Sigrun Galters literatur- und kunstwissenschaftliche Studie zur Dürer-Rezeption
Ausgabe Nr. 2808

Sigrun Galter: Literarische Dürer-Mythen zwischen Frühromantik und Dürerjubiläum 1828. Theorie – Geschichte – Erzählanalysen (Wackenroder, Tieck, Hoffmann, Fouqué, Weise, Hagen), Universitätsverlag Winter Heidelberg 2022, Fachgebiet: Germanistik, Reihe: Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Band: 56, 684 Seiten, ISBN: 978-3-8253-4922-6, 78 Euro.
Die Hermannstädterin Sigrun Galter, die an der Lucian-Blaga-Universität ihr Germanistikstudium begann und später nach Deutschland ausgewandert ist, hat vor drei Jahren an der Philipps-Universität Marburg eine umfangreiche germanistische und kunstwissenschaftliche Dissertation vorgelegt, welche vor Kurzem im renommierten Heidelberger Universitätsverlag Winter als Band 56 der literarhistorischen Reihe „Probleme der Dichtung“ erschienen ist. Sigrun Galters grundlegendes Werk widmet sich der Rezeption der Kunst wie des Künstlers Albrecht Dürer (1471-1528) in der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte, vornehmlich in der Epoche der Romantik, die den Künstler zum „Kunstheiligen“ (Ludwig Tieck) verklärte und die Kunst zur „Kunstreligion“ (Friedrich Schleiermacher) überhöhte.
Sigrun Galters mustergültig aufgebaute Studie setzt ein mit einem allgemeinhistorischen Kapitel zur Dürer-Rezeption, das einen Überblick über deren verschiedene Phasen – von Dürers Lebzeiten bis zur zeitgenössischen Gegenwart – sowie deren Themenschwerpunkte gibt. Dürer wurde im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte als „deutscher Apelles“ (Christoph Scheurl) gefeiert, der mit besagtem antiken Maler auf ein und dieselbe Stufe gestellt wurde; ferner als erster deutscher Universalmensch der Renaissance, der im selben Atemzug mit Leonardo, Raffael und Michelangelo genannt zu werden verdiente; sodann als stilistisches Vorbild für eine erhabene Kunst der Einfachheit und Klarheit; zudem als „hochstrebendes, tugendsames Genie“ (Joachim Camerarius), was sich nicht nur auf Dürers Kunst, sondern auch auf seine Persönlichkeit und seinen Lebenswandel bezog; und schließlich als typisch deutscher Künstler, der die Ehre und Würde der deutschen Nation auf dem Feld der bildenden Künste repräsentierte.
Im darauf folgenden theoretischen Kapitel erläutert Sigrun Galter den Begriff des Mythos, wie sie ihn in ihrer Arbeit über diverse Dürer-Mythen verwendet. Mythen sind gemäß diesem Verständnis Erinnerungsfiguren, spezielle Formen kultureller Gedächtnisinhalte, die eine erinnerungskulturelle Funktion erfüllen, wie dies Jan und Aleida Assmann in ihren wissenschaftlichen Werken zur Thematik des Mythos näher begründet haben. Als sogenannte „Mythen des Alltags“ (Roland Barthes) sind Mythen außerdem kulturelle Zeichen, die kollektives Handeln und Erleben prägen. Auf der Grundlage dieser beiden theoretischen Ansätze, des erinnerungskulturellen sowie des kultursemiotischen, entwickelt Sigrun Galter ein Analysemodell, mit dem sie Künstlermythen, im speziellen Falle Dürer-Mythen, in der Alltags- wie in der Hochkultur zu untersuchen in der Lage ist. In dieses Analysemodell fließen sowohl die Gattung der Künstlerviten in der Nachfolge Giorgio Vasaris sowie die von Herder ausgehende romantische Konzeption einer „Neuen Mythologie“ mit ein, wie sie dann von Hegel, Hölderlin und Schelling im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ sowie von Friedrich Schlegel in seiner „Rede über die Mythologie“ programmatisch entfaltet wurden.
