen Überblick verschaffen kann. Die Hauptpersonen haben ihre ganz individuelle Geschichte, die in Abschnitten jeweils durch das gesamte Buch geführt wird. Dann und wann bezieht sich Wittstock in den Text ein, insbesondere dann, wenn es um die Klinik Dr. Tartler in Kronstadt geht. Hier geht es um seine eigene Familiengeschichte. Weitere Verwandte treten auf, aber genauso fremde Personen, die zwar meistens auch mit Kronstadt zu tun haben, aber nicht unbedingt mit der Familie Tartler. Übrigens benutzt der Autor für alle Personen Pseudonyme, was mit Sicherheit in der mit der Familie vertrauten Leserschaft ein munteres Ratespiel hervorrufen wird, wer denn nun womit gemeint sei.
Die Geschichten umfassen im Wesentlichen die Zeit vom ersten Weltkrieg bis in die 60er Jahre. Es waren bewegte Zeiten, und entsprechend passiert denn auch viel. Die Geschichte um die Privatklinik hat Joachim Wittstock gründlich erforscht, zumal er hier über Familiäres schreibt und zum Thema die Verwandtschaft befragen konnte. Die Klinik erlebt als „Sanatorium Dr. Tartler“ Aufbau und Aufschwung mitten in Kronstadt, muss unter Schwierigkeiten die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstehen und erfährt schließlich die Enteignung. Eine bedeutende Rolle spielt hier im Verlauf vor allem die Tochter Dr. Tartlers, die als Ärztin im Sanatorium arbeitet und alle Wechselfälle hautnah erlebt. Wie Wittstock schon vor etlichen Jahren erzählte, hatte er bereits Material über das Werden des Sanatoriums gesammelt und plante, dies in einer Gedenkpublikation für die Malerin und Bildhauerin Margarete Scherg-Depner zu deren 125jährigem Geburtstag mit einfließen zu lassen. Die in Siebenbürgen noch heute sehr bekannte Künstlerin war die Ehefrau des Sanatoriumsgründers, der hier als „Dr. Tartler“ fungiert, und gleichzeitig Wittstocks Stiefgroßmutter, in deren Haus er aufwuchs.
Auch eine weitere Geschichte hatte er schon seit längerem konzipiert: Einen siebenbürgischen Arztroman mit Szenen aus der medizinischen Praxis Kronstadts – jedenfalls erwähnt es der Autor so in einem früheren Interview.
Aber es finden noch weitere Erzählungen ihren Niederschlag in diesem Buch. Da ist zum einen die Geschichte eines Mannes – nennen wir ihn Abenteurer -, der sich den Zeiten anzupassen weiß und in verschiedenen Tätigkeiten sein Auskommen sucht. Anfang der vierziger Jahre, während der Zeit, als aus Deutschland etliche Nazis gekommen waren, sich vorwiegend in Bukarest breitmachten unter der Flagge der Zusammenarbeit mit den Brüdern in Rumänien, gelang es ihm als Journalist zu arbeiten, der sich geschickt allen Wendungen der Politik anpasst und als Überlebenskünstler nach dem Krieg schließlich in Neumarkt am Mieresch landet, wo er mit seiner vierten Ehefrau versucht, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen, was nicht so ganz funktioniert. Eine weitere Geschichte dreht sich zur Zeit der Allianz mit Hitler-Deutschland um eine Mitarbeiterin des deutschen Konsulats in Kronstadt. Sie hat es aus Nordsiebenbürgen dorthin verschlagen. Diese Tatsache gibt den Anlass, über das Schicksal der Deutschen im dortigen Landstrich zu berichten. Das Leben dieser jungen Frau nimmt ein tragisches Ende.
Es konzentriert sich also nicht alles nur auf Kronstadt, sondern einzelne Szenen spielen immer wieder in weiteren siebenbürgischen Ortschaften, nicht zuletzt in Hermannstadt, wo Wittstock bekanntlich heute lebt.
Dieser bunte Strauß von Historie, vom Leben Einzelner in schwierigen Zeiten, mit Verstrickungen in politische Ränkespiele, mit Verrat, mit Durchhaltevermögen und mit charakterstarker Haltung wird dann und wann in die Gegenwart geholt, wenn nämlich Joachim Wittstock persönlich durch die Straßen Kronstadts wandert, auf der Suche nach baulichen und sonstigen Überresten, die mit seinen Geschichten zu tun haben. Dazu gehören auch Befragungen der noch Lebenden allüberall im Land.
Den einzelnen Abschnitten werden Reihentitel, wie Wittstock sie nennt, zugeordnet. Jede Reihe taucht mehrmals auf, ist methodisch und stilistisch unterschiedlich. Während die Abschnitte um das Sanatorium streng dokumentarisch gehalten sind, lassen sich die Geschichten um den „Hallodri“ Volkmar Decani lesen wie ein Kriminalroman. Roman ist auch die Geschichte des Arztes Dr. Bogner. Inwieweit diese beiden einen historischen Kern haben, wird hier nicht ersichtlich, höchstens könnte die Wahl der Decknamen Hinweise geben.
Wenn man sich erst einmal eingelesen und einen Überblick über die Protagonisten gewonnen hat, wird man von der Chronik/ dem Roman gefesselt. Joachim Wittstock bleibt sich und seinen bisherigen Arbeiten treu: Er ruft Aspekte und Erlebnisse aus der Geschichte eines heute so nicht mehr existierenden Volkes hervor – den Siebenbürger Sachsen.
Elisabeth DECKERS