50 Lieder für 50 Jahre

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Mit dem Evangelischen Gesangbuch durchs Jahr 2024

Ausgabe Nr. 2875

Das Lied „Ich bete an die macht der Liebe“ vereint Gegensätze. Besser gesagt: es erträgt sie. Es ist nicht mein Lieblingslied – und hat doch die Kraft, in mir das zu entfachen, was Liebe zu sein scheint: ein friedliches Gefühl beim Unterstützen Anderer, Befreiung von eigenen, zwanghaften Vorstellungen.

Bei vielen Chorälen über die Liebe (meist zu Gott) vermisse ich etwas, was das allgemein menschliche Verständnis dieses Totumfactum-Phänomens anspricht… So wählte ich einst als Antwort auf die Epistel 1.Kor.13 im Gottesdienst das Lied Nr. 476 in unserem Gesangbuch – eine kleine, lohnende Überwindung!

Sein Text gehört nicht eigentlich zur Melodie; ebenso wenig umgekehrt. 1750 stellte der reformiert-mystische, somit spannungsreich einzigartige Dichter Gerhard Tersteegen (zehnfach in unserem GB vertreten) acht Strophen über die Liebe als Erlösung vom Selbstzwang zusammen und ließ sie nach einer allbekannten Weise singen (GB 322).

1751 kam erst Demetrius Bortniansky zur Welt, dessen Musik in der Reifezeit am Zarenhof das Opernhafte seines Jugenderfolgs in Italien mit dem Hymnischen seiner ukrainischen Heimat vereint (jeweils im Gesangbuch Nr. 476 bzw. Nr. 131/2 erkennbar!) und in der Folge sowohl das evangelisch-deutsche Kirchenlied als auch die russisch-orthodoxe Liturgie (Auftragsvertonung) maßgeblich prägte.

Unsere Schwelgeweise, die ebenso militärische Zeremonien verschiedener Nationen wie kirchliche Kasualien zu jeder Lebenslage stimmig untermalt, schrieb der Tonmeister für freimaurerische, gar nicht pietistische Verse… und passt doch wie angegossen aufs „Ich bete…“ bis zum „…versenken“. Danke, dem Katholiken Evangelista Goßner, der das 1824 verschmolz!

Im gefeierten Gesangbuch behält es ausnahms- und lobenswerterweise die originale Textform wortgetreu bei, obzwar mit nur vier Strophen. So ist denn auch der (oft rausgebügelte) „Wurm“ drin und deswegen liebe auch ich dieses Lied, sooft ich es zu singen ertrage.

Gerwald M. BRAISCH

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kirche.