Nach diesen beiden einführenden Kapiteln folgt der insgesamt vier Kapitel umfassende literaturwissenschaftliche Hauptteil der Studie von Sigrun Galter. Dabei handelt es sich zunächst um ein allgemeines Kapitel zur literarischen Dürer-Rezeption, sodann um drei konkrete Interpretationskapitel zu einzelnen narrativen Werken der Frühromantik wie der Spätromantik, in denen Dürer jeweils eine gewichtige Rolle spielt. Die methodische Begrenzung auf Erzähltexte in Sigrun Galters Studie ergibt sich aus der „unterschiedlichen Eignung der Gattungen zum Transportieren von Mythen“ (S. 18). So wurde Dürer zwar auch in Gattungen der Lyrik (z.B. Bildgedicht) und des Dramas (z.B. Festspiel) literarisch rezipiert, doch Dürer-Mythen im Sinne der vorliegenden Studie kamen vornehmlich in epischen Kontexten zur Entfaltung
Besonders verdienstvoll sind in diesem Zusammenhang zwei umfangreiche Dokumentationen Sigrun Galters, die einen Überblick (vgl. S. 576-593) in nie dagewesener Vollständigkeit über Dürer in sämtlichen literarischen Gattungen bieten, gegliedert nach Texten, die Dürer als Person und Figur in den Vordergrund stellen, und nach Texten, die ausgewählte Kunstwerke Dürers beleuchten, wie etwa „Ritter, Tod und Teufel“, „Melencolia I“, „Betende Hände“, „Feldhase“ oder sein „Selbstbildnis um 1500“, das in der Alten Pinakothek in München ausgestellt ist. Verschiedene Werke Albrecht Dürers sind auch in dem dreißig Reproduktionen umfassenden Abbildungsteil (vgl. S. 669-684) wiedergegeben, der die Studie von Sigrun Galter abschließt.
Der Dürer-Mythos der Frühromantik speist sich in erster Linie aus den von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck gemeinsam verfassten Werken „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1796) und „Phantasien über die Kunst“ (1799) sowie aus Ludwig Tiecks Bildungs- und Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798). In ihnen wird ein Dürer-Bild gezeichnet, das den altdeutschen Maler als charakteristischen Künstler erweist, der durch Einfachheit und Wahrhaftigkeit, durch Frömmigkeit und Handwerklichkeit, durch Genialität und Authentizität besticht und insbesondere die Einheit von Kunst und Leben verkörpert. Die beim altdeutschen Künstler Albrecht Dürer „durch Religion verbürgte Einheit von Leben und Schaffen“ (S. 281) wird dabei zum Leitbild und Lebensideal der Romantik, just am Beginn jener Epoche, welche die Zerrissenheit des modernen Künstlers erst sehen und begreifen lehrte, man denke nur an Wackenroders „Berglinger“-Novelle, die auf den Musikerroman „Doktor Faustus“ von Thomas Mann und die Problematik von Bürger und Künstler aus großem zeitlichen Abstand vorausdeutet. So ist es nur folgerichtig, dass in Tiecks „Sternbald“-Roman auch das Leiden und die Außenseiterrolle, die Einsamkeit und die Melancholie des modernen Künstlers zur Sprache kommen, wenn diese auch im Rückgriff auf Dürer als „anbetungswürdigen Märtyrer der Kunst“ (S. 325) religiös verbrämt werden.
Im weiteren Verlauf ihrer Studie beschäftigt sich Sigrun Galter dann noch eingehend mit Dürer-Mythen in fünf ausgewählten Werken der Spätromantik: in Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung „Der Künstlerbund“ (1814) und in seinem Roman „Erdmann und Fiammetta“ (1826), in E.T.A. Hoffmanns Erzählfragment „Der Feind“ (1822) sowie in den beiden kunsthistorischen Romanen „Guido“ (1825) von Adam Immanuel Weise und „Norica“ (1829) von Ernst August Hagen. Dadurch, dass Sigrun Galter aus sämtlichen in ihrer Studie herangezogenen literarischen Werken ausführlich zitiert, werden die von ihr aus den Texten analytisch gewonnenen Erkenntnisse nicht nur höchst anschaulich, sondern auch interpretatorisch überprüfbar. Besonders hilfreich sind auch die zahlreichen Zusammenfassungen, Zwischenfazite und Resümees, die die gesamte Studie begleiten und den Leser an der ständig neuen Facettierung des Dürer-Mythos partizipieren lassen.
So kann Sigrun Galters Studie auf mehrfache Weise gelesen und genossen werden: als Kompendium des Dürer-Bildes in der deutschen Literatur; als Beitrag zur literatur- und kunstgeschichtlichen Rezeptionsforschung; als Statement zum modernen Begriff des Mythos in Kultursemiotik und Erinnerungskultur; und nicht zuletzt als Monographie über die Rolle der Kunst wie des Künstlers in der Literatur der deutschen Romantik.
Sigrun Galter, Literarische Dürer-Mythen zwischen Frühromantik und Dürerjubiläum 1828. Theorie – Geschichte – Erzählanalysen (Wackenroder, Tieck, Hoffmann, Fouqué, Weise, Hagen), Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022, 684 S., ISBN 978-3-8253-4922-6, 78 Euro (= Band 56 der von Heinrich Kaulen und Manuel Köppen herausgegebenen Reihe „Probleme der Dichtung“; zugleich Diss. Marburg 2020).
Dr. Markus FISCHER