Vera kam eines Tages nicht mehr…

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Neue Kurzgeschichten von Dagmar Dusil im Pop-Verlag Ludwigsburg

Ausgabe Nr. 2779

Dagmar Dusil: Entblätterte Zeit. Kurzgeschichten. Pop-Verlag Ludwigsburg 2022, 196 Seiten, ISBN: 978-3-86356-359-2. In Hermannstadt liegt das Buch im Erasmus-Büchercafé und in der Schiller-Buchhandlung auf.

,,Entblätterte Zeit“ ist ein sehr passend gewählter Titel für die Kurzgeschichten von Dagmar Dusil. Es ist so, dass unsere gelebte Zeit so manche Blätter hat, bei einem mehr bei anderen weniger, alles abhängig von der jeweiligen Lebensdauer. Der Autorin ist es gelungen, vielfältige und gleichzeitig spannende Geschichten zu schreiben, die so manchen Leser an sein eigenes Dasein erinnern. Alle achtzehn Geschichten sind sehr einfühlsam, der aufmerksame Leser lebt mit dem/der jeweiligen Helden/Heldin mit und kann sich in deren Gefühlsleben und Handeln einbinden.

„Der Ruf der Irrlichter“ hat als Thema, die immer mehr zunehmende Krankheit in unserer modernen Zeit, die Demenz. Auch Ärzte können daran erkranken, so Jan, der zuerst von der liebevollen Gattin Inga betreut wird. Als es aber gar nicht mehr menschlich zu stemmen ist, wird Jan in einem Pflegeheim für Demenzkranke leben. Demenzkranke sind in ständiger Unruhe, sie büchsen immer wieder aus den Heimen aus. So auch Jan, ins nahegelegene Moor. Ob ein Irrlicht ihn erlöst hat?

Ines, die Hauptdarstellerin in der Geschichte „Siebenschläfer“ wird in der eigenen Familie nicht viel zugetraut. „Du stellst dich doch immer so ungeschickt an“ ist von ihrer Mutter immer wieder zu hören. Ines Kindheit war von Metallen geprägt: Goldbesitz war verboten, wurde mit Gefängnis geahndet, ihr Großvater ließ hie und da seine Zinnsoldatensammlung auflaufen und kämpfen. Man besaß ein Silberbesteck. Eisen war für Ines das schlimmste Metall, woraus ja auch der „Eiserne Vorhang“ bestand, den der Vater durchbrechen wollte und eingekerkert wurde, wo er auch starb. Am Rollerwettbewerb durfte Ines nicht teilnehmen, weil ihre Mutter und Bruder Gert dagegen waren. Dafür veranstaltete Ines ihren eigenen Rollerwettbewerb. Am Sterbebett sagte die Mutter: „Kind, ich weiß nicht, warum ich dir nie etwas zugetraut habe, verzeih mir.“ Ob Ines ihr verziehen hat?

In der Geschichte „Der Wortmagier“ lernt Annegret den über Vierzigjährigen Christian kennen, der gerade aus der Haft entlassen wurde. Als Organist hatte er Musikstücke verbotener Komponisten zu Gehör gebracht. Doch bald hatte Christian ein Doppelleben. Wie eine Perlenkette reihte sich Lüge auf Lüge. Annegret kann so nicht mehr weiter machen und verlässt ihn.

„Liberty“ ist eine äußert spannende Geschichte, Mariannes Hund trägt diesen Namen. Nach der Festnahme ihres Mannes hatte sich Marianne diesen Hund angeschafft. Liberty heißt deutsch Freiheit, rumänische libertate. Der Hund wurde im ganzen Stadtviertel bekannt und genoss seine Freiheit. Rufe nach ihm, wenn er wieder ausgebüchst ist, erweckten politisches Aufsehen und Eingreifen.

Die Geschichte „Der Geschmack des Mondes“ schildert die Adoption des rumänischen Jungen Popa Sorin aus einem rumänischen Kinderheim, durch eine Familie aus dem kapitalistischen Ausland.

„Gefangen im Glück des Smartphones“ erzählt die Geschichte des Mädchens Raluca, deren Eltern beide im Ausland Arbeit gefunden haben. Sie wohnt mit ihrer Großmutter und ihrem kleineren Bruder, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Alle Kinder haben ein Smartphone, nur Raluca nicht. So ist sie unter den anderen Kindern eine Außenseiterin. Eines Tages schickt ihr ihre Mutter das langersehnte Smartphone. Nun ist sie auch eine von ihnen.

In der Geschichte „Das Paket“ wurde einem Künstler in einem siebenbürgischen Dorf ein Paket überreicht. Die Roma-Kinder hatten die Nachricht im Dorf verbreitet. Nun ging es darum, was wohl im Paket enthalten sei, ob auch etwas für sie? Das Rätsel wurde gelüftet, es waren Teddys für die Kindergartenkinder.

Die Geschichte „An der Brücke“ hat als Thema die unheilbare Krankheit Demenz. Die Hauptheldin der Erzählung ist Pflegerin in einem Heim für demenzkranke Patienten. Die Pflegerinnen sind überfordert, die gesamte Behandlung und Versorgung der Patienten ist zeitgeregelt. Sie benötigen viel Geduld und nicht selten auch schauspielerisches Können.

„Und kleiner werdende Brocken Stille“ ist eine Erzählung, die das Thema Prostitution behandelt. Ana Madlen wird von einem fremden Mann überrumpelt, mit ihm vom Dorf in ein Hochhaus in der Stadt zu ziehen. Hier verabreicht er ihr Drogen und sie wird zur Prostitution gezwungen. Alles geschieht tagsüber, nur die Nacht gehört Ana Madlen. Sie wünscht sich, dass diese nie endet.

„Der Wettermacher“ ist die traurige Geschichte des Sohnes vom Mode-Müller, der als Achtzehnjähriger mit anderen siebenbürgischen Landsleuten nach Sibirien verschleppt wurde. Als er nach Jahren wieder am Bahnhof auftauchte, nannte man ihn ,,der mit der tickenden Uhr im Kopf“. Seine Jugendfreundin Lisbeth hat er nie vergessen und hoffte, sie wieder zu treffen. In der Stadt war er für alle „der Wettermacher“.

Die Geschichte „Lichter der Stadt“ hat als Protagonisten Fred, einen mittelmäßigen Schauspieler, der in eine tiefe Depression stürzte, aus der ihn seine Gattin Gudrun holen wollte und eine Reise ans Meer in die alte Heimat vorschlug. Hier lernt Fred das Zimmermädchen Sanda kennen und trennt sich bald darauf von seiner Gattin. Sandas finanzielle Ansprüche werden immer größer, Fred nimmt sogar mehrere Nebenjobs an. Als er Sanda mit einem gemieteten Wagen abholen will, läutet plötzlich sein Smartphone. Gudrun teilte ihm mit, dass sie an Krebs schwer erkrankt sei. Abrupt bricht Fred sein Vorhaben ab und kehrt zu Gudrun zurück.

In der Geschichte „Intarsienleben“ geht es um das Thema der Aussiedlung aus Siebenbürgen in die Bundesrepublik Deutschland mit all ihren Facetten und Anpassungsschwierigkeiten. Viele aufmerksame Leser haben diesbezüglich auch ihre eigenen Erfahrungen gemacht.

„Ein Sommer im Gebirgsdorf“ ist die Geschichte, die das deutsche Ehepaar Meli und Kai in den Urlaub in ein rumänisches Gebirgsdorf führt, statt wie üblich den Urlaub in Italien oder Griechenland zu verbringen. So lernen sie auch das Leben, die Sitten und Bräuche der rumänischen Bergbauern kennen.

„Hundertmeterlauf“ ist die Geschichte einer Siebzehnjährigen, die schwer erkrankt ist und einen geeigneten Knochenmarkspender benötigt. Sie wünscht sich aus ganzem Herzen, diesen Lauf zu verzögern, um weiter zu leben.

Die Geschichte „Silvesterabend“ behandelt das Thema Krebs. Andreas ist daran erkrankt und seine Lebenserwartungen sind begrenzt. Er hat noch das Glück, sein erst geborenes Baby in die Arme zu nehmen. Eine sehr ergreifende Geschichte.

„Mioara“ ist die Geschichte einer Rumänin mit einem sächsischen Ehemann, mit dem sie in die Bundesrepublik Deutschland aussiedelt. Hier soll sie nicht mehr Mioara sondern Marie genannt werden. Die neue Sprache wird ein Teil ihres Selbst, ihre Muttersprache ist ihr abhandengekommen.

In der Geschichte „Das Spiegelbild“ berichtet Dusil über die Ermordung mehrerer junger Frauen, die überfallen, missbraucht und getötet wurden. Auch Charlotte passt in das Beuteschema des Mörders. In diesen jungen Studenten hat sie vollstes Vertrauen, ohne dabei zu wissen, dass er der berüchtigte Stadtparkmörder ist. Als er dann doch gestellt und bestraft wird, ist sich Charlotte sicher, nur durch ein Wunder entkommen zu sein.

Die Geschichte „Dann war der Faden für die Sommernachmittage aufgebraucht“ erzählt über das Liebesverhältnis der nicht mehr so jungen Bildhauerin Vera mit einem jungen Lipowaner aus dem rumänischen Donaudelta. Dieses Verhältnis sollte den ganzen Sommer dauern. Vera kam eines Tages nicht mehr.

Helmut LEONBACHER

 

Dagmar Dusil (verheiratete Zink) wurde in Hermannstadt geboren. Sie studierte Anglistik und Germanistik in Klausenburg, lebt seit 1985 in Bamberg/Deutschland, ist Vorsitzende der Heimatgemeinschaft der Deutschen aus Hermannstadt und Herausgeberin des Hermannstädter Heimatboten.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bücher.